Vor Rothenbucht.
(Abgesprochen mit Hammerfels)
Zum Ende des Felalaufs hin senkte sich die glühende Scheibe schon langsam zum Horizont herab und warf immer längere Wolkenschatten auf die grünlich-blaue, trübe See der Bucht von Linnhafen. Die frische, trockene Kälte der bevorstehenden Jahreszeit der Xan lag in der Luft, ließ den Atem dampfen und die Augen tränen. In die eiskalten Wogen tauchten hier und dort die Möwen ein, die in der Dämmerung oft die beste Beute machten, und schleppten unter gierigem Krächzen ihren Fang zu ihren Brutstätten an der nahen Küste. Noch vor wenigen Mondenläufen hätten sie sich stattdessen über die Netze der Fischersleute hermachen können. Da hatte man hier keine Meile freie Fahrt gehabt, ohne dass man auf die Frachtkähne der Fernhandelskaufmänner oder die küstenbewachenden Sloops der königlichen Marine getroffen wäre. Wenn man dieses Gewässer noch aus glücklicheren Zeiten kannte, musste es einem gespenstisch leer und verlassen vorkommen. Nur vier Schiffe verblieben noch vor der Mündung des Drac, in Sichtweite zum Hafen von Rothenbucht. Zwei Fähren verkehrten mit der cortanischen Seite der Küste, unter den wachsamen Augen der Besatzung zweier Kriegsschiffe, die vor Anker lagen. Schon wurden Lampen und Laternen an Bord entzündet, um die kommende Dunkelheit zu vertreiben und die gute Sicht zu gewährleisten.
Die abendliche Ruhe wird von dem scheppernden Geläut der Schiffsglocken abrupt gestört, in das sich das erboste Keifen der Möwen einmischt. Unter den cortanischen Mannschaften bricht helle Aufregung aus, als es gilt, zugleich die Segel zu setzen und die Geschütze zu bemannen. Denn dort naht im Brausen vom hohen Meer ein Schiff mit Kurs schräg vorm Wind, der die sämtlich gesetzten, roten Leinensegel aufbläht und mit Ventusgewalt den Dreimaster vorantreibt. Die Offiziere des neuen Reiches Cortan treiben ihre Männer zu größter Eile an und machen die Absicht klar: Dieses Schiff müsse sinken, ehe es die Blockade durchbrechen könnt. Schon werden Pechpfeile herumgereicht und Feuerschalen entzündet, um den Beschuss vorzubereiten während eingespielte Truppen von je vier Mann die Ballisten spannen und bündelweise die Speere herbeischaffen. Wie Affen hangeln die übrigen Seeleute sich über die Wanten hoch auf die Rahen und setzen alles daran, die Großsegel zu setzen, die sich bald darauf auch schon knisternd entfalten und von der steifen Meeresbrise gefüllt und gebläht werden.
An Bord des anderen Schiffs steht der Kapitän, eine Hand am mannshohen Steuerrad, den Kurs haltend. Mit der anderen Hand verstaut er nach einem kurzen, tiefempfundenen Stoßgebet den Halsanhänger wieder unter dem Mantel und knöpft diesen bis oben hin zu. In Gedanken weilt er noch bei Ventus, auf dass er sie auf den letzten, wenigen Meilen der Zielstrecke nicht enttäuschen möge, und bei Xan, damit sie ihnen die Gnade erweise, Schiff und Mannschaft noch nicht einzufordern. Der Stand ist breitbeinig und mit der Hand am Steuer hält er sich zugleich fest, als er den Kurs abknickt und mit voller Fahrt sich zwischen den beiden Fähren hindurchdrängt, die dadurch zugleich zur Deckung gegen den Beschuss werden. Im hohen Bogen abgeschossene Pfeile prasseln auf das Deck und pfeifen, Löcher reißend, durch die Takelage, aber die Entfernung ist zu weit, als dass sie größeren Schäden anrichten könnten.
Kurz darauf folgt jedoch weiterer, feindlicher Beschuss. Die durchschlagenden Speere durchstoßen förmlich die Luft und kündigen sich mit einem hellen, pfeifenden Klang an. Knapp vor dem Bug fährt das erste Geschoß in das Wasser und spritzt feinen Gischtnebel auf. In schneller Abfolge hageln die übrigen Speere auf die Mannschaft und die Litheth ein, schlagen in die Bordwand, krachen in den vorderen Mast und reißen einen Matrosen davon. Wo eben noch der junge Seemann stand und seinen Dienst verrichtete, verbleibt einen Augenblick später nur ein Loch in der Reling und eine blutige Spur, die beschreibt, wohin die schiere Wucht ihn schleuderte. Entsetzen flackert auf den Gesichtern der Männer auf und greift rasant um sich, als der Beschuss immer noch anhält. Die panischen Rufe nach dem Gefallenen, das Poltern der Speere, das Heulen und Pfeifen des Windes drohen die Stimme des Kapitäns zu übertönen, der vom Steuer aus ruft: "Findet euren Mut, Kameraden, oder seid bereit, euch eurer Furcht zu stellen! Wir sind des Königs Männer!" Und so plötzlich, wie sie in Gefahr geraten waren, entkamen sie auch wieder. Der flotte, schlanke Dreimaster ließ den cortanischen Schiffen nur ein schmales Zeitfenster weniger, kostbarer Momente, bevor die Reichweite ihrer Speerschleudern nicht mehr ausreichte. Die Verfolgungsjagd war durch die Geschwindigkeit der Litheth entschieden worden, bevor sie richtig beginnen konnte. Nun hatten sie freie Fahrt und konnten in den Hafen von Rothenbucht einlaufen, unter den wachsamen Augen der Männer und Frauen von der Hafenwehr.
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Ein undurchsichtiger Dunst lag in der Luft, das üble Gemisch des Rauchs schwelender Brände, sowie gärenden Abfalls und Exkrements. Die Fassaden der Kontore waren rußgeschwärzt. Sie hatten ihren früheren Glanz zum Großteil eingebüßt und in einer der ausgebrannten Ruine in der Reihe von Lagerhäusern häuften sich behelfsmäßig zusammengetragene Leichname, die Opfer der auszehrenden Belagerung. Als das Schiff in den Hafen einfuhr und festmacht wurde, kamen einige wenige Rothenbuchter aus der Sicherheit ihrer Häuser hervor, mit geschundener Kleidung, dreckigen Gesichtern und einer mutlosen Müdigkeit. Die vielen Wochen des fortwährenden Katapult-Beschusses hatten ihre Stadt zerrüttet, während der Hunger und die abgeschottete Einsamkeit an ihren Gemütern nagten. Die Cortaner hatten sich in ihren Positionen diesseits des Flusses festgesetzt und rannten immer wieder gegen die westliche Stadtmauer an, die sie schon soweit abgetragen hatten, dass dort die täglichen Straßenkämpfe gegen die Eindringlinge zum grauenhaften Alltag geworden waren. Wie tollwütige Hunde hatten sie sich in der Absicht, Rothenbucht einzunehmen, verbissen und waren kurz davor, den Bürgern der Stadt die Hoffnung endgültig auszubrennen.
Den geplagten Seelen konnten die Männer der Litheth nicht helfen, aber in den folgenden Zyklen wurde die mitgebrachte Nahrung ausgegeben. Scheffelweise wurden trockene Linsen, allerlei Getreide und Kohlköpfe an die andrängende Menschenmasse ausgegeben. Fässer mit Trinkwasser wurden aufgestellt, an denen man sich mit Krug und Becher bedienen konnte, um den gröbsten Durst zu löschen. Die Briefe, eingesammelt in Venturia und Linnhafen, wurden geradezu aus den Händen gerissen, versprachen sie doch lange nicht gehörte Kunde von den Liebsten in der Ferne oder ausstehenden Geschäften. Das Gerangel und die Aufregung waren groß und hielten noch für viele weitere Zyklen an, denn das Schiff würde so bald nicht mehr auslaufen können. Die cortanischen Schiffe hatten einen engen Kreis um die Ausfahrt des Hafens gezogen und hielten sie nun von der See her in einem umso festeren Würgegriff, gereizt durch die Niederlage. Mit der Zeit würden sie ganz sicher ihre Rache bekommen, denn die Seemänner teilten jetzt das Schicksal der schon beinahe verlorenen, unausweichlich verdammten Stadt, die mit jedem Tag weiter ausblutete und kaum noch wagen konnte, auf Rettung von außen zu hoffen.