In den letzten Tagen war es, wenn es um die Bardin geht, ruhig geworden im Hafen von Brandenstein. Die Zimmer lagen wieder so verlassen da, wie sie es schon vorher taten und lediglich die üblichen Geräusche waren hier zu hören. Dafür konnte man ein paar Mal in der entgegengesetzten Richtung in Brandenstein Musik hören, aber auch das scheint nun wieder verstummt zu sein.
Ein tiefes Dickicht aus Bäumen, Büschen und hochgewachsenen Farnen und Gräsern sowie einen unebenen Boden aufgrund umgestürzter und überwucherter, teils zersetzter Bäume galt es erstmal zu überwinden, ehe Dylanda an der Furt zu Avindhrell stand. Ein paar Kletten fischte sie von ihrem Umhang, während der alte, blinde Wolf sich schon wieder an ihre Seite drängte. Sie war froh darum, dass er ihr Begleiter war, denn nach all den Berichten über die Anhänger des Ungenannten und ihre Art der Rekrutierung, waren ihr die Reisen über die nicht selten einsamen Straßen Siebenwinds alles andere als genehm, auch wenn das Reisen etwas war, was so sehr zu ihrem Ich gehörte, dass sie sich ohne dies eher rastlos und unzufrieden fühlte.
Nun aber war sie wieder auf der Straße ... oder eher im Wald, in den Auen und vor ihr tat sich ein Ort auf, wie sie ihn bisher noch nie gesehen hatte. Friedlich, grün, vom leisen Plätschern der vielen kleinen Bäche durchzogen, begleitet vom Rufen der Vögel und anderer Tiere, die hier offenbar friedvoll ihr Dasein genießen konnten. Zwei Wachen standen an der Furt und Dylanda zeigte ihnen, dass sie nichts Böses wollte, sondern nur die Auen besuchen und vielleicht sogar manche von Tendarions Schwestern und Brüdern, die hier leben, kennenlernen. Waffen trug sie sowieso keine, lediglich ihren Wanderstab, an dem ein Kleiderbündel hing und auf ihrem Rücken ihre Lautentasche. Sie durfte passieren und ließ sich dann unter einer großen Trauerweide nieder. Ein passender Platz für ihr Vorhaben.
Es blieb ruhig in Avindhrell, lediglich Dylanda spielte auf ihrer Flöte, während sich Hell- und Dunkelzyklen abwechselten. Noch war das Wetter milde genug, um draußen nächtigen zu können und auch der Regen blieb glücklicherweise aus. Zusätzlich spendete der alte Wolf, der sich dicht an sie schmiegte, etwas Wärme. Erst sträubte sich etwas in ihr, das zu tun, weswegen sie hergekommen war. Aber je länger sie gedankenverloren auf ihrer Flöte spielte und je länger sie über diese Melodien das hinaus ließ, was sie für fast 3 Götterläufe gefangen gehalten hatte, desto mehr stellten sich vor ihrem geistigen Auge Bilder ein, kehrten all die schönen oder lustigen Erinnerungen zurück und sorgten dafür, dass die ein oder andere Träne über ihre Wange lief. Aber sie fühlte auch, wie sie das allmählich befreite.
Er war moppelig und verweichlicht und überhaupt nichts weiter als ein sesshafter Trottel aus einer Handwerkerfamilie, der meinte, er könnte große Abenteuer erleben, wenn er von zu Hause ausbüxt und sich dem fahrenden Volk anschließt. Heinrich. Allein schon dieser Name! Dylanda hatte für solche Knalltüten mittlerweile nur noch kindliche Verachtung übrig und mit einem solchen Blick versah sie den braunhaarigen, im doppelten Sinne blauäugigen Burschen. 10 Götterläufe war er alt, hatte er ihrem Vater gesagt und dabei das runde Kinn gereckt, als wäre das eine besondere Leistung gewesen, so alt geworden zu sein.
"Ich bin auch 10 und du bist doof!"
Das hatte sie ihm um die Ohren geworfen, die Zunge rausgestreckt und war dann zurück zu ihren jüngeren Schwestern und den anderen Mädchen gegangen. Jungs waren generell doof, da war sich die weibliche Rasselbande einig und wenn die ältere und schon reichlich große Dylanda das sagte, dann musste das natürlich stimmen!
*Liandros also. Dylanda schaute ihren Vater düster an, als er sie fragte, ob das ein guter Name für den Jungen wäre. "Der Junge" - das war sein Name für einige Monde gewesen. Heinrich fand jeder irgendwie unpassend und Außenstehende hätten gleich gemerkt, dass das ein Kind wäre, was nicht zu ihnen gehört. Dann hätte es wieder diese üblen Gerüchte über "Kindesraub" gegeben und so war aus Heinrich eben "Der Junge" geworden. Anders als die anderen, die sich ihnen immer wieder mal angeschlossen hatten, war er aber geblieben und hatte sich gemausert. Dylanda hasste es, aber sie musste sich eingestehen, dass dieser "Junge" tatsächlich mit anpacken konnte und was taugte. Er lernte rasch, was das Spielen auf den Instrumenten anging und auch das konnte sie nicht leiden. Eigentlich hatte sie sich immer als die Erbin ihres Vaters gesehen, der so virtuos mit der Laute, aber auch so vielen anderen Instrumenten umgehen konnte. Und nun war dieser Junge da und sollte Liandros heißen. Mit so einem Namen war auch klar, dass er zu ihnen gehörte.
Es hatte so viele Diskussionen und Streitereien in letzter Zeit gegeben. Aber es war eben nicht zu ändern. Liandros gehörte nun zu ihnen und Dylanda war eines klar - sie musste sich nun besonders anstrengen, um zu zeigen, dass sie weiterhin die Erbin ihres Vaters war.
**knack*Es war ein hässliches Geräusch, aber für einen kurzen Moment fühlte Dylanda ein wunderbar warmes Gefühl der Zufriedenheit, als sie mit wutentbrannter Miene auf den jungen Kerl hinabblickte, der zu Boden gefallen war und sich mit schmerzverzerrter Miene die Nase hielt, während sie ihre rechte Hand noch zur Faust ballte und den pochenden Schmerz in dieser ignorierte. Erst, als das Blut lief, wachte sie aus diesem Gefühl auf und merkte, dass das gerade ein großer Fehler gewesen war.
Sie waren 15, sie hatten sich verändert. Aus dem moppeligen Heinrich, dem Jungen von einst, war der gar nicht mehr so moppelige, allmählich stattlich heranwachsende Liandros geworden und auch wenn ihm gerade das Blut aus der Nase lief - er sah irgendwie gut aus.
"Du ...", begann sie rasend klingend und wollte noch einmal gegen das ankämpfen, was sich da in ihr aufbaute, aber sie verlor an Schwung. Stattdessen tat es ihr leid. Schrecklich leid.
Er blinzelte und sah mit vor Schmerz verzogener Miene zu ihr hinauf. Die blauen Augen schimmerten verräterisch vor Tränen des Schmerzes und er schwieg ausnahmsweise.
Sie biss sich auf die Unterlippe, verzog das Gesicht und murmelte: "Es tut mir leid ... Liandros."
Und rannte schnell weg.
Erstaunt liegen bleibend musste er feststellen, dass sie ihn das erste Mal mit diesen Namen angesprochen hatte.
*Vorsichtig rieb einer ihrer Zeigefinger über seine Nase.
"Zum Glück ist die Nase nicht so geworden, wie die von Onkel Brecheisen."
"Ich sehe ja auch allgemein besser aus als er!"
"Und du bist eingebildeter."
Er lachte auf und sie musste unweigerlich lächeln, dann schlossen sich seine Arme um sie und sie versanken in einen von vielen Küssen in dieser lauen Astraelsnacht.
*"Verstehe."
Ein feines Lächeln umspielte die Mundwinkel des Vaters, der Blick ihrer Mutter wiederum sagte nur etwas in der Art wie "Ich habe das schon länger kommen sehen!" aus.
"Dann geht hinaus, lernt die Welt kennen, sammelt ihre Melodien und kehrt irgendwann zurück, wenn ihr möchtet. Gerne auch zu dritt, ne?"
Das Zwinkern des Vaters, das Lachen der Mutter trieb ihnen beiden, die gerade erst ihren 17. Götterlauf vollendet hatten, die Röte ins Gesicht.
"Magro! Es ist nicht so!"
Er lachte wiederum nur wohlwissend und winkte ab.
*Die Welt stand ihnen offen und sie nahmen all ihre Eindrücke in sich auf. Sie lauschten den Melodien der Elfen, dem fröhlichen Spiel der Hobbits und dem brummenden Chor mehrerer Zwergenkehlen in den Gaststuben dieser Welt. Sie staunten über die Instrumente und die Kultur Endophals und Liandros bewies dummerweise, dass zumindest ein Gerücht über das fahrende Volk nicht ganz aus der Luft gegriffen war, als er versuchte eines davon zu entwenden. Es ging glimpflich aus und die beiden genossen weiterhin ihre Freiheit, traten gemeinsam auf und verdienten damit ihr Geld - mal mehr, meistens aber weniger.
Und dann, vor 3 Götterläufen, näherten sie sich Venturia ...
Seufzend rutschte Dylanda vom Baumstamm hinab und legte einen Arm um den Wolf herum. Wehmut, aber auch das Gefühl, dass es nun nur noch besser werden konnte, erfüllten sie. Ja, es war eine schöne Zeit gewesen, bis sie Venturia erreicht hatten. Gemeinsam hatten sie so viel von der Welt sehen können, so viel erlebt und so viele schöne Momente zusammen gehabt. Liandros' Tod hatte sie aber auch selber für eine Zeit vom Leben getrennt. Die Zeit im Tempel zu Venturia hatte sie zumindest soweit aufgebaut, dass sie weitermachte, doch es fehlte der Sinn, so glaubte sie. Dafür setzte sie sich die Maske der Freude und das Frohsinns auf, denn wer mochte schon einem traurigen Barden lauschen? Und wer würde so einem Barden etwas für sein Spiel zahlen?
Das offene Gespräch mit Tendarion und all die wie von Vitamas Hand geführten Entwicklungen der letzten paar Wochen hatten jedoch zu einer unerwarteten Wende geführt.
Nachdenklich sah Dylanda über die im Dämmerlicht liegenden Auen, ließ ihre Gedanken nun einfach frei treiben, während eine Hand sanft durch das warme, struppige Fell ihres Begleiters strich.