Edelbürger |
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Registriert: 6.04.08, 20:14 Beiträge: 2850 Wohnort: USA
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„Am grauen Strand, am grauen Meer Und seitab liegt die Stadt; Der Nebel drückt die Dächer schwer, Und durch die Stille braust das Meer Eintönig um die Stadt.
Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai Kein Vogel ohne Unterlass; Die Wandergans mit hartem Schrei Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei, Am Strande weht das Gras.
Doch hängt mein ganzes Herz an dir, Du graue Stadt am Meer; Der Jugend Zauber für und für Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir, Du graue Stadt am Meer.” (Theodor Storm) Die Männer jubelten laut und warfen ihre Hüte hoch in die Luft. Manche legten, getragen vom ausgelassenen Geist des Moments, ein kleines Tänzchen an Deck hin. Wieder andere Männer stimmten ein Lied an, das von der Heimkehr nach langer Fahrt handelte. Denn endlich, endlich hatten sie das vorläufige Ziel ihrer Mühen erreicht: Das weit offene Hafenbecken der Stadt Ventria, tief in der Bucht von Linfahrt, lud sie zum Verweilen ein. Die vergangenen Wochen und all die Strapazen fielen in wenigen Momenten von den Matrosen der "Litheth" ab, fortgewaschen von der sicheren Rückkehr zu heimatlichen Gestaden. Ohne gesetzte Segel, getragen vom letzten Schwung, trieb die "Litheth", seine Liebe, an den Steg. Beinahe überschlugen sich seine Männer dabei, die Planke auszufahren und das Schiff an den Pollern festzuzurren. Jeder wollte der glückliche Erste sein, der Fuß auf festen Grund und Boden setzen durfte. Von der Brücke aus übersah der Kapitän all dies und entließ die Dürstenden und Liebeshungrigen schließlich auf ihren Landgang.
Seinen Mittschiffsmann und zwei weitere Matrosen ließ er als Deckswachen zurück. Ihn selbst trieb es aber allein durch die Gassen, Straßen und Alleen. Hier hatte er viele Jahre seiner Kindheit verbracht und diesen Moment des stillen Erinnerns wollte er nicht teilen. Dort drüben, wo es verlockend nach Hefe und Honig roch, stand die Bäckerei, an der er schon als halbstarker Bube sich am Felatag ein Rosinenbrötchen geholt hatte. Und dort, auf dem großen Hof der örtlichen Stellmacherei, hatte er einen Sommer lang ausgeholfen. Mit dem Handgeld, das er sich dort erschuftet hatte, konnte er sich seine erste, eigene Laute kaufen gehen. Hier in dieser Gasse hatte er mit vielen Freunden sich herumgetrieben, rumgetollt und mit Stöcken als Schwertern und Eimern als Helmen die Schlachten Khalandras nachgestellt. All diese Erinnerungen flogen wie wiederkehrende Schatten durch seinen tagträumenden Geist, als er lahmen Schrittes die Wege seiner Kindheit und Jugend nachvollzog.
Eine Handvoll Dukaten sicherte ihm einen Platz auf einem Fuhrwerk, denn sein nächstes Ziel lag außerhalb der Stadtmauern. Mit einem halben Bein und einem versehrten Arm war er dem Gebirgspfad nicht mehr gewachsen, den er als Jungspund einer Gemse gleich hinaufgesprungen war. So setzte er sich zu einem Bauern auf den Kutschbock, der sowieso vorhatte, hinaufzufahren, um dort seine frischen Erzeugnisse feilzubieten. Die Fahrt hinauf war kurz, die Gespräche dazwischen zwar höflich, aber belanglos und nur mit halber Aufmerksamkeit geführt. Mit jedem verstreichenden Moment ergriff ihn mehr und mehr eine wachsende Anspannung oder freudige Erregung.
Schweren Schrittes näherte er sich dem hohen, weiß getünchten Torbogen. Hier auf dem Hof, umringt von spindeldürren Türmen und einladend, luftig offenen Häusern, atmete er noch die selbe, frische Luft wie vor vielen Jahren. Es eilten einige Schüler umher, getrieben von der Hastigkeit junger Jahre und auf dem Weg zu ihrer nächsten Unterweisung. Hier war er wieder unter seinesgleichen, umgeben von den wenigen anderen Dienern des Ventus. Hier war er wieder angekommen, wo vor Jahrzehnten seine Reisen ihren Anfang genommen hatten. Und als auf sein Klopfen ihm die Türe geöffnet wurde, war es, als würde ihm eine zentnerschwere Last von den gramgebeugten Schultern genommen werden. Hier waren sie, Vater und Mutter, die er lange vermisst hatte. Und für diesen einen teuren, zerbrechlichen Moment war alles wieder gut.
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"Nenne mir, Muse, den Mann, den Vielgewanderten..." Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον
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