Die Geschichte, die William ihr erzählte dem Abend zuvor, ließ sie nicht los. Geister die am Wall Schach spielten und gar nicht wussten, dass sie tot waren? Sie hatten jedoch keinerlei Persönlichkeit in seiner Erzählung, er wusste nicht einmal mehr genau was sie sprachen.
Es faszinierte sie. Für sie war es immer selbstverständlich, dass, wenn man rechtens war und starb, sogleich in Morsans Hallen geleitet wird. Doch offenbar war Tare nicht so einfach, wie sie sich es ausmalte.
Den ganzen Tag schaffte sie es nicht sich auf ihr Tagewerk zu konzentrieren. Stets lag ein Kohlestift und ein Pergamentfetzen in Griffbereitschaft und immer wenn ihr etwas in den Kopf schoss, begann sie dies zu notieren. Als sich eine beachtliche Anzahl von Notizen angesammelt hatte, legte sie ihre Arbeit nieder, griff einige Pergamente und begann zu schreiben:Wie jeden Mittentag trafen sich die drei Freunde, die schon seit ihrer Kindheit nicht voneinander zu trennen waren, um ihrer, seit vielen Monden, liebsten Beschäftigung nachzugehen.
Bendolf, der Älteste im Bunde und seit jeher gewissermaßen der Anführer war, lud Ladrius, einen Schönling, der es sich nicht nehmen ließ Vitama in jeder erdenklichen Weise zu huldigen, aber dem es auch an Hochmut nicht mangelte und den gutmütigen, aber nicht von Astrael gesegneten, Reinhard zu sich ein um die Schachpartie, die sie den Wochenlauf zuvor abbrechen mussten, weiterzuführen. Auch wenn die drei es nicht laut aussprachen, war aber schon längst Bendolfs Weib der wahre Anführer des Dreiergespanns denn letztendlich bestimmte sie es, wann Bendolf „zum Spielen raus dürfte“, wie die anderen beiden es neckenderweise nannten. So war auch sie der Grund warum sie die Schachpartie abbrechen mussten, da es ihr zu laut wurde, als sie sich dabei bis tief in die späten Zyklen hinein unterhalten. Aber alles in allem unterstützte sie, dass die drei Männer sich dem Schach verschrieben haben, blieben sie so den Tavernen, dem Wein und vor allem den anderen Weibern fern.
Reinhard, dem es am Feingefühl für Taktik und Regeln mangelte, oder viel mehr, er nur ein „dummer Bär, der zwar groß und gefährlich, aber viel zu schnell zu überlisten“ war, hatte das Privileg bekommen, der „Aufpasser“ zu sein, auf dass niemand schummelte oder einfach eine Figur des anderen klaute. Natürlich wurde ihm nie gesagt, dass dies sowieso den anderen aufgefallen wäre, aber er machte seine Aufgabe, als Tares erster und einziger „Schachaufpasser“ so gewissenhaft, dass er es gar nicht mehr duldete, dass die beiden noch ohne seine Anwesenheit spielten. Sehr zum Leidwesen von anderen Schachspielern, denen er immer erklärte, dass sie zu zweit gar nicht spielen dürften, da der dritte Mann, der Aufpasser, fehlte.
Viele Menschen, die die drei kannten, fragten sich oftmals warum so ein schöner und begabter Mann, wie Ladrius es war, sich mit einem Dummen und einem griesgrämigen Langweiler abgab, doch wenn man die Frage laut stellte hatte immer nur Reinhard eine Antwort:
Weil Mutter Vitama uns die Liebe schenkte und der Vater Bellum die Treue, womit sie uns beide die Freundschaft ins Herz pflanzten und dadurch unser Herz weh tut, wenn wir nicht beisammen sind.
Vielleicht war es nicht sehr wortgewandt und vielleicht auch etwas naiv gesprochen, doch weder Bendolf noch Ladrius konnten dem etwas hinzufügen oder es anders darstellen und bestätigten Reinhards Worte nur mit einer abtuenden Neckerei, obwohl sie ihm insgeheim vollkommen recht gaben.
An jenem Mittentag waren alle drei sich einer Meinung als sie leichte Konversation, nebst ihrem Schachspiel betrieben: Die neuen Statuen, die in Rohehafen aufgestellt wurden, waren furchtbar.
Viel zu pompös. Als wäre der Marmor überall nicht schon übertrieben genug gewesen. So zeterten und schimpften sie über den Adel und warum sie die ganzen Pachteinnahmen an unnützen Tand verplemperten.
Doch die Gespräche wurden je unterbrochen, als mit einem Mal einige Schemen um sie bemerkbar wurden. Reinhard war der erste der sie erblickte: Gerüstet Mannen mit blauen Umhängen und Tuniken, die mit Löwen verziert waren. Sie sahen, dass ihre schemenhaften Lippen sich öffneten und schlossen, doch es dauerte einige Zeit bis verzerrte Töne und schwer auszumachende Worte ihren Mündern entkamen. Bendolf, der Hitzkopf, der er war, begann mit ihnen zu schimpfen und wollte sie aus seinem Haus wissen, doch Ladrius und Reinhard wagten es nicht den gespenstischen Gestalten irgendetwas zu befehlen oder sonst irgendwie zu reagieren um sie nicht zu verärgern.
Durch Bendolfs Hartnäckigkeit kam aber ein Gespräch schließlich zustande.
Dieses Gespräch, allerdings, sollte jede Normalität der drei auf die Probe stellen. Rohehafen und seinen Bewohner waren längst schon nicht mehr, sagten sie; Zerstört und dem Erdreich gleichgemacht durch die Diener des Einen. Die drei Freunde waren nur noch ein Schatten ihrer selbst. Körperlose Schemen die ihren Dienst auf Tare schon vor einigen Götterläufen abgegolten haben, aber sich ihr Ableben selbst nicht eingestehen wollten und seither Zyklus um Zyklus an ihr altes Leben in einer Scheinwelt festhielten.
Mit jedem Wort, das die Soldaten von sich gaben, gewannen ihre Körper mehr und mehr an Substanz, während die Trugwelt um Bendolf, Ladrius und Reinhard sich allmählich auflöste und statt in Bendolfs Haus, in einer befestigten Wehranlage standen. Trotzdessen, dass sie die Worte der Mannen nicht glauben wollten, schossen immer mehr Erinnerungen in ihren Kopf. Erinnerungen daran, dass mit einem Mal alles um sie herum zerfiel und jeder umkam, nur kurze Eindrücke, die sie gar nicht richtig erfassen konnten, in ihrem letzten Moment des Lebens.
Mit diesen Erinnerungen verblassten auch die Hüllen der ungleichen drei und ein schwarzer Schatten, begleitet von dem Schlagen von riesigen schwarzen Schwingen, tauchte das Land um sie herum in Dunkel. Ein imposante Gestalt sank neben ihnen herab, und eine klauenartige, krallenbehaftete Hand schien, mit einer der Krallen an seiner Rechten, die Luft zu zerschneiden und einen Riss in dieser zu hinterlassen. Unheimlich wäre so eine Begegnung normalerweise gewesen, aber die drei wussten, dass sie nichts zu befürchten hatten und bereitwillig ließen sie sich von ihm durch den Riss geleiten.
Drei Seelen wurden an diesem Tag gerettet.
Drei Seelen die so sehr an ihrer Freundschaft festhalten wollten, dass sie selbst dem Tod trotzten.
Aber jeder Mensch, der je in einem Herzen Einzug fand, hat auch in der Seele, die dem Herzen zugehörig war, ein Mal hinterlassen. Der Körper wird irgendwann verrottet sein, doch die Seele, wird sich stets an diese Verbundenheit erinnern.
Und wer weiß?
Vielleicht war Reinhard nun der einzige, und natürlich der unvergleichlich beste, Schachaufpasser in Morsans Hallen?
Gewiss nicht das
Ende
Nachdem sie die letzten Zeilen geschrieben hatte, legte sie die einzelnen Zettel in eine Kladde und ließ sie auf dem runden Tischchen neben der Intarsienbank, die sich in ihrem Kaminzimmer befand, liegen. Zufriedenheit machte sich breit, als sie dem Drang zu schreiben nachgegeben hatte und sie kümmerte sich wieder um ihre tägliche Arbeit, die Kladde nicht mehr beachtend.
Es sei denn eine von den Geschichten die man ihr erzählte, inspirierte sie wieder..