Es ist kalt. Nicht nur das Echo seiner taumelnden Schritte hallt von den steinernen Wänden der großen Halle wider, selbst die eisige Luft scheint vom aschgrauen Stein abzuprallen und sich in der Mitte zu fokussieren, dort wo er den schmalen Pfad zwischen den mit tuschelnden Leuten gefüllten Bänken entlang geführt wird. Freilich gibt es einen Hintereingang, über den man ihn nach vorne hätte bringen können, aber das hier ist ein Zeichen. Vorgeführt werden soll er, jeder soll ihn sehen, den gehässigen Blick auf ihn richten.
Mit einem schmerzhaften Tritt in die Kniekehlen bringt ihn einer der Wächter vor dem auf einer respekteinflößenden Anhöhe thronenden Tisch dazu, demütig auf die Knie zu fallen. Er sieht auf, versucht einen Blick auf die Gestalt zu werfen, die am anderen Ende des Tisches sitzt, doch wie schon auf dem beschämenden Pfad nach vorne schafft er es einfach nicht, die Augen darauf zu fokussieren. Eine weitere unsanfte Begegnung mit dem Stiefel des Wächters läßt ihn schließlich auch ergeben den Blick senken.
"Der erste Ankläger soll sprechen!" Selbst auf die Stimme kann er sich nicht konzentrieren, noch nicht einmal sagen könnte er, ob diese nun männlich oder weiblich ist, geschweige denn, ob er den Richter kennt. Einzig, daß ihm dieser ganz sicher nicht wohlgesonnen ist, läßt dich deutlich aus dem Tonfall heraushören, und er muß trocken schlucken. Sollten Richter nicht neutral sein? Einzig im Sinne von Recht und Gerechtigkeit entscheiden, nicht den Angeklagten von vornherein schon vorverurteilen?
Ein Rascheln ist zu hören, das Geräusch eigentlich viel zu leise, um es auf die Entfernung zu hören, aber das Echo wird nur allzu deutlich an seine Ohren herangetragen. Er wagt es, den Blick über die Schulter zu richten, und kann erkennen, daß sich aus den Reihen der Zuseher eine einzelne Gestalt erhoben hat. Eine Frau ist es, hager und ausgezehrt, das von tiefen Augenringen gezeichnete Gesicht offenbar vor seiner Zeit gealtert. Die ersten grauen Strähnen durchziehen das fuchsrote Haar, und erst an der Stimme erkennt er sie.
"Er hat mich belogen. Er und dieser treulose Schuft, der ihn gezeugt hat. Ich hätt ihn nie mit ihm gehen lassen dürfen - er hat ihn zu einem Lügner erzogen, einem ehrlosen Schausteller." Er will aufspringen und zu ihr laufen, sie in den Arm nehmen und um Entschuldigung bitten, aber sein Körper gehorcht nicht mehr seinem Willen, hilflos muß er mitansehen, wie sie sich schluchzend wieder zurück auf die Bank setzt und in der gesichtslosen Masse des Publikums verschwindet.
"Er hat mich vergessen." Ein junger Mann ist es, der nun aufsteht, gehüllt in eine militärische Uniform. Ein häßlicher roter Fleck durchbricht den ansonsten blonden Schopf, so wie auch ein ausgefranstes Loch in der Brust den Waffenrock verunziert. Das Gesicht ist eingefallen und an manchen Stellen kaum mehr als eine faulige Masse. "Wir waren wie Brüder, wir haben alles gemeinsam gemacht bis zu dem Tag, als er uns einfach verlassen hat. Wie viele Götterläufe wußte er noch nicht einmal, daß ich tot bin? Weil er nie gefragt hat, sich nie für die interessiert hat, die er zurückgelassen hat!"
"Er hat mich benutzt!" Noch ehe der Blondschopf gänzlich aus dem Fokus verschwunden ist, springt eine junge Frau mit sehnigem Körperbau auf und richtet einen anschuldigenden Zeigefinger auf den Barden. "Er hat meine Liebe benutzt, um mein Können für seine Zwecke zu mißbrauchen."
"Er hat mich bestohlen." Ein für endophalische Verhältnisse recht hochgewachsener Mann mit aristokratischem Auftreten und gestrengem Blick erhebt sich, und neben ihm ein ungepflegter, vernarbter Halunke, dem die rechte Hand fehlt. "Mich auch," knurrt dieser, und einen Moment später stimmen andere mit ein, verhüllte Gestalten, Straßenkinder mit schmutzigen Gesichtern, flinke Gesellen mit verschmitzten Mienen.
"Er hat mich fallen gelassen." Auch wenn man unter der Kapuze das Gesicht der Frau nicht erkennen kann, läßt ihre Stimme dennoch keinen Zweifel an ihrer Identität. "Er hat geschworen, mich zu beschützen - und mich dann verkauft und verraten."
"Er hat mich verraten." Die Gestalt einer zierlichen Elfe tritt aus der Masse hervor, gehüllt in wallende Gewänder, gekrönt von einem Kranz aus Blumen, deren Wurzeln sich in ihren Haaren verlieren. Ihre mandelförmigen Augen blicken traurig und verletzt zu ihm herüber. "Mein Geschenk hat er verkommen lassen, sich von mir abgewandt. Und er hat zugesehen, wie meine Kinder vergangen sind."
"Er hat sich mir widersetzt." Wie aus einem Munde sprechen sie, der Mann im blauen Waffenrock der Ritterschaft und der Elf in weinroten Roben, und ihnen folgen viele, viele andere, die ihre Worte wiederholen.
"Er hat mich hintergangen." Ein Chor ist es diesmal, gesprochen von Gestalten der Dunkelheit, ihre teils behandschuhten, teils knöchernen Hände ausgestreckt, um anklagend auf den Knienden zu deuten.
Schuldgefühle und Trauer, die bei jedem der ausgesprochenen Worte stärker und erdrückender geworden sind, weichen langsam einer anderen Emotion. Er wird langsam wütend, nicht auf den Richter, nicht auf die Ankläger, sondern auf sich selbst. Und nein, noch nicht einmal wegen der Vergehen, die ihm angelastet werden, obgleich jedes davon zumindest im Ansatz der Wahrheit entspricht. Es ärgert ihn, daß er all das mit sich herumschleppt, ohne sich den Vorwürfen zu stellen. Hat Tendarion nicht klargemacht, wie wichtig die Unversehrtheit der Seele ist? Wie kann er dann all das an diesem unbezahlbaren Geschenk der Götter nagen lassen?
Er ignoriert die Kraft, die ihn am Boden hält, so wie auch die Wächter neben sich, und richtet sich auf, um herum zu wirbeln und sich der ersten Frau zu stellen, die er nun trotz der Masse aus Unbekannten dort auf einer der Bänke ausmachen kann.
"Wir haben dich belogen, ja. Um dich zu schützen und dir die Sorgen zu ersparen. Und nun, da es keinen Grund zur Sorge mehr gibt, hab ich dir die Wahrheit gesagt. Du hast allen Grund, böse zu sein, aber ich bete zur Herrin, daß du mir verzeihst." Er schenkt ihr ein liebevolles, fast sehnsüchtiges Lächeln, ehe er den jungen Mann sucht.
"Es tut mir leid, ich hätte mich nach dir erkundigen sollen. Es war ungerecht, mich nur um die anderen zu sorgen, weil ich dachte, du wärst sicher. Ich danke dir, daß du dennoch zu mir gekommen bist, und ich bin glücklich, daß du nun wieder deinen Frieden gefunden hast." Er nickt ihm zu und winkt dann, so wie früher, wenn sich die Wege der beiden zur Nachtruhe getrennt haben.
"Ich hab dich nie benutzt," meint er dann sachte an die Frau mit dem unzufriedenen Halblächeln gewandt. "Ich hab dich ausgebildet nach bestem Wissen und Gewissen, ohne je zu begreifen, was du fühlst - was ich offenbar auch gefühlt hab. Danke für die gemeinsame Zeit - ich wünschte, ich wäre nicht so dumm gewesen und hätte dich nicht unbewußt damit verletzt." Diesmal verneigt er sich tief, eine galante Geste gänzlich ohne Spott.
"Nicht gestohlen, geborgt. Und nicht zu Eurem Schaden, wie ich hoffentlich irgendwann beweisen darf," meint er recht knapp zu dem Endophali, ehe er sich an die zwielichtigen Gestalten wendet. "Ihr habt recht, ich hab euch bestohlen und betrogen. So wie ihr andere bestiehlt und betrügt. Der einzige Unterschied ist, daß ich damit gegen unsere Regeln verstoßen hab, und dafür bitte ich euch um Verzeihung. Ich werd einen Weg finden, es wieder gut zu machen, auch wenn ihr alle nun so fürchterlich weit entfernt seid." Kurz hebt er die Hand an sein Amulett und nickt ihnen zu.
"Ich habe dich nicht fallen gelassen. Auch wenn du mich nicht siehst, bin ich immer da. Ich werd bis zum Ende darum kämpfen, dich zu retten, auch wenn ich das nur aus dem Hintergrund heraus tun kann. Ich bin kein Kämpfer, kein Diplomat, kein Magier. Es tut mir leid, daß du dich mit einem einfachen Barden und Archivar begnügen mußt, aber glaub mir: Ich werde dich nie aufgeben." Ein trauriges, aber offenes Lächeln schenkt er der Verhüllten.
"Ich..." Als sein Blick auf die Elfe fällt schluckt er wieder trocken, und seine Stimme versagt ihm einen Moment lang den Dienst. "Ich werd mich nicht für die Dinge entschuldigen, die du genannt hast, denn ich weiß, daß du mir dafür vergeben hast. Stattdessen bitte ich dich um Verzeihung, daß ich an deiner Gnade gezweifelt hab. Daß mir andere immer wieder sagen müssen, daß du mich liebst, weil ich für mich selbst diese Liebe einfach nicht finden kann." Er haucht einen kurzen, und dennoch so unendlich ehrlich gemeinten Kuß auf den Kelchanhänger.
"Ja, ich hab mich euch widersetzt, nicht auf euch gehört und euch mehr denn einmal Kummer bereitet. Ich will mich gleich für die unzähligen Male entschuldigen, die noch folgen werden, denn das ist nunmal, was ich bin: ein starrköpfiger, aufbrausender Rebell, der oft seinem Herzen folgt und dabei Astraels Gabe außenvor läßt. Auch wenn ich mir euer Vertrauen nicht verdient habe, bitte ich dennoch darum, denn hinter dem Aufmüpfigen verborgen liegt meine Liebe zu euch. Ich will euch unterstützen, auch wenn es meist nicht so wirkt." Ein knappes Nicken folgt, die Geste wird jedoch begleitet von einem liebevollen Lächeln.
Dann wendet er sich zu der letzten Gruppe um, und sein Blick wird ernst. Seine Stimme tönt ihnen kräftig entgegen, ohne Zögern und ohne Unsicherheit, aber es liegen auch weder Härte, noch Vorwurf darin. "Ihr seid Kinder der Herrin, und als solche werde ich euch immer behandeln. Ihr seid immer willkommen, und ich werde euch Respekt und Gastfreundschaft zukommen lassen, so wie all den anderen. Bitte deutete es nicht als Verrat, daß ich euch nicht bei euren fehlgeleiteten Taten unterstützen werde. Wann immer ihr dem rechten Pfad folgt, bin ich neben euch, um euch zu stützen und zu helfen, ungeachtet dessen, was ihr sonst tut. Aber ich werde euch nicht dabei helfen, andere zu verletzten."
Und zum Schluß stellt er sich dem Richter, lächelnd nun wieder, da er endlich begreift, warum er dessen Form und Stimme nicht hat erkennen können. Es ist nicht eine Form, und nicht eine Stimme - es ist eine Mischung aus all den Leuten, deren Urteil über ihn ihm wichtig ist, all jene, denen er gefallen möchte, und vor denen er sich schämt. Er möchte ihnen mitteilen, daß er seinen Weg geht, daß er nicht ständig den Schuldgefühlen unterliegen kann, die ihn plagen, und daß er sein Bestes gibt.
Aber ein Schrei zerreißt die Luft, und er fährt erschrocken herum. "Arin?!"
Er liegt alleine und ohne Decke auf dem Bett, der Oberkörper aufgerichtet und das Herz rasend. Der Schrei ist nicht Teil des Traumes gewesen!
Einen Moment lang versucht er sich zu sammeln und sich zu erinnern, was geschehen ist. Er ist Arin am Abend nach draußen gefolgt, hat diesen nach seinem kleinen Nervenzusammenbruch auf den Armen nach oben getragen, ihn in sein Bett gelegt und ist dann kniend neben diesem verharrt, die Hand des Jüngeren festhaltend, um ihm ein wenig Sicherheit im Schlaf zu geben.
Später erst hat er sich aufgerappelt, den schmerzenden Rücken durchgestreckt und ein feuchtes Tuch geholt, um damit sachte die letzten Reste des Erbrochen von seines Gefährten Gesicht zu streichen. So ruhig und friedlich hat dieser geschlafen, und schließlich ist er zu ihm ins Bett gekrochen, um ihn liebevoll an sich zu drücken.
Jetzt aber liegt er alleine hier, nur der kleine Schrei hallt noch unerbittlich in seinen Ohren nach. Es dauert ein paar Herzschläge, bis er begreift, warum. Der junge Man liegt neben dem Bett, gefangen in den Wirren der Decke, die er beim Herumrollen mit sich gerissen hat. Panisch wimmert er, strampelt, und selbst als der Barde ihn von seinen "Fesseln" befreit und ihn zärtlich an sich gedrückt hat, will er sich nur langsam beruhigen.
"Psssht... alles gut," flüstert er beruhigend an Arins Ohr. "Alles gut!"
Und sein eigener Traum ist vergessen, vollkommen nichtig neben den Sorgen seines Liebsten.
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