...sagt manchmal mehr als tausend Worte.

Ja, er kannte dieses Sprichwort, und vielleicht suchte er deshalb die rot knospende Blume aus. Einen kleinen Zettel befestigte er daran, bevor er sie in einem kunstvoll verzierten Übertopf vor die Tür stellte. Die Schrift darauf wirkt sauber und ordentlich, wie auf's Nötigste reduziert. Geschrieben wurde in schwarzer Tinte auf einem Stück Hadern.

Blümlein Blümlein du musst wandern,
Von dem einen Raum zum anderen.
Oh wie schön, oh wie schön..
So kann ich das Blümlein sehn.


Untermalt von sanften Melodien, leisen träumerischen Liedern, fröhliche versonnenen Summen ging die Blume auf Wanderschaft. Mal stand sie auf dem Schreibtisch, dann auf der Kommode im Schlafzimmer, am Mittag unten auf dem Kamintisch, gleich sie doch in der Früh noch unten neben der warmen Badequelle weilte.

Eine der roten Blüten wird voller Bedacht gelöst, findet ihren Platz in schwarzem, glänzend langem Haar.
Beschwingter Schritte erhält die kleine Blume Aussicht auf den Markt, das Rathaus, den Tempel und der äußere Betrachter sieht eine weißgekleidete, junge Frau, mit einem völlig verklärten Lächeln auf den Lippen.

"Es wäre eine Ehre, wenn man Euch zum Brandensteiner Ball begleiten dürfe," sagte er mit einem vagen Lächeln auf den Lippen, als er in beinahe höfischer Manier den Oberkörper vorbeugte und seine große, von beinahe fünfzig Götterläufen gezeichnete Hand darbot. In ihm herrschte ein Orkan, Vorfreude auf eine liebreizende Begleitung; Zweifel nagten an ihm, ob das gemeinsame Auftreten nicht für Gerede sorgen würde. Doch die Hoffnung überwog, ein wenig Zeit mit seinem Gegenüber zu verbringen - seinem Gegenüber, das mit noch tropfnassen Haaren vor ihm stand, als er sie förmlich überrumpelt hatte.

Ein sanfter Druck legte sich auf seine Handinnenfläche, als sie ihre zierliche, feingliedrige Hand auf seine grobe Pranke legte. Sein Herz schien kurz auszusetzen, als sie leise, fast kaum wahrnehmbare Worte formulierte, die schließlich an sein Ohr drangen:
"Es wäre mir eine Ehre und Freude, wenn Ihr mich begleiten würdet, Herr Herderwaldt."
Sie strich sich durch ihr ebenholzschwarzes Haar und berührte die kleine rote Rosenblüte, die darin steckte.
Ihre sonst beinahe schneeweiße Haut nahm einen rötlichen Hauch an, als er den Oberkörper weiter vorbeugte und ihr einen sanften Kuss auf den Handrücken hauchte.

Später in der Nacht lächelte er friedlich vor sich hin, als er einen Schluck des Felablütenhonigweins aus dem geschnitzten Holzbecher nahm. Dieser Liam... so zerzaust und zerstreut er manchmal wirkte - er hatte einen Dank verdient.

Die schlanken Beine an sich gezogen, die bloßen Arme darum geschlungen, saß sie in dem ärmellosen, weißen Seidennachthemd auf den hellen Laken des großen Himmelbettes. Ihr Blick haftete an den halb durchsichtigen roten Vorhängen, ging durch sie hindurch.
Mit einem verzagenden Seufzer sah sie zu der kleinen, weißen Katze, die eingerollt am Fußende des Bettes lag, das Köpfchen anhob und leise zu schnurren begann.
Nur ein Gedanke daran, wie er sie so höflich, in aller Form und Zurückhaltung gefragt hatte, ließ ihr schon wieder die Hitze in die Wangen steigen.


Sein Blick.

Die vollendete Gestik.

Verbeugung.

Ein Handkuss.

Seine Lippen – so nah ihres Handrückens.


Ihr Herz flatterte wie ein übertoller kleiner Vogel in einem viel zu kleinen Käfig.
Durfte sie so reagieren?
Natürlich war sie nicht irgendjemand.
Ihre Familie – eine edle Herkunft – und sicher, bei einer arrangierten Verbindung war oft auch der Altersunterschied größer.
Doch... dreißig Götterläufe?
Würden die Leute nicht reden?
Geziemte sich so etwas?
Wahrscheinlich machte sie sich ohnehin nur lächerlich. Er war ein edler, gesitteter Mann. Wie konnte er Interesse an einem so jungen Ding wie ihr haben?
Sie schalt sich innerlich, sich so dumme, alberne Hoffnungen zu machen.
Und dennoch – er hatte sie zum Ball eingeladen.
Wollte er nur höflich sein, weil er erfahren hatte, dass sie sonst ohne Begleitung wäre?
Sicherlich.
Ein leises Stimmchen jedoch blieb, das sie versonnen lächeln und träumerische Melodien summen ließ.

Da stand er nun vor dem Spiegel. Er betrachtete seine breite Brust, die muskulösen Arme... der Blick schweifte über die fast weißen Schläfen. Das Haupthaar war noch von schwarzen Strähnen durchzogen, einst wallte das Haar in rabenschwarzer Pracht über seine Schultern. Und heute? Heute blickte er in seine eigenen, eisblauen Augen. Augen, die schon viel zu viel gesehen hatten. Fältchen zeichneten sein Gesicht, das vom eben sorgfältig ausrasierten Bart gesäumt wurde. Und doch...

...fühlte er sich wie ein kleiner Junge, wenn er an heute Abend dachte.


Er wurde zappelig, zupfte nervös an seinem Hemd herum und fragte sich, ob er sich nicht doch zu viele Sorgen machte. Vielleicht... lag es ihr einfach nur an Gesellschaft, dass sie nicht abgelehnt hatte. Und doch...

...fühlte er sich wie ein junger Bursche, wenn er an sie dachte.


Wieder und wieder strich er sich die Kleider glatt, wienerte über die Stiefel und betupfte sich den Hals mit ein wenig Duftwasser. Die Haare hatte er gekämmt und ordentlich über die Schultern fallen lassen. Eine kleine rote Rosenblüte fand den Platz am Revers seines Mantels. Und doch...

...fühlte er sich wie ein alter Mann, wenn er an seinen Versuch dachte, das Optimale aus seinem Auftreten herauszuholen.

Die Augen geschlossen lag sie lange wach. Es war schon der nächste Morgen und dennoch wollte sie genau das noch nicht so recht wahr haben.
Unsicherheit hatte sie in dem Moment, da sie erwacht war befallen.
Sie hatte sich noch nie so verletzlich gefühlt.
Hätte das Tier sie wirklich umgebracht, wenn er nicht da gewesen wäre?
Und wie sollte sie sein Verhalten deuten?

Die Heilerin im Hospiz, sie würde sich bei ihr noch einmal in aller Form bedanken wollen.
Adelle Altheym.
Sie mochte sie. So zielgerichtet und klar. Alles bedenkend.
Damit konnte sie etwas anfangen, das konnte sie einordnen.

Wie sollte sie sich Einordnen?
Oder eher, wie hatte sie nun zu ihm zu stehen und wie stand er zu ihr?
Hatte er nur seine „Pflicht“ getan?
Sie gerettet?
Oder hatte er mehr...
Die Erinnerungen waren teils völlig verschwommen und doch war das Gefühl, wie er ihre Hand hielt, mehr als präsent.
Das Gefühl getragen zu werden, gelehnt an seinen starken Oberkörper.
Sie rang etwas nach Atem, bereute diesen Atemzug jedoch im nächsten Moment schon wieder da der Schmerz sich strahlend über ihre Brust verteilte und somit auch ihre morgendlichen Gedankengänge unterbrach.

Im Nachhinein fühlte er sich schuldig, wie ein Spanner, der auf frischer Tat ertappt wird. Konnte man es verdenken?

Der Zwiespalt zerriss ihn schier. Er hatte sich um sie gekümmert, als sie angefallen wurde; er hatte sie nach Hause getragen, als sie sich vor Schmerz kaum rühren konnte und sie auf das schmale Bett gelegt, als sie selbst nicht dazu in der Lage war.
Nach einer Weile war er gegangen, sie war müde und sollte sich schonen. Doch nicht, ohne vorher einen weiteren Kuss auf ihren Handrücken zu hauchen.

Wieso hatte er das Angebot von Herrn Schlosser nach anfänglichem Zögern doch angenommen?
Wieso ging er auf leisen Sohlen in das Zimmer, wo sie lag?
Warum betrachtete er sie für einen Moment, während sie schlief?
...und warum, bei den Vieren, hatte er sich erdreistet, ihr über die zarte, feingliedrige Hand zu streichen?

Weil er vor den Vieren den Schwur abgelegt hatte, zu helfen.
Weil er sichergehen wollte, dass es ihr gut ging.
Weil er manchmal kaum den Blick von ihr abwenden konnte.
...und weil er einst seine Liebste verloren hatte, als er fern ihrer Bettstatt war.


Als er hinausging, hörte er ein leises Wispern aus ihrer Richtung. Fiel da gerade sein Name?
Ruhig lag sie da, mit einem Lächeln auf den Lippen und sah entspannter aus als zuvor.
Sachte schüttelte er den Kopf. Manchmal schien ein alter Mann sich wohl nur Dinge einzubilden...

"Richtet dem Fräulein meine besten...
...Grüße und Genesungswünsche aus... so sie bald gesundet und es ihr nach...
...Gesellschaft verlangt, so soll sie sich nicht scheuen, nach... mir zu schicken."

Hatte er das wirklich so gesagt? Oder war es eine Interpretation Liams?


Sie saß auf einem Stuhl im oberen Kaminzimmer. Saß am Fenster und sah auf die Straße herab.
Sie fühlte sich noch irgendwie etwas erschlagen, ihre Brust war ihr eng, die Gedanken weit weg.
Die zwangsläufige Ruhe gaben ihr viel Zeit zum nachdenken.

Sie wünschte sich, dass er her kam.

Aber was stand dahinter?

War es wirklich richtig so zu fühlen?

Ein leises Stimmchen zählte davon, dass alles darauf hindeutete, dass er es erwiderte.

Es?

Ja, genau.
Es.

Dieses Gefühl, dass sie ein jedes Mal beschlich, wenn sie an ihn dachte, wenn sie ihn sah, sie ihn ansah.

Nachtfalter, die um ein Licht kreisten, eine hübsche Flamme. Und ausgerechnet in ihren Bauch musste dieses Flattervieh sich dann vergnügen. So ungestüm und berauschend, als würden die Motten keine andere Kerze kennen, dass ihr Zeitweise nicht nur schwindelig sondern fast schlecht davon wurde und sie keinen Bisschen essen konnte.

Sie legte ihre zierlich, zerbrechlich wirkenden Finger an die Fensterscheibe, hauchte dagegen und betrachtete den Abdruck.

Und wenn... ja wenn er genauso fühlte – was dann?

Angefangen bei dem Altersunterschied, konnte das gut gehen?

Ihre Miene wandelte sich, die Augen verhangen, gedrückt. Schmerz zeichnete sich in ihrem Antlitz ab.
Noch immer, noch immer konnte sie es nicht ruhen lassen. Den Verdruss. Das Gefühl verraten, benutzt, ausgenutzt worden zu sein. Ihre Empfindungen waren nicht mehr jene von vor 5 Götterläufen und dennoch setzte es ihr zu.

Sie hatte geliebt.

Und er? War er jemals ehrlich gewesen?
War er nicht genauso freundlich, genauso zuvorkommend gewesen?
Und wie sehr sie ihn angehimmelt hatte.
Ihm glaubend. Hatte sie doch angenommen er würde ihre Gefühle auf die selbe Weise erwidern.


Und nun?

War sie wieder blind?
Im Grunde wollte sie nichts schlechtes von ihm denken. Dennoch war da dieser stechende Schmerz von damals, der sie warnte.


Und dann... was wenn sie ihn verletzen würde?

Er hatte es ausgesprochen. Er hatte es tatsächlich getan. Er hatte ihr gestanden, dass er... Zuneigung für sie empfand. Und was hatte sie getan?

...es erwidert.

Still und stumm standen sie da und blickten sich in die Augen, während er ihre Hand hielt. Was erwartete sie nun von ihm? Er wusste es nicht. Seit seine Frau verstorben war, hatte er derlei... Avancen und Ambitionen bezüglich Frauen peinlichst vermieden. Mit Zuneigung verband er stets Trauer, Verlust, Schmerz. Doch er sagte es ihr nicht - denn sie ließ ihn dies vergessen.
Er küsste ihre Finger, als er sich ihr langsam entzog und gen Heimstatt ging.

Den Kopf voller Gedanken...
Den Bauch von einem leisen Kribbeln erfüllt...

Er schmeckte noch immer den endophalischen Wein auf der Zunge, als er die Tür seines Hauses hinter sich schloss und sich mit dem Rücken gegen das kalte Eisen lehnte. Noch immer fühlte er ihre zarten Finger an seinen Lippen. Das versonnene Lächeln auf seinen Zügen hielt an, bis er von Lifnas Armen umschlungen wurde.

Tränen flossen ihre Wangen herab.
Da saß sie nun mit angezogenen Beinen, die Arme darum geschlungen an der Innenseite der Haustür.
Sie schluchzte und zitterte zugleich am ganzen Körper.
Bitterlich weinend, während der treue Hund an ihrer Seite ihr leise winselnd über das Handgelenk schleckte.

Wieso... wieso tat es so weh... und was? Nicht einmal das wusste sie.
Ihre Brust wurde immer enger und enger und es schien sie einfach irgendwo in ein tiefes dunkles Loch zu ziehen.
Dieser dumme Elf. Von wegen... was wusste er schon?! Nichts. Vielleicht gab es das, was er angeblich sah gar nicht.
Natürlich hatte ER ihr gesagt, dass er... und... und sie hatte es doch irgendwie erwidert.
Oder... hatte sie das, was er gesagt hatte schlicht falsch interpretiert?

Und wenn ja...

Ihr Hals schien wir zugeschnürt und sie hatte mühe nach Luft zu ringen.
Die Gedanken wirbelten trügerisch bitter und beißend in ihrem Kopf herum. Verzweiflung befiel sie, die sie in noch mehr Tränen ertränkte.

Irgendwann... nach einer gefühlt ewig langen Zeit... sinkt sie zu Boden.
Leises Schluchzen... noch eine Weile. Dann starrt sie vor sich her. Starrt ins Nichts...
Und irgendwann fallen ihr die Augen zu.
So liegt sie da, im weißen Kleid, vor der Haustüre im inneren am Boden, zusammengekauert, der weiße, große Hund neben ihr, seine Schnauze auf ihrem Bein abgelegt.

(Track zum Post)

Er saß auf dem Balkon und starrte in die Dunkelheit. Mattes Kerzenlicht beschien seine Züge, leuchtete die leichten Falten seines Gesichts aus und ließ ihn in seinen Gedanken verharren.


Wieso hatte sie ihn unterbrochen, dabei sogar getadelt?
Warum hatte sie etwas... das seine Befugnisse berührte, in eigene Hände genommen, und an seiner, beziehungsweise der Exekutive statt entschieden?
Er zweifelte nicht daran, dass sie es gut meinte. Doch die Art, wie sie ihn damit vor den Kopf stieß, gebührte ihm seines Erachtens nach nicht. Dabei hätte sie das doch wissen müssen... in ihrem Stand?
Aber wer war er schon, außer einem einfachen Mann in einer solchen Position?


Brennend und kratzend bahnte sich die klare Flüssigkeit den Weg in seinen Magen, befeuerte ihn von innen und trieb ihm die Hitze ins Gesicht.
War es schon so weit? Ließ er sich blenden? Hatte er sich Dingen preisgegeben, denen er sich Götterläufe verwehrt hatte? Er betrachtete die klare Flüssigkeit, die er nicht in einem kleinen Glas, sondern in einem großen Becher schwenkte und erneut über die Zunge rinnen ließ.

Er wusste es nicht. Er wusste im Moment sowieso nicht viel. Außer, dass er zum ersten Mal seit eben jenen Götterläufen dabei war, sich hemmungslos zu betrinken.

Während sie so durch die dunkle Nacht schritt, hinter ihr die Geräusche des ihr folgenden Burschen, trabte der weiße Hund, offensichtlich erfreut über den Auslauf neben ihr her.
Ihre Miene war bestenfalls als nichtssagend einzustufen.

Ihre Gedanken auf anderes fixiert.
Kurz ein aufflimmern der Gefühle des gestrigen Abends, doch sie wollte es nicht, wollte sich, konnte sich das nicht antun.
Wie gut sie noch in Erinnerung hatte wie es damals immer gewesen war.
Ein jedes Mal, nach einem seiner Ausbrüche, die ihr jegliche Hoffnung zerschmettert hatten, lag sie am Boden. Ihr Inneres ein einziges Chaos aus destruktiven Gefühlen.

Wenn sie sich dem jetzt hingab, sie wusste nicht ob sie wieder aufstehen würde können.
Wieso hatte sie zugelassen, dass er ihr so wichtig wurde?
Es war niemand da der sie halten würde.
Also konnte sie nicht, durfte sie nicht.

So wappnete sie sich gegen sich selbst, ihre eigenen Gefühle, hoffte ihm nicht zu begegnen, hoffte, er würde sie nicht ansprechen... dann würde es gehen.

Im Grunde... ja im Grunde hat sie nur Angst.

Wovor?

Barsch schalt sie sich innerlich und lenkte ihre Gedanken in eine andere Richtung.

In den späten Abendstunden schiebt er einen gefalteten und gesiegelten Brief in ihren Briefkasten. Er trägt als Aufschrift ihren Vornamen, und mit dem Schriftbild hat er sich ebenfalls Mühe gegeben. Der Brief mag nach einer leichten Rauchkräutermischung riechen, wie sie üblicherweise von Halblingen ertauscht werden kann. Auf dem Brief selbst mag ein rotes Blütenblatt kleben - Kundige erkennen es als ein Rosenblatt.

Er blickt hinauf zu den Fenstern, wo samtener Kerzenschein umhertanzt, gelegentlich flackert... und wendet sich mit einem leisen Seufzen wieder ab, als er den Weg zurückgeht, den er kam - eine sanfte Rauchspur hinterlassend, deren Schwaden sich nach einigem Wabern in der Luft verwehen.

Immer wieder holte sie den Brief aus ihrer Rocktasche, entfaltete ihn und las die Zeilen.

„J“

Die Worte berührten sie.
Wieso bloß hatte er in der dritten Person geschrieben.
Wieso hatte er nicht einmal seinen Namen geschrieben?

Sie war eine stolze Person. Kein Zweifel, das wusste sie. Dazu war sie in ihrem Elternhaus erzogen worden.

War sie es nicht wert, dass man ihr einen solchen Brief persönlich überreichte?

Quälende Fragen, keine Antworten.
Wie sollte sie sich verhalten?

Einfach dem Gefühl folgen?
Gefühlt waren die Fragen ohne Belang.
Doch ihre Erziehung, ihre Herkunft, die Etikette sprach eine ganze andere Sprache und verlangte drängend nach den Antworten.

War sie

Herz

oder

Kopf?

Noch immer haftete ihr Duft an seinem Hemd, ein Haar, rabenschwarz, zupfte er vorsichtig mit den groben Fingern ab. Es war also kein Traum gewesen...

...nachdem er ihr die schneeweiße Orchidee gebracht hatte, erschien kurze Zeit darauf ihr Hund vor seinem Gartentor und überbrachte ihm mit lautem Gebell und freudigem Schwanzwedeln eine Nachricht. Und bereits kurze Zeit später traf er sie... aufgelöst wie sie war. Er reichte ihr sein Taschentuch, um ihre Tränen zu trocknen, und nahm sie behutsam in den Arm. Ein Zeichen der Zuwendung - ganz so, wie er es ihr gestanden hatte. Und wie sie es ihm gestanden hatte.
Ihr Kopf an seiner Brust; seine Hand, die ihr vorsichtig und tröstend über das schwarze Haar strich...

Mit einem versonnenen Lächeln sah man ihn heute durch die Straßen schlendern. Harrend der Dinge, die da noch kommen mögen.

Herz

Wäre ihre Entscheidung zum gestrigen Abend gewesen.

Jedoch gab es da noch eine andere Person, die da ein Wort mitzureden hatte.

Er.

Und er wählte...

„Vielleicht... schlafen wir einmal darüber, um einen klaren Kopf zu bekommen?“

Kopf.


Gestern, in Anbetracht der Gefühle, die sie in den Moment durchfluteten, war es ihr unerträglich vorgekommen. Heute war es anders.
Er war ein Mann mit Erfahrung.
Diese würde sie nicht einfach in den Wind schlagen.
So besonnen und vorausschauend sie auch oft dachte, war es etwas anderes, wenn es eben um so tiefschürfende Gefühle ging.

Ein Lächeln lag auf ihren Lippen.

Er hatte ihr versichert, an seinen Gefühlen würde sich dennoch nichts ändern.

Es gab noch einiges für das Rathaus zu tun, dies ging vor.
Alles andere würde dem anstehen müssen.

Sorgsam kleidete sie sich an. Mieder und Schnürung saßen wie immer perfekt. Das Haar gepflegt und offen, wie es ihr am liebsten war.
Sie schlang sich ihren kostbaren Fellumhang um die Schultern, schlüpfte in Stiefel aus selbigem Fell und machte sich auf den Weg zum Rathaus.

Vollkommen aufgelöst klammerte sie sich an ihn.

"Ich habe Angst..."

Der Druck ihrer Arme spürte er trotz des Kettengeflechts, welches er unter dem verzierten Hemd trug, als klammere sie sich wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz.
Treibholz... war er ein Mann, der in diesem Lehen dahertrieb, und auf Land in Sicht hoffte?
Nein. Eher fühlte er sich wie ein Ruderer auf einem Ozean, der das Ziel vor Augen hatte. Der mit kräftigen Ruderschlägen immer wieder ein Stück näher ans Ziel rückte, den Wellen Paroli bietend. Es war mühsam, doch ein Versagen kam nicht in Frage.

"Habt keine Angst. Ich... wir werden dieses Problem lösen."

Ihr Blick suchte den seinen, fand ihn, und hellte ein wenig auf. Er lächelte zuversichtlich, wenngleich es hinter seiner Fassade brodelte, das Misstrauen gegen diesen... Heuchler wuchs.

Ein Kuss auf ihre zarten, feingliedrigen Finger verabschiedete sie für diesen Abend, bevor er sich an den kleinen Tisch in seinem wüsten Möbeldurcheinander setzte und auf einem Briefpapier zu schreiben begann.


Später, mitten in der Nacht, ergingen ein ersontisch gesiegelter Brief an den Generalmajor sowie eine Kopie dessen mit Vertraulichkeitssiegel an die Kanzlerin... der Bursche, der sie überbrachte, lächelte glücklich, als er nach getaner Arbeit eine kleine Goldmünze entgegennahm.

Die Beine an sich gezogen saß sie vor dem Kamin und starrte in die Flammen.

Ihr Blick, ihre Worte, ihre tröstliche Berührung – nein, versichernde Berührung - waren für den Moment fast wieder so präsent, wie als würde es genau eben statt finden.
Wieso hatte sie der Kanzlerin nicht verraten, dass sie fürchterliche Angst vor der Frau hatte?
Hätte sie dann verstanden, dass sie zögerte?
Sie schätzte sie, wollte nicht, dass sie etwas falsches über sie dachte. Deswegen war sie zu ihr gegangen, deswegen hatte sie mit ihr gesprochen. Sich ihr anvertraut.


Ihr war ihr Leben, so wie es jetzt war, lieb und teuer.


Ruhe. Steter Fortgang in der Verwaltung. Regelmäßige Abläufe. Schriften. Pergamente. Urkunden. Odner, Akten, Bücher... ja - da fühlte sie sich wohl.
Es brauchte keine Aufregung, keine Abenteuer, keinen Kitzel damit sie zufrieden war. Nein, das würde eher das Gegenteil bezwecken.

Den einzigen Tiefgang, den sie sich in ihrem Leben wünschte...
Dessen Aufregung ihr angenehm war...
Dieser hatte sie gestern im Arm gehalten.

Doch hatte sie Angst um ihn. Gleichsam sie ihm Glauben schenken wollte, dass sie nicht fürchten musste.
Er war fähig, erfahren.
Anker in Tare - für diesen Moment.

„Lass es nicht nur dieser Moment sein“, dachte sie, während sie die Augen schloss. Die Wärme des Feuers genießend.


„Lass es mehr sein.“, flüstere sie und ihre Wangen nahmen eine rötliche Färbung an.
Oh, sie wünschte es sich so sehr, dass sie es aussprechen musste.
Doch lag es nicht an ihr. Sie konnte nur wünschen, hoffen und bangen. Herbei sehnen.
Mehr nicht.


Er war der Mann. Es oblag ihm, seinem Handeln... was sein würde.

Und sie dachte an das Wort, dieses eine winzig kleine Wort, das er ausgesprochen hatte, das er betont hatte:

~ ... wir ... ~

Wieder einmal saß er über das Pergament gebeugt und pustete den Löschsand fort. Erneut hatte er ein Schreiben verfasst, das der Botenjunge wenig später in Empfang nehmen und zu seinem Bestimmungsort transportieren würde. Mit einem leisen Seufzen siegelte er das Schreiben mit dem butterblumengelben Wachs des Lehens und legte es auf Seite.

Als er sich schließlich zurücklehnte, betrachtete er die kleine, tönerne Pfeife, die auf dem Tisch lag, nebst den zwei Beutelchen der Halblingskräutermischung. Beides lag auf dem Brief, welchen sie verfasst hatte, daneben das bestickte Seidentaschentuch, welches nach ihr duftete. Ein verträumtes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er danach griff, es durch die Finger gleiten ließ und ihren Duft einatmete.

Einige Momente des Sinnierens später stopfte er die Pfeife und entzündete sie mit einem Span. Der Rauch roch würzig und verteilte sich in kleinen Schwaden im Raum. Erneut las er den Brief, den sie so wohlformuliert verfasst hatte. Er blickte über den Pfeifenhals, in dem die Wörter eingraviert waren.

"Geneigt, zu dir."

Es war nicht immer eitel Sonnenschein, das wusste er. Aber das es auch jede Menge Schreibarbeit bedeutete, war ihm doch neu...

...aber egal. Was sollte es schon ausmachen? Mit einem Kopfnicken und den Namen der Adressaten übergab er schließlich die zwei identischen Briefe dem Boten, ebenso die kleine Goldmünze, die mit flinken Fingern in dessen Manteltasche verschwand. Als der Junge forthuschte sah er ihm nach und blies ein weiteres Rauchwölkchen aus dem Mundwinkel.

Er bewunderte sie. Dass sie ein so offenes Auge für Details hatte...

„.... du hast doch nichts getan..... sie können dir nichts anhaben...“

Leise Worte, dicht an ihrem Ohr während die zarten Arme sie hielten.
Es war gut, dass sie endlich wieder einen Moment für sich fanden. Einen Moment unter Freundinnen, einen Moment unter Vertrauten.
Sie konnte endlich wieder jemandem ihr Herz öffnen. Erzählen was sie bewegt hatte in den letzten, so ereignisreichen Tagen. Ihre Ängste, ihre Befürchtungen, ihre Wünsche und ihre Hoffnungen – ihre Gefühle.


Später saß sie am Küchentisch, ließ den Stoff des Taschentuchs durch die Finger gleiten. Des Taschentuchs, das sie nun stets bei sich trug, dicht bei ihrem Herzen.
Sein Taschentuch.


Irgendwie plagte sie in dem Zusammenhang mit ihr doch ein schlechtes Gewissen.
Wie oft hatte sie nicht mit ihr zusammen gesessen.
Im Kleidchen, auf einer hübschen Picknickdecke, mit so wundervollen Stickereien, wie sie nur Lays Mutter zu fertigen wusste.
Wie oft hatten sie nicht bis ins kleinste Detail die Gespräche nachempfunden, die man eben mit einem Herrn zu führen hatte.
Wie oft wurden sie nicht von Lay ermahnt nicht so abzuschweifen.
Man sprach über das Wetter oder die Stadt, wobei man Politik grundsätzlich vermied, denn das was Männersache. Über die Umgebung, in der man gerade saß oder verträglichen Klatsch, gewiss keinen Frauenklatsch.
Gespräche über die Lieblichkeit Vitamas waren ebenso gern gesehen, über Reisen oder ferne Orte.
Oder man überließ dem Manne die Gesprächsführung, hörte gewissenhaft zu und lächelte und nickte.


All die Dinge, mit denen sie ihn überfallen hatte, waren alles andere als angebracht. Es schickte sich einfach nicht mit einem Herrn über anderes zu sprechen als die oben genannten Themen und insgeheim fürchtete sie nun, dass sie einen fürchterlichen Eindruck bei ihm gemacht hatte.
Ja natürlich, sie hatte sich ihm anvertraut.
Warum?

Weil er ihr so viel bedeutete.

Aber es entsprach einfach nicht der Form, der Etikette.
Trotzdem erschien es ihr nicht falsch.
Obgleich es das vielleicht sollte.


Ihre Gespräche waren nie oberflächlich gewesen. Nicht einmal das erste. War es nicht genau das, was sie so angesprochen hatte? Die Tiefe, die er Tare gab, vielleicht ohne es zu merken.
Die Tiefe, die er ihrem Leben hier gab.

Die Akten waren bearbeitet, einige Ordner lagen noch auf dem Schreibtisch vor ihr. Sie hatte ihre Hände darüber gefaltet und blicke zur Seite aus dem großen, bunten Glasfenster, auf dem Markt hinaus. Ihre blauen Augen folgten ab und an einem vorbeigehenden, jedoch blieben ihre vornehmen Züge gedankenverloren.

Kurz jedoch wirkte sie irritiert, als eine weibliche Gestalt in Weiß vorbei ging.


Wieso kleideten sich neuerdings viele Damen so wie sie selbst?!


Wie jeden Tag hatte sie viel Zeit darauf verwendet ihre Kleider zurecht zu machen, sodass sie nun in jenem unschuldigen Weiß an ihrem Arbeitsplatz saß, tadellosem Äußerem.




~ Eine Queste ~


Nicht sie hatte ihren Ruf geschändet, aber die Schuldigen würden sicher nicht Sorge dafür tragen, dass dieser wieder hergestellt wurde. So war es an ihr ihn wieder herzustellen, zu zeigen, wie es um ihren Glauben stand.

Sie ging in Gedanken noch einmal die Vorwürfe durch.
Nicht nur, dass sie sich auch noch widersprachen, sie waren teilweise so absurd, dass sie, wäre alles nicht so furchtbar ernst gewesen, gern gelacht hätte. Aber zu lachen war ihr nun gar nicht mehr zu mute und ein wirkliches Lachen wäre es auch nicht gewesen. Nur eines, das all die Anspannung wider gegeben hätte, unter der sie die Tage gestanden hatte.

Sie hatte auf dem Markt gehört, was Fräulein Kessler gesagt hatte. Jorn hatte das Fräulein nicht gefoltert. Natürlich hatte er ihr dies auch beteuert, aber irgendwie war es doch beruhigend, es aus dem Munde von jemandem, der es offenbar wissen musste, zu hören.
Wenn dem so war, musste sie ihn doch nicht entlassen, denn einigermaßen gutes und günstiges Personal war ohnehin schon furchtbar schwer zu finden und auf dieser Insel so gut wie unmöglich.


~ Eine Queste ~


Sie lehnte sich im Stuhl zurück und schloss die Augen für einen Moment, legte den Kopf in den Nacken und strich sich mit einer Hand über den schlanken, blassen Hals.
Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Ein Lächeln, verträumt, als wäre sie an einem ganz anderen Ort.

Das, was er ihr gestern gesagt hatte, das was er ihr gestern versprochen hatte, nicht nur das eine, alles, bedeutete ihr unglaublich viel.
Er nahm ihre Worte ernst, das war das eine.
Doch sein Beistand, sein Geleit, war etwas, das sie nicht einmal im Ansatz erwartet hatte.

Bedeutend.

Es hatte eine Bedeutung hinter die sie noch nicht zur Gänze zu schauen vermochte. Ein Gefühl, das sie dabei beschlich, eine Nuance von etwas... noch unklar und undefinierbar. Aber es war da.

Ihre Hand wanderte herab, sie senkte den Blick, legte die Finger über die Stelle, wo das Taschentuch unter ihren Kleidern verborgen lag, über die Stelle an der sich ihr Herz befand.

Die kleine Zange durchtrennte den stählernen Ring des Kettenhemdes. Wie schon seit einer guten halben Stunde tauschte er arg lädierte aus, indem er die alten herausnahm und neue einsetzte. Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied...
War er jenes im Lehen?

Die neuen Entwicklungen erweckten seine Besorgnis, die latent in seinem Bewusstsein geschlummert hatte. Aus irgendeinem Grund hielt er es für notwendig, seine Ausrüstung zu überprüfen.
Die Kettengeflechte, die der Löwenschmied einst für ihn angefertigt hatte, waren ihm bereits treue Lebensretter gewesen. Zwar waren hier und dort ein paar Ringe verbogen, doch tauschte er diese gegen einen Satz neue aus.
Sein Schwert nach galadonischer Machart schliff er mit dem kleinen Wetzstein. Das melodische Sirren des Stahls erfüllte für eine Weile die Stille des Hauses. Abschließend ölte er die Klinge und rieb sie mit einem trockenen Lappen wieder sauber.


Egal, was kommen möge - er würde zu seinem Wort stehen. Er hatte bei den Vieren geschworen, dass er sich für dieses Lehen einsetzen würde. Was immer es in Zukunft auch bedeuten mochte.
Und er hatte ihr versprochen, dass er für sie da sein würde. Dass er notfalls auch diese Queste zum Erfolg führen würde, die der Astraelsbruder auf sich nehmen wollte. Auch diesem hatte er seine Unterstützung zugesagt.


In der Stille, die nach seinem Aktivismus herrschte, betrachtete er wieder das seidene Taschentuch, welches seit geraumer Zeit auf Herzhöre trug. Er betastete die fein gestickten Initialien und faltete es wieder ordentlich zusammen, ehe es wieder seinen Platz in der Brusttasche.

Bei all diesen Querelen, Scherereien, Wortgefechten und Belanglosigkeiten, die er von anderen ertrug... wer unterstützte ihn eigentlich?

In Nacht und Nebel...


Das Haus Nummer 18 in Falkensee wirkt verlassen.
Kein Licht brennt in den Fenstern.
Kein Hund vor der Tür.
Ein Blick durch die Fenster: Leere.
Der Briefkasten wurde entfernt.
Das Banner Greifenkling weht nicht mehr an der Hauswand.

Einen Moment lang war ihm, als quetsche eine eiskalte Hand sein Herz im Brustkorb zusammen.

"Ich... wollte einfach... nicht bleiben."

Tausend Gedankenfetzen, inmitten eines Bruchteils eines Augenblicks.

Nein. Geht nicht. Bleibt hier. Dieser Hundsfott. Nicht schon wieder...

Er merkte, wie er gegen diese Regungen ankämpfen musste. Nur mühsam beherrschte er sich. Wahrscheinlich war der innere Kampf auf seinem Gesicht lesbar wie große Lettern auf dem Einband eines Buches.

"Darf man fragen, wo... Ihr jetzt wohnt?", fragte er leise, betont, auf einen möglichst neutralen Tonfall achtend.

"Schräg gegenüber von Euch," entgegnete sie mit einem herzerweichenden Lächeln.

Sein Herz tat einen Sprung, gleich einem Jüngling, der den Vitama spürt.

Melodie


Natürlich hatte der Elf recht.
Natürlich war es das... das, was ihr schon seit einigen Tagen durch die Gedanken schlich.
Wir waren hier auf Siebenwind. Kaum etwas war noch so wie es auf dem Festland üblich schien.
War es deswegen schlecht die Werte hoch zu halten?
Aber Ungeduld war doch schon immer ihre Schwäche gewesen.

Oh, Lay würde sie, falls sie es erzählte, sicherlich tadeln.
So etwas tat man nicht – so etwas tat Frau nicht.

Trotzdem hatte sie...

Sie hätte es nicht getan, wenn sie nicht noch so aufgewühlt von dem Gespräch mit dem Elfen gewesen wäre. Sicher nicht.
Doch genau in diesem Moment musste er einfach vor ihr stehen, wie aus dem Nichts erschienen.

Hatten er es ihr angesehen? Vielleicht.
Aber wieso... weshalb hatte er darauf bestanden, geforscht, gedrängt, bis sie es sagte?

„Ich würde... was?“

„... mich küssen.“

...

„So?“

„Ja.“


Und dann tat er es erneut. Und Tare verschwand wieder in einem Meer aus … Melodie...

Geduld

Geduld war eine Tugend und eigentlich eine, von der er ausreichend besaß.
Aber die letzten Tage zehrten sogar an seinem sonst so sonnigen Gemüt und hinterließen dreckige Spuren.
Ja eindeutig, er brauchte ein wenig Abstand, einfach ein wenig Abwechslung.
Es war einfach zu anstrengend, nicht einmal ein Heim zu besitzen in dem er unbedarft die Beine hoch legen konnte, schien doch ein jedesmal, wenn er die heimatliche Tür ansteuerte, ein anderer Verehrer sich die besagte Ehre zu geben.
Nicht dass er ihnen dies vorwerfen konnte oder wollte, nunja gut, er konnte, aber er wollte nicht.
Dennoch wäre ein wenig Ruhe angenehm gewesen, so wie am Anfang als er noch ab und an ein Wörtchen mit den Damen wechseln durfte.
Aber jetzt? Nur noch Arbeit, Anweisungen, Akten und Abends dann die werten Ehrenmänner zu Besuch.
Ja, ein wenig Abstand, das wäre bitter nötig.

So aber sieht man den jungen Blondschopf nur im nördlichen Stall der Stadt Falkensee verschwinden, eine Leiter empor steigen und sich im warmen Stroh ein Lager finden. Ein Seufzen auf den Lippen, dann schläft er wohl.

Die Kräutermischung in der Pfeife war erloschen und hinterließ einen würzigen Duft im Wohnraum. Nachdenklich besah er die Trophäe des Hirsches, den er vor gefühlten Ewigkeiten in einem der weiten Herderer Wälder erlegt hatte. Die Glasaugen starrten stumm ins vom Flackern des Kaminfeuers beschienene Zimmer.

"In Eurem Alter..." - ein Satzfetzen, der ihm seit vergangenem Abend immer wieder durch den Kopf schwirrte.
Sicher, als Heilkundige hatte sie eine andere Sicht der Dinge. Sie offenbarte ihm einmal wieder diese Sicht, die er seit seinem vierzigsten Götterlauf so sehr verdrängt hatte. Aber... war er nicht aus gutem Grund so alt geworden? Und... was hieß schon alt?
Ein leises Seufzen, als er auf das Schwarzbier auf dem Beistelltisch blickte. Beinahe fünfzig Götterläufe waren es nun. Und wen sah er, wenn er sie erblickte?
...eine junge, bildschöne Frau.

Wen sah er, wenn er sich in dem kleinen Spiegel in seiner Schlafkammer betrachtete?
...einen gealterten Recken.

Was fühlte er, wenn er sie betrachtete... ihre Berührungen wahrnahm... ihre sanften Lippen auf seinen spürte?
...Zuneigung, die jegliches Alter unberücksichtigt ließ.

Eigentlich hatte ihr noch etwas auf der Zunge gelegen.
Bloß...
Eigentlich erinnerte sie sich an so vieles...
Bloß...
Die Tage waren so verwirrend gewesen...
Hatte sie mit ihm darüber gesprochen?

Und wenn nicht?

Würde das etwas ändern?

Beklommenheit erfasste ihr Herz und sie schlang die Arme etwas um sich selbst.
Sie saß auf dem Hocker, im zweiten Stock vor dem Fenster. Sah zu seinem Haus herüber. Die Fenster waren dunkel. Er schlief bereits. Trotz ihrer Müdigkeit vermochte sie es doch nicht die Augen zu schließen, einzuschlafen.

Dieses... wenn...

Wenn er...

Wenn er sich dann einfach von ihr abwenden würde?

Es war doch definitiv ein Makel. Fast schon wie ein Brandmal.

Er musste lächeln, wenn er daran dachte, was sie ihm... "gebeichtet" hatte. Er verstand nicht viel von diesen Dingen, hatte er sich doch nie wirklich mit so etwas beschäftigt. Doch wusste er, dass es hilfreich, nützlich und lebensrettend sein konnte.

Wenn er dagegen an seine schlechte Angewohnheit dachte, überraschend Herantretende kampfunfähig zu machen... er schmunzelte, als er sich die Begebenheit vor gut zehn Götterläufen zurückerinnerte. Wie er damals seinem eigenen Sohn, der in neuen Stiefeln von hinten an ihn herangetreten war, beinahe das Nasenbein in den Schädel gerammt hatte. Sie hatten beide gelacht. Zwar erst, als die Blutung gestillt war, aber sie hatten gelacht. Dennoch war es ihm mehr als nur unangenehm gewesen, einen nahestehenden Menschen zu verletzen. Seitdem hatte er auch an sich selbst gearbeitet und konnte sich besser kontrollieren.

Was war es im Vergleich dazu, dass einmal ein Gegenstand durch die Gegend flog? Eine nichtige Angelegenheit, dachte er.
Er befühlte seinen Mundwinkel, die Stelle, die sie beim Abschied geküsst hatte... und wieder einmal kribbelte es in seinem Bauch. Welch anheimelndes Gefühl, war es ihm doch seit Äonen verborgen geblieben.