Leise kratzte die Feder über das Pergament, das auf dem schweren Schreibtisch des Arbeitszimmers lag. Eine kleine Kerze erhellte die Umgebung recht notdürftig, die anderen Lichter an den Wänden waren bereits erloschen. Obgleich der Raum recht spartanisch eingerichtet war, so wie Lucius es bevorzugte, ließen sich hier und da kaum die liebevollen Zugaben und Dekorationen übersehen die seine Frau im Raum vorgenommen hatte. Wieder tunkte er die Feder in die Tinte, und schrieb weitere Zeilen auf dem Pergament, das ohnehin schon voll beschrieben wirkte...
"Eine Verteidigung der Städte, der Lehen und der Insel selbst ist unter diesen Umständen unmöglich."
Langsam setzte er die Feder ab und stellte sie in das Tintenfässchen, lehnte sich auf seinem Stuhl ein Stück zurück und blickte für einen Moment in die Flamme der Kerze. Die Expedition ins Ödland war nicht lange her. Nortraven und Ersonter Seite an Seite. Halgar und er hatten den Plan gefasst, die Truppen noch vor dem Dunkeltief ins Ödland zu bringen, noch vor dem Dunkeltief den Feind zu schwächen. Alsbald machte sich der Tross auf in die Öde und zog von über die Ruinen Rohehafens, in denen für zwei Tage ein Lager aufgeschlagen wurde, bis hin zum Lager der Nortraven weit im Osten der Öde.
Man konnte förmlich sehen, wie gut es den Soldaten und Kriegern tat. Vom Wachdienst in den Städten abgelöst, vom ewigen Warten auf etwas, das unausweichlich eintreffen würde. Man konnte sehen wie gut es den Soldaten tat, selbst die Initiative zu ergreifen und sich nicht nur der Verteidigung hin zu geben. Aber man konnte auch bei allen sehen, welche Auswirkungen dieser Feldzug auf sie hatte.
Sie standen vor der schwarzen Mauer. Dem Ziel ihres Heerzuges. Die schwarze Mauer des Skelettfürsten. Beinahe einen Zyklus hatten sie versucht, einen Weg herum zu finden, eine Schwachstelle oder eine Möglichkeit etwas zu tun. Doch die Mauer stand hoch, fest und dunkel dort. Es gab keine Möglichkeit. Der Skelettfürst hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht persönlich zu erscheinen. Es reichte vollkommen, dass diese Mauer dort stand. Kahl, aber unüberwindlich. Und das wurde allen mehr als schmerzlich bewusst gemacht. Der Blick in die Gesichter der Soldaten, der Berserker und der freien Kämpfer die mitgezogen waren. Selbst der Blick in David Glarons Gesicht verriet dass hier alle die Hoffnung verloren hatten. Und auch Lucius verlor sie. Nachdem der Rückzug befohlen war, unverrichteter Dinge, blickte er noch einmal an der Mauer auf und wusste, dass hier kein Sieg möglich war. Dass die Insel verloren war.
Der Skelettfürst sollte den Spähern zufolge tausende von Soldaten hinter der Mauer verbergen .. weitere Truppen am Feuerberg. Und wer wusste schon, was noch dahinter geschah. Der Rückweg zeigte dem Trupp, was tatsächlich der Fall war, als dutzende Skelettkrieger ihnen in den Rücken und in die Flanken fielen. Der Heerzug begab sich zurück in die Heimat. Zurück in die Städte, hinter eigene Mauern, in eigene Sicherheiten.
Lucius blickte wieder auf das Pergament. Das Licht der Kerze ließ seine Lider schwer werden und doch griff er nochmals nach der Feder, ließ die Tinte am Rand des Tintenglases leicht abtropfen und schrieb weitere Zeilen auf das Pergament.
"Sollten keine Truppen entsendet werden können, so bitte ich um weitere Befehle. Die Stellung zu halten würde dem Tod, aller hier verbliebenen Soldaten und Bediensteten des Ersonter Bundes gleich kommen."
Die Feder verblieb einen Moment länger an der Stelle, an der er den Punkt gesetzt hatte. Was war geblieben? Hochwürden Altor teilte ihm noch im Feldlager mit, dass die Kirche in all ihren Expeditionen nie ein anderes Ergebnis bekommen hat als dieses eine: Der Skelettfürst ist unbesiegbar. Nicht zu bezwingen. Seine Festung kann man weder zerstören, noch überwinden. Seine Truppen sind so zahlreich, dass sie die gesamte Insel überrennen werden. Lucius wollte das nie wahr haben, nie glauben. Doch nun hatte er es mit eigenen Augen gesehen. Und wo die Insel .. wo die Lehen vormals mit hunderten von Kämpfern aufwarten konnten, da waren nun, nachdem so viele ihren persönlichen Rückzug gen Festland angetreten hatten .. nicht mehr als vielleicht 40 übrig. Wie sollten weniger Kämpfer das erreichen, was vormals viele nicht schaffen konnten? Die Ritter hatten sich feige in ihre Burg zurück gezogen. Hofften auf die Sicherheit ihrer Mauern. Keiner von ihnen war mehr gesehen worden, sie kümmerten sich um nichts. Selbst der Verfall des Löwenordens interessierte sie nicht. Der Wall stand völlig schutzlos da und obgleich die Ritter vormals immer so sehr darauf pochten, dass der Wall ihr Territorium sei, ganz egal ob das Edikt des Königs etwas anderes sagte, ließen sie nun dieses Tor ins Grünland völlig schutzlos. Ritterliche Pflicht? ... Es machte ihn wütend, darüber nachzudenken. Dekadenz und Hochmut, Eitelkeit und Prahlerei fand sich in Seeberg wieder, aber von Taten war längst nichts mehr zu sehen und es hatte nichts mehr zu tun mit den Rittern, die er früher kennen gelernt hatte.
Brandenstein war zwar befreit, doch die Malthuster hatten sich nie von dem erholt was ihrem Lehen geschehen war, anders als in Ersont damals baute sich keine neue Struktur auf, keine neue Verwaltung, kein neues Lehen. Aber vor allem, keine neue Armee. Die Stadt war belebter geworden, doch Ordnung herrschte dort nicht. Und Malthuster Uniformen wurden zuletzt vor Wochen gesehen.
"Sollen wir das Lehen im Falle eines Angriffs halten?"
Die letzten Worte schrieb er bedächtig auf das Pergament, dann folgten die Unterschrift, der Brief wurde gefaltet und über der kleinen Kerze, deren Daseinsberechtigung nicht nur das Licht war, wurde das Wachs geschmolzen um letztlich das Siegel des Ersonter Bundes auf den Brief zu setzen. Ein tieferes Durchatmen folgte als der Brief abgeschlossen war. Adressiert an das Oberkommando in Ersonts End und die gräflichen Vertreter in Ersonts Tal.
Langsam erhob er sich von seinem Stuhl und trat um den Tisch herum gen Tür. Noch einmal drehte er sich, um die Kerze auszupusten, als sein Blick auf das Gemälde fiel, das Awa hinter seinem Stuhl aufgehangen hatte. Es zeigte Ersonts Tal, in all seiner Pracht, Die belebten Straßen, die Banner Ersonts an den Mauern und der Burg vor einem blauen Himmel. Eine Weile lag sein Blick auf dieser Darstellung, die tatsächlich ein Geschenk aus Ersont direkt gewesen war, das zum Anlass die Hochzeit zwischen ihm und Awa gehabt hatte. Er hatte nicht erwartet, dass die Vertreter des Grafen auf dem Festland so etwas beachten würden.
Nach einigen stillen Momenten pustete er die Kerze aus, und Ersonts Tal verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Leise knarzend fand er seinen Weg hinaus in den Flur des großen Hauses, schloss die Tür hinter sich. Das ganze Haus war nun finster, still. Von der Nacht eingenommen. Seine Schritte führten ihn vorsichtig tastend zur Treppe nach unten als er den Gang hinunter im Türspalt ein schwaches Licht erblickte. Es war das Zimmer des kleinen Aurelius. Sein Sohn, Awas Sohn, ihr Kind. Mit ruhigen Schritten trat er näher an die Tür heran und drückte sie weiter auf um einen Blick ins Innere des Zimmers zu erhaschen.
Vor einigen Zyklen hatte er Aurelius schreien gehört, doch wie stets hörte er nur wenige Augenblicke später Awas Schritte hin zum Kinderzimmer, die sich sorgsam und liebevoll um ihn kümmerte. Über das Schreiben schließlich hatte er es wohl vergessen. Nun fiel sein Blick auf die junge Frau, sitzend auf einem Stuhl, eingenickt, den Kopf leicht an ihre Schulter angelehnt. In ihren Armen Aurelius, der offenbar nach seinem Geschrei wieder in Schlaf gefunden hatte, an die Brust der Mutter gedrückt, den Kopf an ihre Schulter angelehnt. Die kleine Kerze brannte noch und hüllte das Zimmer und die beiden in ein dünnes, schwach wirkendes Licht. Still betrachtete Lucius die beiden für eine ganze Weile, lehnte sich leicht an den Türrahmen an. Unwillkürlich schlich sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen.
Vielleicht war nicht alles verloren. Vielleicht lohnte sich ein letzter Versuch die Insel zu halten. David und er hatten Tags zuvor den Entschluss gefasst. Und hier sah er, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Der Schwermut und die Last, die vormals beim Verfassen des Briefes noch auf ihm lagen löste sich langsam und leise sprach er einige Worte, zitierte jenen Satz, den sie damals als Schwur auf ihre Eheringe gravieren ließen, als er die ruhigen Züge der jungen Frau betrachtete, die dort im Stuhl saß und die für ihn so viel mehr bedeutete als alle Lehen, Banner, Armeen und Königreiche...
"Mein Licht in der Dunkelheit..."
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