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 Betreff des Beitrags: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 5.12.15, 12:20 
Einsiedler
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Eine Weile saß er am Fuß des Bettes und blickte auf seine Schwester hinab, deren ruhiger, tiefer Atem darauf schließen ließ, daß sie der Müdigkeit letzendlich nachgegeben hatte. Nach Verrauchen des Zorns hatte sich wieder das nagende Gefühl in ihm breitgemacht, nicht zu genügen, sie wie immer enttäuscht zu haben, obwohl er wußte, daß er mit ihrer Hilfe große Fortschritte gemacht hatte. Zwei oder drei Jahresläufe zuvor wäre die Situation bedeutend anders ausgegangen.

Leise, mit ruhigen und langsamen Bewegungen, um sie nicht zu wecken, glitt er von der Bettkante. Mit gewohnt routinierten Handgriffen schlüpfe er aus seinen Stiefeln, lehnte diese exakt parallel zueinander gegen den Fuß des Bettes und dann den Schwertgurt dazwischen. Nachdem er aus seiner Kleidung geschlüpft war, wurde diese fein säuberlich gefaltet und auf dem Nachttisch des Gastzimmers platziert.

Als er sich schließlich auf seiner Seite des Bettes niederließ, wandte er ihr nicht wie gewohnt den Rücken zu, wohlwissend, daß es auf ganz Tare keinen geschützteren Ort gab denn den halben Schritt zwischen ihren schlafenden Körpern. Diesmal lag das Gesicht zu ihr gedreht, beobachtete das leichte Heben und Senken ihres Oberkörpers.

Kleinste Reizung? Wirklich?

War sie tatsächlich der Meinung, daß ihre beiläufig gesprochenen Worte für ihn wahrlich nur eine weitere Demütung gewesen waren? Daß seine größte Verfehlung, welche seit Jahren unaufhaltsam an ihm nagte, für ihn nichts weiter war als ein unangenehmes Thema, über das er nicht gern sprach?

Vor allem aber, war sie sich nicht bewußt, daß selbst diese Schmach aus einem anderen Munde gesprochen niemals diese Reaktion hervorgerufen hätte, außer vielleicht in einem Gespräch mit seinem alten Lehrmeister? Wie schon so oft fragte er sich, wie es möglich war, daß sie sich meist schweigend verstanden - Daß er ihre Wünsche an ihrer Haltung, ihrem Gesichtsausdruck ablesen konnte - Daß sie wie niemand sonst selbst noch die feinsten Regungen seiner ausdruckslosen Augen deuten konnten - Und daß sie dennoch nicht zu verstehen schien, wie sehr ihre Worte immer und immer wieder seine wunden Punkte trafen, beinahe als würde sie bewußt versuchen, ihn zu reizen.

Sie hätte ihm nicht auftragen müssen, über ihre Worte nachzudenken, vermutlich würden ihn diese ohnehin den Rest der Nacht in diesem unruhigen Zustand zwischen Grübeln und nächtlichem Vergessen halten. Vielleicht war ja der Vergleich mit dem Kettenhund nicht so unangebracht gewesen. Wenn er nicht eben dabei war, wild um sich zu beißen, war er fügsam demjenigen ergeben, der eben seine Kette in Händen hielt. Der subtile Unterschied zwischen blinder Unterwürfigkeit und pflichtbewußter Demut stellte eine Gratwanderung dar, der er wohl noch nicht gewachsen war.

Leise erneut nur raschelten die Laken, als er sich aus dem Bett gleiten ließ und sachten Schrittes wieder ans Fußende trat, um dort nach dem Schwertgurt zu greifen. Das beruhigende Geräusch der Klinge, wie sie langsam aus der Scheide glitt, holte ihn für einen Moment ins Hier und Jetzt zurück, und er ließ das gedämpfte Licht der Straßenlaternen auf der Schneide tanzen.

Schwertgurt in der Linken und Schwert in der Rechten richtet er sich langsam auf und ging dazu über, die sorgsam einstudierten Bewegungen seiner morgendlichen Schwertübungen auszuführen. Sorgen brauchte er sich keine zu machen, sie damit zu wecken, waren die Bewegungsabläufe doch darauf fokusiert, Gleichgewicht und Körperbeherrschung zu trainiern, und entsprechend ohne jede Hast und Schwung durchzuführen. Langsam, ruhig und lautlos war der Tanz mit der Klinge.

Er konnte nicht die gesamte Nacht wachliegen und über seinen heutigen Fehltritt nachdenken. Sie erwartete von ihm, des morgens ausgeruht zu sein, bereit dazu, den ihm gestellten Auftrag auszuführen. Also würde er trainieren, bis seine Glieder schmerzten und die Erschöpfung über das Grübeln obsiegte, ihn in einen tiefen, traumlosen Schlaf fallen ließ.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 5.12.15, 14:34 
Einsiedler
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Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, es war nach den nahezu letzten zehn Götterläufen ein Segen in einem echten, sauberen Bett zu liegen. Der Schlaf überkam sie so schnell, dass sie sich nicht einmal darüber ärgern konnte, dass sie aufgrund ihrer nicht zur Ruhe kommenden Gedanken nicht einschlafen konnte.

Als das Bett sich rührte, war sie jedoch schlagartig wach. Wie konnte ihr Bruder davon ausgehen, dass sie nicht davon aufwachte, wenn sie doch die meiste Zeit über in weniger ansehnlichen Herbergen oder aber unter freiem Himmel genächtigt hatten? Sie war jedoch zu müde um ihn wissen zu lassen, dass er sie aus ihrem Schlaf riss. Also holte sie, als seine leisen Tritte und Bewegungen den Raum erfüllten, ihre Gedankenspiele, die sie für gewöhnlich vom Schlaf abhielten, in diesem Moment nach.

Seit so langer Zeit sehnte sie sich nach der Gemeinschaft anderer. Doch ihr Bruder war der entscheidende Grund, warum sie es nicht zulassen konnte, dass sie sich gemeinsam in enger Zusammenarbeit mit anderen wagen wollte. Er war zu unbeherrscht, wenn er erst Vertrauen fasste. Eine Erkenntnis, die sie schon lange beobachtet hatte. Zu fremden oder ihm ungeliebten Personen war er gleichgültig. Man konnte ihn nicht reizen. Doch kaum waren die selben Worte aus ihrem Mund gesprochen, musste sie sich Gedanken darum machen, wie sie der Herberge den Schaden an der Einrichtung ersetzen könnte. Sie empfand es schon als Fortschritt, dass er sich nicht mehr an ihr vergreifen wollte in seiner Wut, doch war er fernab von beherrscht um das Risiko einzugehen, dass er Kameradschaft mit anderen aufbauen sollte. Sie wusste nicht, wie lange sie es noch dulden sollte. Sein Fortschritt war sichtbar, aber zu langsam. Viel zu langsam.

Verbunden durch einen Vater und getrennt durch zwei Mütter, waren sie sich lange Zeit fremd. Doch die gemeinsamen Reisen, die sie durch ganz Galadon führten, brachten sie einander näher, als sie es je hätten sein können, wären sie schon von Kindesbeinen auf beieinander gewesen. Sie bevorzugte es alleine oder nur mit ihm zu reisen, aber dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie beiden so nicht vorwärts kamen. Sie war zu nachgiebig. Er war zu starrköpfig. Und wenn es wieder eskalierte, war allein er derjenige, der die Narben davontrug. Innerlich wie äußerlich.

Als er sich wieder in das Bett begab, merkte sie, wie sich die Müdigkeit wieder wie eine wollene Decke über ihre Gedanken legte. Es gab sonst keinen Menschen, dem sie ohne jeden Schutz und ohne Schwert in Griffreichweite den Rücken zudrehen würde, als ihrem Bruder. Mit dieser Erkenntnis verfiel sie wieder der Schwärze, die sich traumlos bis in den Morgen zog.


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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 6.12.15, 13:23 
Einsiedler
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Eines der Metallteile seiner Schulterpanzerung bohrte sich tief in die Oberseite des rechten Trapezmuskels, nur eine von unzähligen Stellen an seinem Körper, bei denen er nichts mehr weiter tun konnte als den Schmerz auszublenden und sich damit abzufinden, daß der Schaden morgen umso größer sein würde. Er hatte keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen - lehnte nur mehr halb stehend, halb hockend gegen die Wand gedrückt, und die kläglichen Reste seiner Körperbeherrschung waren darauf gerichtet, die von salzigem Schweiß verquollenen Augen offen zu halten.

Die Schmerzen waren nicht das Problem. Schon als Kind hatte er lernen müssen, diese zu ertragen, sie zu ignorieren und durch etwas anderes zu ersetzen. Was er hingegen nicht ausblenden konnte, waren die ständigen Aussetzer seiner Muskeln, die unter dem Gewicht schlicht ihren Dienst versagten und ihn nun mehr als nur einmal schon hatten in die Knie gehen lassen. Die Muskeln, die sich selbst gegen jedes einfache Bemühen sträubten, ihn zumindest zurück zum Bett zu tragen, wo er wenigstens die gröbsten Quetschungen und Blutergüsse hätte vermeiden können.

Das Schlimmste aber, mit weitem Abstand, war die Stimme in seinem Kopf, die nun seit Stunden schon beständig immer und immer wieder dieselben Worte in seine Stirn hämmerte: "Du ziehst sie mit runter. Du ziehst sie mit runter. Du ziehst sie mit runter..."

Er konnte sie nicht ansehen. Nicht bloß, weil selbst der Gedanke an den Versuch, seinen Nacken zur Seite zu wenden, seine Muskeln vor Pein aufschreien ließ. Er konnte schlicht ihren Anblick nicht ertragen, der ihn nur wieder mit der unbarmherzigen Wucht eines Kriegshammers daran erinnern würde, wie oft er am heutigen Tage versagt hatte. Die falschen Antworten, die falschen Reaktionen zur falschen Zeit, und dann die Schmach, deren Folgen ihm derzeit den Leib zu Brei zu zermalmen drohten.

Von Anfang an hatte er gelernt, seine Wendigkeit und Geschwindigkeit im Kampf zu nutzen - Hieben auszuweichen, die Kraft des Gegners gegen ihn einzusetzen, schnelle Schwertstreiche zu führen. Schiere Stärke war nie sein Metier gewesen, die Muskeln, die sich auf seinen dünnen langen Gliedmaßen abzeichneten, waren nie auf Kraftanstrengungen trainiert worden. Das viele Metall, das nun auf seinen Schultern lastete, hatte ihm nicht nur der für seinen Kampfstil benötigten Geschwindigkeit beraubt und ihn bei jeder Bewegung aus dem Gleichgewicht gebracht, inzwischen war er selbst schon darauf gefaßt, jeden Moment die ersten Knochen bersten zu hören.

Und wieder wäre es seine Schwester, die er so mit in den Abgrund ziehen würde.

Einen Ausweg aus dem todbringenden Würgegriff der Situation gab es nicht. In jeder anderen Angelegenheit hätte er sich zurückgezogen, seinen Stolz heruntergeschluckt und das Feld geräumt, sie ohne die Last der Verantwortung über ihn ihren Weg finden lassen. Aber hier ging es nicht um Stolz, und auch wenn seine Schwester noch so sehr darum bemüht schien, seine Worte falsch zu deuten, es ging auch nicht um Angst. Er hatte keine Angst, seinen Schwur zu brechen, schlicht weil der Gedanke an und für sich vollkommen absurd war. Er folgte nicht den Worten, weil er diese einst gesprochen hatte, er hatte sie gesprochen, weil ihnen zu folgen selbst davor schon die einzig treibende Kraft in seinem Leben gewesen war.

Wenn er die Wahl hätte, selbst wenn es darum ginge, seine Schwester von den Ketten zu befreien, die seine bloße Existenz ihr auferlegten - er würde jeden Tag aufs Neue den Schwur zu ihrem Vater und dessen Gefolgsmann leisten, ohne zu zögern.

Metallenes Scheppern erfüllte den Raum, als er sich von der Mauer abdrückte und im nächsten Moment nach vorne in die Knie sackte. Die Ränder der festen Beinschienen bohrten sich tief in die empfindlichen Stellen an Knie und Unterschenkel, quetschten Muskel und Sehnen, und ein kaum noch zu unterdrückendes Aufflammen von Schmerz verriet ihm, daß er sein linkes Bein morgen wohl nicht benutzen würde. Er versuchte, die Implikationen dieses Umstandes zu ignorieren, legte die Handschuhe flach gen Boden und drückte dann die aufgeschundene Stirn fest gegen den kalten Stein. Auch wenn jede einzelne Faser seines Körpers danach schrie, sich den heilsamen Schwingen des Schlafes hinzugeben, hielt er die brennenden Augen fest in die Dunkelheit seines eigenen Schattens gerichtet.

Leise, gedämpft durch den Stoff unter seiner Halskrause, wiederholte er die Worte von damals.

Leise wiederholte er die Worte, die seine Schwester mit in den Abgrund ziehen würden.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 8.12.15, 16:15 
Einsiedler
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Einen Herzschlag lang nur überkam ihn die Schwäche, und dennoch verlor er sofort den Halt. Seine wunden Finger, aufgeschunden und verkrampft, lösten sich aus dem harten Untergrund und er schlitterte erneut ein Stück nach unten. Nicht bloß zurück zu der Stelle, an die er sich mühsam schon vor einer Ewigkeit hinaufgekämpft hatte - tiefer und tiefer scheuerte er mit den aufgeschlissenen Fußsohlen den Abhang hinab, bis er sich endlich mit unbändiger Kraftanstrengung an einer der kleinen Unebenheiten festkrallen konnte.

"Du bist ein nutzloses Stück Dreck," Die Worte waren nur ein leises Zischeln, und dennoch dröhnten sie in seinen Ohren, drohten ihn erneut jeden Halt verlieren zu lassen. Der Zorn übermannte ihn wie so oft, aber in seinem Gefolge befanden sich diesmal Emotionen, die ihm in dieser Intensität noch vollkommen fremd waren - Entsetzen, Verzweiflung, Verletzlichkeit.

Die Worte ließen sein Blut heiß aufflammen, nicht ob ihrer Härte, sondern aufgrund der Tatsache, daß sie so unbarmherzig die Wahrheit widerspiegelten. Seine Lungen füllten sich mit Luft, und in einer Lautstärke, die er seiner sonst so ruhigen Stimme nie hätte zugetraut, brüllte er nach oben: "ICH WEISS!"

Ein schmerzhafter Stich durchzuckte seinen Körper, als er dabei den Kopf nach oben richtete und jetzt erst der Szene gewahr wurde, welche sich nur wenige Schritt über ihm abspielte. Seine Schwester - das andere Ende des Seils, welches er um seinen Bauch gebunden hatte, weiter an ihrem Schwertgurt befestigt - war bei jedem seiner Abstürze gleichermaßen tiefer hinab gerutscht. Unnachgiebig war das Band zwischen ihnen, und jeder seiner Fehltritte zog auch sie weiter den steilen Abhang hinunter.

Schlimmer noch - in jenem Moment stürzte ein schattenhafter Greifvogel aus der dunkelgrauen Wolkendecke herab und dessen Krallen wurden in den ungeschützten Rücken seiner Schwester getrieben, kraftvoll und unaufhaltsam. Der strömende Regen lief in salzigen Bahnen sein Gesicht herab, als ihre gedämpften Schmerzenslaute zu ihm hinabdrangen und im nächsten Augenblick...

... erkannte er, daß er selbst der Greifvogel war, daß es seine eigenen Krallen waren, die blutige Schnitte auf ihrem nackten Körper hinterließen. Ihr Blut benetzte seine Hände, und dennoch wagte er es nicht, den Griff um sie zu lösen - nur allzu bewußt war ihm, daß selbst schon die geringste Lockerung der scharfen Krallen sie tiefer in den Abgrund stürzen ließe.

Mit einer ruckartigen Bewegung richtete er den Oberkörper auf und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Mitte des Raumes. Sein Herz raste und kalter Schweiß bahnte sich einen geschlungenen Pfad an seinen Schläfen hinab.

Ein Traum? Sein Vater hatte ihm offenbart, daß er niemals zum Träumen imstande sein werde, und ihm im gleichen Atemzug versichert, daß er lernen würde dies als Segen anzuerkennen. Und wenn diese grausam verzerrte Reminiszenz an die Geschehnisse der letzten Tage tatsächlich ein Traum gewesen sein sollte, so mußte er den vor langer Zeit gesprochenen Worte zustimmen: Die Traumlosigkeit der letzten fünfundzwanzig Jahresläufe war ein Geschenk gewesen, dessen er sich nie wirklich bewußt gewesen war.

Langsam nur beruhigte sich seine Atmung wieder und sein Oberkörper sank in der Annäherung von Entspannung etwas in sich zusammen. Seine Augen, nun wieder halb geschlossen und von gewohnter Ausdruckslosigkeit erfüllt, richteten sich hinab auf seine Hände, welche mit den Handflächen nach oben auf der dünnen Decke seines Bettes ruhten. Wie schon in seinem Traum waren diese mit Blut verkrustet, auch wenn nur der geringste Anteil aus den Wunden seiner Schwester herrührte.

Die in häßlichen Wulsten verheilte Brandnarbe auf der linken Handfläche war nun mit vier schmalen, aber tiefen Schnitten durchbrochen, beinahe wie in einem gewollten Muster. Dunkler Schorf hatte sich mittlerweile auf den jungen Wunden gebildet, und in einem unbeteiligten Nebengedanken wunderte er sich, ob sich wohl neue Narben zu seiner bereits stattlichen Sammlung hinzugesellen würden.

Unter leisem Rascheln wurde die Decke zurückgeschlagen und er griff mit beiden Händen nach dem geschienten Bein, um es sachte über die Bettkante zu heben. Neben dem Bett verharrte er einen Moment, und ein nachdenklicher Schatten huschte über sein Gesicht, als er sich der Worte zu erinnern suchte, die ihm die Rüstung abzulegen aufgetragen hatten. Dann, ohne zu zögern, griff er nach den schweren Metallteilen und legte diese in aller Ruhe wieder an. Lediglich die Beinschienen beließ er unter seinem Bett, um nicht unnötig das verletzte Bein zu belasten. Bis zu dessen Heilung würde er nur den Oberkörper trainieren, wie von seiner Schwester aufgetragen.

Dann trat er mit dem Krug Wasser ins Freie, den er gestern zur Wundversorgung bereitgestellt hatte, um sich trotz der Kälte in aller Ruhe Blut und Salz aus dem Gesicht zu waschen und auch die verkrusteten Hände zu säubern. Zudem nutzte er einen weiteren Heiltrank, um sachte den Heilungsprozeß seines Unterschenkels zu beschleunigen - er hatte sich die Worte bezüglich der Verschlechterung seines Zustandes zu Herzen genommen und beschlossen, nicht weiter durch Unachtsamkeit aufgrund der ausgeblendeten Schmerzen eine Verkrüppelung zu riskieren.

Und auch dem Auftrag seiner Schwester, nicht weiter seine Schwäche durch falsche Genügsamkeit zu vertiefen, wurde Folge geleistet. Anstatt wie üblich eine schlichte Mahlzeit zu sich zu nehmen, die nicht mehr abdeckte denn den gröbsten Hunger, richtete er eine großzügige Auswahl an kräftigenden Speisen an, die er mit Bedacht und ungewohnt bewußt zu sich nahm.

Erst nach dem energiespendenden Mahl und dem Reinigen des Geschirrs begab er sich schließlich hinauf ins obere Stockwerk, um seinen alten Umhang auf dem noch regenfeuchten Boden der Dachterrasse aufzubreiten und sich behutsam darauf nieder zu lassen. Er schob ein zusammengerolltes Bündel unter das geschiente Bein, um dieses nicht weiter zu belasten, verschränkte die Arme hinter der Halskrause und begann dann mit langsamen und schwunglosen Bewegungen, den Oberkörper wiederholt aufzurichten und dann wieder herabzusenken, ohne je wirklich mit dem Rücken den Boden zu berühren - nur allzu deutlich hatte er in den vergangenen Tagen lernen müssen, wie tief sich Schulterpanzerung im Liegen in den Rücken bohren kann.

Sein Befehl war gewesen, die Rüstung abzulegen und sich zu schonen...

... aber nie war bestimmt worden, für wie lange.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 8.12.15, 17:44 
Einsiedler
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Beiträge: 3
Sie fühlte sich so lebendig, wie an dem Tag, als ihre Lehrmeisterin ihr auftrug ihren Weg mit ihrem gesamten Sein zu verfolgen, oder ihn für immer zu verlassen.

Zehn Götterläufe an seiner Seite fragte sie sich jeden Tageslauf, warum sie an ihrem Bruder so sehr scheiterte. Warum sie nicht zu ihm durchdrang. Weshalb sie nicht in der Lage war ihm aufzuzeigen, dass sie diesen Weg gemeinsam gehen. Sie war die große Schwester. Sie wollte ihm die Möglichkeit geben seinen Weg zu sehen, ihren gemeinsamen Weg, ohne durch die harte Schule gehen zu müssen, die sie ertragen musste.

Und sie hat ihn derart geschwächt, durch ihre nachlässige Art, dass er nicht einmal mehr in der Lage war sie zu beschützen. Er brachte sie sogar in vermeidbare Gefahr. Sie warnte ihn. Sie hatte ihn auf die Gefahr hingewiesen. Sie war leise, doch auch wenn sie geschrien hätte, er hätte es nicht wahrhaben wollen. Der Angreifer war da und sie wusste, was geschieht. Er hatte nicht einen Hauch einer Ahnung. Sie wusste, dass sie die jenige sein würde, die sich schützend vor ihn stellen musste. Und so war es.

Als das Blut ihren zerfetzten Rücken hinabfloss und sie seinen entgeisterten, schockierten Blick sah, wusste sie, dass er endlich verstand, dass nur er es war, der sie stets in Gefahr brachte. Sie käme ohne ihn besser zurecht. Ohne die stete Erinnerung, dass sie für ihn verantwortlich war und dass er ihre Bürde war, die sie zu tragen hatte. Und dennoch, hatte sie keinen Moment versucht ihn dafür zu rügen oder zu züchtigen. Sie legte nur Hand an ihn an, wenn er ihr gegenüber aggressiv wurde. Das war der Fehler, den sie zu verzeichnen hatte. Dass sie es überhaupt zuließ, dass er sich an ihr vergehen konnte.

Zehn Götterläufe der Gleichgültigkeit sind vergangen, doch endlich verspürte sie Zorn. Zorn auf ihn, Zorn auf sich selbst. Sie hasste ihn und liebte ihn. Sie wollte ihn zerquetschen für seine Unfähigkeit und gleichsam ihn unter ihren Händen zerbrochen wissen, auf dass er endlich beginnt zu lernen, dass zum Überleben mehr gehörte, außer eine Myriade an Gefühlen in sich zu horten, um diese in den unpassendsten Zeiten herauszulassen.

Als sie sich langsam aufsetzte, nach einer Nacht voll unbändiger Pein und wenig Schlaf, der mehr einer Bewusstlosigkeit glich, herrschte sie ihn an, die blutdurchtränkten Verbände zu wechseln.

Sie wusste, dass er sich mehr in Selbstvorwürfen flüchten würde, anstatt zu erkennen wie ihnen die Gnade zustand, das zu berichtigen, was sie all die Zeit versäumt hatten. Anstatt, so wie sie, dankbar dafür zu sein, für einen weiteren Tag überlebt zu haben, um etwas empfinden zu können. Er trug eine Maske der Leere nach außen hin. Sie selbst trug diese Leere in sich.

Während er, auf ihr eindringliches Anraten hin, den Verband fest um ihren offenen Rücken band, nahm sie die Wut, die in ihr hochkochte, wohlwollend zur Kenntnis. Sie würde ihn brechen und ihm dabei zusehen, wie er sich neu zusammensetzte oder auf immerdar verging.


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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 10.12.15, 18:04 
Einsiedler
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Kraftvoll stemmte er das gesunde Bein gegen den massiven Fels, trat so eine handvoll Steinchen los und sicherte sich dabei den Halt auf der unebenen Oberfläche. Seine Hand drückte gegengleich gegen einen kleinen Vorsprung im Stein und mit einem recht gewandten Ruck schob er sich wieder ein Stück weiter nach oben. Es war erstaunlich, wie leicht es ihm mittlerweile fiel, sich zu bewegen - das ständige Tragen der schweren Rüstung hatte wohl nicht nur langsam dazu beigetragen, seine Kraft zu stärken, sondern ihn wohl auch gleichzeitig gezwungen, die gewichtsbedingte Trägheit durch neue Wendigkeit auszugleichen.

Lediglich in seine leichte Lederrüstung gehüllt erschien ihm der Aufstieg mehr wie eine gemütliche Wandertour, trotz der Bemühungen, sein linkes Bein nicht zu belasten. Weiterhin hielt er jede unnötige Last fern vom verletzten Unterschenkel - obschon die tagelange Behandlung mit Heiltränken und die sorgsame Schonung inzwischen ihren Teil beigetragen hatten und ein vorsichtiges Vortasten durch den unterdrückten Schmerz ihm offenbart hatte, daß dort kaum noch mehr denn ein leichtes Kribbeln zu fühlen war.

Diesmal schlitterte er nicht nach unten, verlor nicht den Halt auf dem mit morgendlichem Raureif überzogenen Fels. Diesmal war es aber auch kein Alptraum. Ein solcher hatte ihn erneut aus dem Schlaf gerissen, und er hatte beschlossen, den noch jungfräulichen Morgen zu nutzen, seine Gedanken zu ordnen. Allein, fernab von prüfenden Blicken und gestrengen Regeln, fernab seiner Schwester.

Mit einem letzten behenden Ruck zog er sich den Rand eines knapp zwei Schritt durchmessenden Felsvorsprungs hoch, dessen Lage einen recht weitreichenden Blick bot, und dennoch den bewohnten Teilen der Insel abgewandt war. In aller Ruhe ließ er die Tasche von seinen Schultern gleiten, löste die Schnalle des Schwertgurtes und bettete die schlichte Klinge auf den grasbewachsenen Untergrund der kleinen Anhöhe. Ohne Hast ging er in die Knie, beugte den Oberkörper etwas nach vorne...

... und begann dann aus tiefster Kehle zu schreien. Seine geballten Fäusten donnerten wieder und immer wieder gegen den harten Untergrund, und alleine den abgewetzten Lederhandschuhen war es wohl zu verdanken, daß seine Hände keine Schäden davontrugen. Mit einer Vehemenz, wie sie selbst seinen gelegentlichen Zornausbrüchen nie innegewohnt hatte, entluden sich die aufgestauten Emotionen der letzten Tage. Nicht ein einziges Mal hatte er sich ihnen hingegeben, seit seine Schwester ihm zu verstehen gegeben hatte, wie sehr sie ihn für die letzten zehn Jahresläufe verabscheute, und um so heftiger brachen sie nun hervor.

"WARUM?" formte sich der zuvor wortlose Schrei zu dieser einzelnen Frage, ehe er unter einem letzten Aufbäumen die Fäuste nochmal kräftig auf den Boden schmetterte und in dieser Pose schließlich verharrte. Warum mußte er ausgerechnet jetzt lernen, daß er nicht bloß die leere Hülle war, für die er sich selbst immer gehalten hatte? Warum brachen all die bisher unbekannten Empfindungen ausgerechnet jetzt über ihn herein, da ein jeder Gefühlsausbruch das Ende seiner Ausbildung bedeuten konnte, und damit das Ende von allem?

Interessanterweise war es keine Angst, die der letzte Gedanke in ihm auslöste, sondern ein unterschwelliges Gefühl von Dankbarkeit. Den Oberkörper weiterhin tief nach vorne gebeugt schloß er die Augen und sprach ein stilles Gebet, huldigte den Aspekten von Mut, Ehre und Stärke und brachte seine Wertschätzung für die Prüfungen zum Ausdruck, die hier auf der Insel beständig auf ihn einprasselten.

Er war schwach geworden in den letzten Jahren, überheblich und so unglaublich selbstgefällig in dem Glauben, nach etwas Größerem zu streben, während er in Wirklichkeit immer mehr von seinem Pfad abgekommen war. Er war heute ein Geringerer denn der einfache Stallbursche, der damals seinem Lehrmeister durch die Tore der heimatlichen Burg gefolgt war. Die Härte aber, die mit ihrer Ankunft auf Siebenwind in seine Ausbildung eingezogen war, bot ihm jeden Tag aufs Neue die Gelegenheit, seinen Kurs zu korrigieren und wieder auf den Weg zurückzufinden - oder zumindest unterzugehen, ehe er größeren Schaden anrichten konnte.

Die Gedankengänge führten unweigerlich zu dem wirren Gefühlschaos in seinem Inneren zurück, drängten ihn zu der Erkenntnis, welch unglaublichen Segen diese eben noch so verhaßte Entwicklung in Wahrheit darstellte - und seine Schultern begannen wild zu tanzen unter einem hysterischen Lachanfall.

Um aus der Asche eines reinigenden Feuers neu erwachsen zu können bedarf es zuvor etwas, das verbrannt werden kann.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 15.12.15, 09:26 
Einsiedler
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Kalte Mittsekarluft umspielte seine entblößte Haut, und dennoch ging er langsam und mit Bedacht in die Hocke, um Rüstung wie auch Kleidung sorgsam zu einem Bündel zu verschnüren. Kälte hatte sich am Tag zuvor als wahrlich dehnbarer Begriff herausgestellt, kaum mehr denn ein zarter Hauch schien das beständige Brausen des Windes im Vergleich zu sein. Und selbst als er den ersten Fuß in das eisig kalte Wasser setzte, entpuppte sich das Prickeln auf seiner Haut als nicht annähernd dem gestrigen Schrecken gewachsen.

Myriaden kleiner Nadelstiche zogen sich seinen Körper hinauf, umfingen ihn bei jedem Spann, den er sich tiefer in das klare Naß hinabgleiten ließ - und dennoch war es Entspannung, welche sich langsam in ihm auszubreiten begann. Rücken und Brust, beide gezeichnet von unzähligen Narben und den letzten Resten großflächiger Blutergüsse, erfuhren durch die Kälte erstmals Linderung von der tagelang ausgeblendeten Pein.

Neben Schmerz und Schmutz waren es vor allem aber die Qualen des Gemüts, die sich in den frostigen Fluten von ihm zu lösen begannen.

Die schwerste Prüfung seiner bisherigen Existenz war ihm gestern zuteil geworden, und der Reaktion seiner Schwester nach zu urteilen war er kläglich daran gescheitert. Dennoch, ebenso unmißverständlich war auch der Wink gewesen, daß sie seine Fortschritte zur Kenntnis genommen hatte. Sie wußten beide nur allzu gut, daß noch eine Woche zuvor das Ergebnis ein gänzlich anderes gewesen und sie wohl ohne die Bürde eines törichten Bruders daraus hervorgegangen wäre.

Er ließ seinen Körper weiter hinabtauchen, bis lediglich noch seine Augen vom eisigen Naß verschont waren. Wellenförmig tanzten die sonst so unzähmbaren Locken auf der Wasseroberfläche in gleichmäßigen, wie choreographiert wirkenden Bewegungen, die beinahe schon einen hypnotischen Sog ausübten.

Teuer hatte er gezahlt für das zögerliche Vorankommen. Je härter die Prüfungen wurden, mit denen er gesegnet war, desto stärker drohten nun die Emotionen ihn zu überwältigen, die nach all den Jahren so plötzlich in ihm aufgeflammt waren. Zorn, Hingabe, Verlangen...

Freude.

Sein Blick war gen Himmel gerichtet, aber seine Gedanken waren längst in Richtung Brandenstein gewandert. Er solle mehr Interesse an der Wahl seiner Kleidung zeigen, hatte ihn die Schneiderin mit gutmütiger Herausforderung gedrängt, und mittlerweile hatte er das Gefühl, dieses nicht länger nur heucheln zu müssen. Nicht der Kleidung wegen, freilich.

Die Vorstellung aber, unter Leute zu kommen, dem Drill der Ausbildung für einige Momente zu entfliehen und seine neugewonnene Sicht auf die Welt auskosten zu können, ließ sein Herz einen Schlag lang ruhen und danach umso heftiger in seiner Brust klopfen. Die Euphorie, welche...

Er schloß die Augen und tauchte noch den letzten Fingerbreit hinab, bis die Wogen über ihm zusammenschwappten und er gänzlich unter der Oberfläche ruhte. Nein, er konnte es sich nicht erlauben, sich haltlos den Gefühlen hinzugeben, nicht ausgerechnet jetzt, da ihm die Gunst zuteil wurde, sich auf seinen ursprünglichen Pfad zurückkämpfen zu dürfen.

Nicht ausgerechnet jetzt.

Nein. Niemals.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 22.05.16, 15:54 
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Ruhig und gleichmäßig ging der Atem in seinem Nacken, feinste Spuren von Feuchtigkeit sammelten sich in den zu einer merklichen Gänsehaut aufgestellten Härchen bei jedem Atemzug. Ungewohnt warm fühlte sich der Hauch an auf der empfindlichen Stelle unterhalb des Haaransatzes, und dennoch waren es kalte Schauer, die seinen Rücken hinabliefen. Selbst die Wärme der Haut, welche er dort eng an die seine geschmiegt fühlen konnte, schien die kribbelnde Kühle nicht an ihrer Ausbreitung hindern zu können.

Interessant.

Vorsichtig bewegt er seine Hand, die eigenen schwieligen Finger verschränkt mit denen der so viel kleineren, zarteren Hand. Es schien beinahe poetisch, wie sich Brandnarbe an Brandnarbe fügte, so wie er auch die ewigen Begleiter ihrer Vergangenheit an seinem vernarbten Rücken spüren konnte. Anders als sie konnte er nichts Häßliches daran erkennen, jede einzelne Zeichnung auf der Haut zeugte von den Prüfungen, denen sie ausgesetzt gewesen und aus denen sie nicht unbeschadet, aber doch lebendig wieder hervorgetreten waren.

Die Hand war es auch, die er zuletzt von ihr löste - wie lange war es her, daß er zuletzt ohne seine Handschuhe geschlafen hatte? - als er leise seinen Körper aus dem Bett gleiten ließ. Behutsam zog er die Decke über den ihren, denn nur allzu deutlich würde die Kühle des Raumes zu spüren sein, nun da er sie ihrer Wärmequelle beraubt hatte.

Am unteren Ende der Treppe sammelte er seine Kleidung auf, warf sich diese ungewohnt achtlos über und machte sich dann daran, die vor dem Haus zwischengelagerten Einrichtungsgegenstände ins Innere zu transportieren, nicht ohne sich vorher ausgiebig um die Pflege seines treuen, equinen Gefährten zu kümmern.

Das Lager im Keller wurde schlicht und praktikabel, ganz so wie er es gewohnt war. Ein einfacher Badezuber für die Körperpflege, eine Kohleschale für Licht und Wärme nebst dem kleinen Röhrenofen, ein Kleiderhaken für Mantel und Umhang, sowie der wärmende Schlafsack. Mehr Luxus, als ihm in den letzten Wochenläufen zuteil geworden war. Und doch fand er den Weg zurück nach oben, unter die warme Decke, zurück in die ausgebreiteten Arme, denn er war sie leid, die ständige Kälte und den harten Boden.

Interessant.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 24.05.16, 12:56 
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Gleichmäßig und ohne jede Hast dröhnte das dumpfe Pochen an seinem Ohr, verstärkt in seiner ruhigen Gedämpftheit lediglich dadurch, daß sein Haupt direkt auf der darüberliegenden Haut ruhte. Nicht das wilde Rasen, welches vorhin noch diese absurde Mischung aus Sorge und unterschwelliger Freude in ihm ausgelöst hatte, trotz ihrer Zusicherung, daß seine Bedenken ungerechtfertigt seien.

Entgegen ihrer lächelnd gesprochenen Worte und der scheinbar ehrlichen Zusicherungen plagten ihn Schuldgefühle. In seiner Unerfahrenheit hatte er wieder einen großen Fehler begangen, und neuerlich war nicht er derjenige, der die Konsequenzen daraus tragen würde. Kein unkontrollierter Zornausbruch war es diesmal gewesen, sondern ein bewußtes Spiel mit Mächten, die viel zu fremd noch für ihn waren, als daß er sich darauf hätte einlassen dürfen - ein Eingeständnis, welches mit seiner unerbittlichen Gewißheit die letzten Reste von Schläfrigkeit aus seinen Gliedern weichen ließ.

Sie hatte nur allzu deutlich klargemacht, daß er nicht rückgängig machen konnte, was er getan hatte. Daß der Schaden, auch wenn sie diesen nicht als solchen anerkennen wollte, längst angerichtet war. Sie konnten nun weder vor, noch zurück - auch wenn da diese langsam aufkeimende Stimme in seinem Inneren lauerte und ihm zuflüsterte, daß er Letzteres ohnehin nicht wirklich bedauerte.

Langsam nur, um sie nach dieser viel zu kurzen Zeit der Rast nicht durch eine unbedarfte Bewegung zu wecken, hob er den Kopf von ihrer Brust und richtete sich auf in eine sitzende Position am Rand des Bettes. Seine Kleidung, fein säuberlich gefalten und neben der Schlafstätte drapiert, war weiterhin regenfeucht und zeugte so von der kurzen Zeit, die er nur geruht hatte.

Dennoch streifte er die Stücke leise über, denn er würde ohnehin keinen Schlaf mehr finden. Er mußte sich darüber im Klaren werden, was gestern geschehen war, und wie er verhindern konnte, daß es neuerlich passierte. Er hatte ihr gegenüber Schwäche gezeigt, ein deutlich deplatziertes Verhalten, war seine Aufgabe doch, für sie Leitung und Stütze zu sein, vielleicht sogar Schild, so es die Gesamtsituation erforderte.

Als er das Haus verließ, die Zügel seines Pferdes locker in der Hand führend, blieb nur ein einzelnes Hadernblatt zurück als Zeichen, daß er einen Teil der Nacht hier verbracht hatte. Eine knappe Botschaft, sauber und exakt geschrieben und neben ihr auf dem Bett zusammengerollt.

Zitat:
Ich habe mich zum kontemplativen Schwerttraining zurückgezogen. Du weißt, wo du mich finden kannst.

Caid

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 30.05.16, 15:15 
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Das singende Klirren von Stahl auf Stahl hallte durch die feucht-frische Luft des vorangeschrittenen Hellzyklus, gefolgt von einem dumpfen Ächzen seines Kontrahenten. Er selbst begrüßte das vertraute Vibrieren, welches sich von der Klinge über die Plattenhandschuhe in seinem Unterarm ausbreitete, als der Angriff des jungen Mannes von seinem Schwert pariert wurde.

"An die Kraftreserven denken", kommentierte er ruhig den Laut der Anstrengung, während er selbst mit einer eher knappen Bewegung den Winkel der Waffe veränderte und damit den Arm seines Trainingspartners zur Seite zwang. Es war eine ungewohnte Erfahrung, zur Abwechslung nicht Ratschläge von anderen anzunehmen, sondern einen bescheidenen Teil des in den letzten Jahresläufen gesammelten Wissens selbst weitergeben zu können. Keine unangenehme Erfahrung.

Dennoch war für ihn unverkennbar, daß er selbst noch am Anfang seines Weges stand, den Umgang mit Platte und Breitschwert zu erlernen. Noch immer ertappte er sich regelmäßig dabei, wie sein Körper instinktiv in die altbekannte Kampfstellung überging, welche auf Schnelligkeit und Wendigkeit abzielte - ein Fehler, der ihn in einem wirklichen Kampf binnen weniger Herzschläge das Leben kosten konnte.

Ob es in der vorliegenden Situation wohl als unangebracht anzusehen wäre, dem Angebot seines elfischen Bekannten nachzugehen und diesen zu Trainingszwecken aufzusuchen? Er konnte wahrlich nicht behaupten, nicht diesen gewissen Tatendrang zu verspüren, eine jener Emotionen, die sich in den letzten Wochenläufen vermehrt seiner bemächtigt hatten. Eine jener, denen er sich in gewissem Rahmen bereitwillig hingab, da sie mit seinen rationalen Zielen übereinstimmten.

Dennoch, die Geschehnisse der letzten Zyklen und Tagesläufe hatten den Fokus seiner Aufmerksamkeit in andere Bahnen gelenkt, und ein anonymes Schreiben, welches ihn kurz vor Beginn des kleinen Trainingskampfes erreicht hatte, hatte seine Vorgehensweise für die bevorstehenden Abendzyklen ohnehin festgelegt. So keine gegenteiligen Befehle ihn erreichten, natürlich.

"Deckung." Das einzelne Wort kam nur leise über seine Lippen, ruhig und ausdruckslos wie gewohnt. Ein bloßer Kommentar, der das wuchtige Auftreffen der Breitseite seiner Klinge auf dem Wangenknochen des jungen Mannes nur beiläufig begleitete. Das Wort selbst würde ihm nicht in Erinnerung bleiben, der wohl bald mitten im Gesicht sprießende Bluterguß hingegen mochte da ein besserer Lehrmeister sein.

Doch es war nicht vorrangig sein Trainingspartner, der aus dieser Lektion Nutzen zog. Unvermittelt wanderte sein Blick hinab auf den Schwertgurt, genauer noch auf die Reitgerte, welche dort befestigt war.

Schonungslosigkeit. Härte.

Dinge, die er noch lernen mußte, wenn er nicht am Versagen anderer die Schuld tragen wollte.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 2.06.16, 12:54 
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Er konnte sich nicht daran zurück erinnern, wann er zuletzt eine solche Müdigkeit verspürt hatte.

Die Geschehnisse der letzten Tagesläufe hatten wohl ihre Spuren hinterlassen, und im Gegensatz zu früher war er sich nun darüber im Klaren, daß er die Warnzeichen seines Körpers nicht schlichtweg ignorieren durfte. Wie einfach er es sich doch früher gemacht hatte, das mangelnde Schmerzempfinden eben dazu zu nutzen, ohne die längerfristigen Konsequenzen zu überdenken.

Als wäre er der einzige Herr über seinen Körper - welcher Hochmut.

Diesmal aber hatte er der Vernunft den Vorrang gegeben und sich zur Ruhe gebettet, mit dem beißenden Geruch nach Fisch und Essig in der Nase und dem unruhigen Atem seiner ewigen Gratwanderung in den Ohren.

Seine Selbstausbildung in der Heilkunst, angeregt von den Worten seiner Schwester all die Monde zuvor, hatte ihn nicht auf das vorbereiten können, was nun offenbar vor ihm lag. Freilich, ihm waren die körperlichen Veränderungen bekannt, die mit ihrem Zustand einher gingen, ebenso wie die möglichen Wirrungen des Gemüts.

Dennoch, hätte man ihm vor wenigen Tagesläufe noch erzählt, er würde sich auf eine Irrwanderung durch Brandenstein begeben, an deren Ende er Geld in einer Höhe ausgeben würde, für die er sich ein für sein Training besser geeignetes Schwert hätte kaufen können, hätte er dies als schlechten Scherz abgetan.

Eingelegte Rollmöpse...

Die nächsten Monde würden nicht einfach werden, und neuerlich würde sie ihm eine Gratwanderung auferlegen - die Erfüllung seiner Pflichten nicht hintenan stehen zu lassen nach dem Stillen ihrer oft widersprüchlichen Bedürfnisse. Oder der Gewährleistung ihres Schutzes - vor anderen, vor allem aber vor sich selbst. Denn auch sie mußte lernen, daß ihr Körper nicht mehr nur ihr selbst gehörte.

Seine Finger kreisten einige Momente lang über den selbst zugefügten Verletzungen auf ihrem Handrücken - wie oft hatte er diese in den letzten Wochenläufen immer und immer wieder gereinigt und verbunden, nur um am nächsten Tag erneut ihre Fingernägel darüber scheuern zu sehen?

Finger wie Gedanken jedoch verweilten nicht lange dort, wanderten langsam ihren Arm hinauf zu den gezeichneten Schultern und dann an ihrer Seite wieder hinab, um sich behutsam über ihren Bauch zu legen. Daß dort noch nichts war, das man körperlich fühlen konnte, stand keineswegs im Gegensatz zu dem Wissen, daß er es dennoch spüren konnte.

"Ob gezeugt in jenem Wald oder in ihrem Bette macht keinen Unterschied. Es wird mein Kind sein, meine Verantwortung."

Selbst wenn er die Worte nicht vor Zeugen gesprochen hätte, deren Wissen um einiges schwerer wiegte denn von so manch anderem, wäre er nicht davor zurückgeschreckt. Die Frage war einzig und allein, ob es ihm gestattet sein würde, die Worte auch offiziell zu wiederholen.

Langsam nur begann ihm zu dämmern, welch weitreichende Konsequenzen die Verkettung von Entscheidungen mit sich bringen würde, die er seit ihrem ersten Gespräch getroffen hatte, doch die Erkenntnis erfüllte ihn weder mit Angst, noch mit Reue. Es war eine weitere Prüfung, vielleicht die eine, an der er scheitern würde.

Aber er würde nicht aufgeben.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 6.06.16, 12:53 
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Die kühle, feuchte Luft hatte etwas Beruhigendes an sich. Eine stumme Erinnerung daran, wer er war und welchen Platz er sein Eigen nennen durfte. Auf eine harte, und doch so unendlich wertvolle Weise war es eine Erleichterung, dieses Wissen, daß es nicht seine Aufgabe war ein Leben in Komfort und Trägheit zu genießen. Welch Geschenk es doch war, daß er diese Erfahrungen hatte machen dürfen, während sein Pfad bereits fest vorgegeben war, anstatt sich langsam entwöhnen zu müssen wie andere.

Er wandte den Kopf zur Seite, und ein wenig Luft preßte sich in einem resignierten Seufzen zwischen seinen Lippen hervor. Nun mußte diese Erkenntnis nur noch zu ihr vordringen.

"Du hast die Worte meiner Schwester falsch verstanden - was andere denken ist nicht das, was von Bedeutung ist. Das Urteil mag noch nicht gefällt sein, doch ahne ich, in welche Richtung es gehen wird. Mein Platz ist hinter dir, dich stützend, dich behütend - nicht an deiner Seite, und nicht in deinen Armen."

Leise nur formte er die Worte, kaum mehr als ein zartes Hauchen, denn er wußte daß ein neuer Streit entflammen würde, wenn er sie ihr gegenüber laut aussprach. Und so wisperte er sie lediglich ihrem schlafenden Körper entgegen, in der Hoffnung, sie würde die Wahrheit dahinter irgendwann erkennen.

Und mehr denn hoffen konnte er nicht, denn so eng das Band zwischen ihnen war, so tief war auch der Graben, der sie trennte. Sein Leben war geprägt und erfüllt von Vertrauen - das ihre von Argwohn und Mißtrauen. Wann immer diese beiden Welten aufeinander prallten, wann immer er den Fehler beging, sie um Vertrauen gegenüber seiner Schwester und seinem Weg zu bitten, brachen die Gefühle aus ihr hervor, von Mal zu Mal heftiger und unaufhaltsamer.

Seine Schwester manipuliere ihn, hatte sie ihm gestern an den Kopf geworfen, und so unendlich absurd war die Vorstellung, daß sie gedacht hatte, ihm damit etwas Neues zu offenbaren. Ja, seine Schwester formte ihn, wie ein Schmied das rohe Eisen manipuliert, um es dann Hammerschlag um Hammerschlag zu einem nützlichen Werkzeug zu verarbeiten. Konnte sie denn nicht sehen, daß es dieser unnachgiebigen Kraft bedurfte, den harten und doch präzisen Schlägen, um ihn zu stärken und zu transformieren?

Leise nur schlüpfte er aus dem warmen Schlafsack, langsam und behutsam, um sie nicht zu wecken, und ebenso vorsichtig bedeckte er ihren Körper mit dem noch von seiner Wärme erfüllten Fell. Er selbst bettete sich auf den grauen Umhang, der ihm sonst als Schutz vor Wind und Regen diente, und er empfing die Kälte des Kellers als gnädigen Freund.

Eine stumme Erinnerung.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 13.06.16, 14:50 
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Schnaufend kämpfte er sich die Leiter zum Dach hinauf, der sonst so mühelos erscheinende Aufstieg durch den in Schlinge gelegten Arm zur wahren Tortur verkommen. Die schweren Taschen und Beutel, prall gefüllt mit der Beute seiner letzten Jagd und den Erträgen des Feldes und der Haustiere, lasteten schwer auf der unverletzten Schulter, und zum ersten Mal seit jenem verregneten Abend zu Ende des 26ten Jahres fühlte er sich wieder schwach unter der Last.

Und das elendige Brennen in seinem Arm machte es nicht einfacher.

Trotz seiner Schmerzresistenz konnte er das Wasser darin fühlen, wie ein Fremdkörper, der sich durch seine Knochen, Muskeln und Sehnen fraß, ihn von innen her vergiftete. Die Kälte, das leichte Kribbeln der betäubenden Dosis an verdünntem Gift, waren beide einem verzehrenden Feuer aus Schmerz gewichen, das in seinem Inneren wütete.

Dennoch, es war die Aussicht wert, nicht auf Wochen hinweg von seinen Aufgaben abgehalten zu werden. Alleine die Vorstellung, anderthalb Monde lang nichts weiter zu sein als dieser erbärmliche Haufen, der sich gerade mühsam über die Kante der Dachluke quälte, erfüllte ihn mit Abscheu.

Es dauerte gut doppelt so lang wie noch am Vortag, die Felle in den entsprechenden Regalen auszubreiten, das Fleisch zum Trocknen auszulegen und die Federn in nach Größe sortierten Kistchen zu verstauen, doch am Ende der Arbeit hatte sich der Unmut in seinem Inneren wieder gelegt und sein Blick wanderte durch den kleinen Lagerraum.

Auch wenn es an ihm nagte, daß er das Sammeln des Holzes - aber auch die Bauarbeiten an der kleinen Hütte - vorerst einstellen mußte, so beruhigte ihn die Tatsache, daß er zumindest bis zu seinem Zusammentreffen mit den Trollen mehr denn doppelt so viele Stämme gesammelt hatte als vorgegeben. Weniger als erhofft, doch zumindest schien sein Lehrmeister nicht enttäuscht.

Ebenso sollten Fleisch und Leder vorerst einen kleinen Vorrat bilden, bis er wieder imstande war, mit seinem Jagdmesser durch das Unterholz zu pirschen - und zumindest hatte er so die Gelegenheit, sich vermehrt um das Feld sowie die Bäume und Büsche des Gebietes zu kümmern. Er war ungeübt im Umgang mit Pflanzen, also würde es ohnehin eine Weile dauern, bis er auch da die Vorräte zufriedenstellend aufgestockt hatte.

Leise schlicht er an dem schlafenden Alten vorbei, zur Tür hinaus und hinüber zu dem kleinen Verschlag, dessen "Dach" mittlerweile mit dicken Lagen Fell ausgelegt war. Heimelig war ein Wort, das er nicht unbedingt im Zusammenhang mit der schlichten Behausung benutzen würde, aber seit er endlich den bestialischen Gestank des Vorbesitzers losgeworden war, war sie durchaus zweckmäßig.

Der erste Gedanke, als er sich kniend auf seinem Schlafsack niederließ, galt seiner Schwester. Er wußte, welch Risiko es sein würde, in seinem jetzigen Zustand die Rückreise anzutreten, doch er mußte einen Weg finden, sie morgen zu kontaktieren. Wie so oft hatten sich die Ereignisse in den letzten Tagesläufen überschlagen, und er mußte sie über die neuen Entwicklungen auf dem Laufenden halten.

Der zweite dann richtete sich auf eine weitere Aufgabe, die ihm sein neuer Lehrmeister gestellt hatte. Folgsam kam er dieser nach, indem er Kopf und Oberkörper tief voran beugte, bis seine Stirn den Schlafsack berührte.

Und still versank er im Abendgebet.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 19.06.16, 11:53 
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Enttäuschung, Begeisterung, Zorn, Tatendrang, Frustration... und Schmerz.

Bittersüß lag der Geschmack der mannigfaltigen Emotionen noch auf seiner Zunge, als er in jener kleinen Höhle fernab der umkämpften Gebiete der Insel auf dem Boden kniete, die Stirn entgegen des brennenden Ziehens in seinem Rücken und an seiner Seite gegen den kühlen Stein gedrückt.

Demütig verharrte er so, und dennoch lag eine Spur von Stolz in jener Haltung verborgen, in den straff gespannten Rückenmuskeln, dem reglosen Verharren während seiner Gebete.

Wie so oft dankte er dem Herrn für die Prüfungen, die ihm zuteil geworden waren, doch anders als sonst erfüllte ihn der Gedanke mit einem leichten Anflug von Euphorie. Er würde weiterhin dulden und beharren, aber es war Zeit zu beginnen, die Prüfungen zu bestehen, anstatt sich bloß nach jedem Scheitern wieder aufzurappeln.

Doch nicht die Prüfungen waren der hervorgekehrte Inhalt seiner Gebete, sondern das inbrünstige Bitten darum, daß die Augen jener geöffnet werden würden, die vom gerechten Pfad abgekommen waren und nun auf Irrwegen wandelten. Er glaubte - WUSSTE - noch immer, daß nicht alle von ihnen bewußt den Weg in die Verderbnis gewählt hatten. Unschuldige Kinder, von falschen Worten eingehüllt und mit Gier an ihren dunklen Meister gebunden.

Lange verharrte er so, immer und immer wieder die Worte wiederholend, für die verlorenen Seelen betend - nicht anteilnahmslos und ergeben, sondern voller Hoffnung, voller Gewißheit, denn es war ein hehres Ziel.

Der Wille des Herrn der Gerechtigkeit.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 20.06.16, 16:16 
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Heftige, wilde, ungezügelte Schläge hallten durch die Stille des Waldes. Begleitet weder vom Zwitschern irgendwelcher Vögel, noch dem fernen Rufen sonstiger Tiere, denn selbst wenn zu dieser nachtschlafenden Zeit solche aktiv gewesen wären, die lauten Schreie hätten sie ohnehin längst vertrieben.

"ELF!" Die Axt mit beiden Händen umfaßt trieb er deren Schneide tief in den massiven Stamm der Eiche, bis sich die Wucht des Schlages durch seinen gesamten Körper ausgebreitet hatte und er selbst noch das Vibrieren in seinen Zehen spüren konnte.

"LÄUFE!" Mit einem heftigen Ruck, ungeachtet der Schmerzen - ja, Schmerzen, denn wie schon oft in den letzten Tagen schwand mit der Emotionslosigkeit auch seine Resistenz - riß er das Blatt der zum Werkzeug umfunktionierten Waffe wieder aus dem festen Holz hervor.

"UMSONST!" Und neuerlich wurde die Axt tief im Harz blutenden Stamm des Baumes vergraben, biß sich in das saftige, starke Eichenholz. Und genau dort blieb sie auch stecken, mit so viel Wucht hineingetrieben, daß sich das feste Material nun von beiden Seiten gegen das Blatt drückte.

"ARGGGGGGH!" Zornerfüllt stemmte er ein Bein gegen den Stamm, mit aller Kraft - und auch wenn man ihm diese oft auf den ersten Blick nicht anmerkte, die erbarmungslosen Monde hier auf der Insel hatten seine Muskulatur gestählt, sodaß er stundenlang in Vollplatte herumlaufen und dennoch nebenher noch den ein oder anderen Baumstamm tragen konnte.

Doch alle Bemühungen waren umsonst, die Axt steckte so tief im Stamm der Eiche, daß sich diese nicht einem Finger weit bewegen ließ, egal wie weiß seine Fingerknöchel beim Umklammern des Griffes anliefen, wie verkrampft sich seine Rückenmuskeln anspannten und wie schmerzhaft sich sein Bein gegen das unnachgiebige Holz drückte.

Mit vor Haß triefendem Blick stierte er das störrische Teil an, schnaubend und am ganzen Körper bebend. Er versuchte gar nicht erst, die Gefühle unter Kontrolle zu bringen, die Wut, den Zorn, den blanken Groll - gerichtet auf jene unsägliche Axt, schlicht weil es nichts und niemand anderes gab, worauf er sie richten konnte.

Er konnte sich schließlich schlecht selbst treten dafür, daß er versagt hatte.

Immer und immer wieder. Freilich, jedes Mal hatte er sich wieder aufgerappelt und es erneut versucht, doch hatte er nicht beschlossen, das Aufrappeln sein zu lassen und stattdessen zu beginnen, seine Prüfungen zu bestehen? Was für ein erbärml...

"Vertraust du mir?"

Obgleich er wußte, daß er die Stimme nicht wirklich hören konnte, daß sie nicht wirklich neben ihm stand, konnte er die Worte doch so klar vernehmen, als wären sie direkt an seinem Ohr gesprochen, nicht bloße Erinnerungen.

"Vertraust du mir?"

Oh ja, und wie er dies tat. Selbst in jenem Moment, als er ganz unten gewesen war, als sie ihm eine Aufgabe gestellt hatte, die scheinbar so sehr gegen all seine Fähigkeiten ging, daß sie hätte unmöglich sein sollen. Doch sie hatte noch nie etwas von ihm verlangt, das für ihn nicht erfüllbar gewesen wäre.

Fein!

Mit einen wuchtigen Ruck warf er sich mit der Schulter gegen den Baum, fast als erwarte er tatsächlich, der massive Stamm würde seinem zornigen Angriff weichen und so seine Axt wieder freigeben. Stattdessen erntete er nur eine weitere Schmerzexplosion, die sich kribbelnd von der Schulter über den gesamten Rücken und den betroffenen Arm ausbreitete.

Einen Schritt vor, zwei zurück. Bis er schließlich wieder ganz am Anfang stand. Gut. Dann mußte er eben dafür sorgen, daß er als nächstes drei Schritte nach vorne machte.

Schnaufend und bei jenen Gedanken doch nun ruhiger blickte er erneut auf die feststeckende Axt hinab, die Wut so schnell wieder am Abklingen, so plötzlich wie sie ursprünglich aufgetreten war. Langsam nur neigte sich sich sein Kopf dabei zur Seite, und ein nachdenklicher Ausdruck schummelte sich auf die verschwitzten Züge.

Während eine Hand vergeblich versuchte, das schweißnasse Haar nach hinten zu streichen, wanderte die andere an seinen Schwertgurt, um dort nach seinem Arbeitsdolch zu tasten. Langsam nur ging er in die Hocke, die blaß-grünen Augen aufmerksam auf den Spalt gerichtet, in welchem seine Axt feststeckte.

Er setzte die Klinge des Dolches sorgsam an, direkt oberhalb des metallenen Blattes, um vorsichtig etwas von der Baumrinde abzuschaben, ohne dabei Klinge und Klinge einander berühren zu lassen. Langsam nur würde er die Waffe so freilegen können, Schicht um Schicht in dieser langwierigen Bemühung, seinen Fehler wieder auszugleichen.

Beharrlich.

Stur.

Seine wichtigste Fähigkeit und seine größte Schwäche.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 24.06.16, 10:17 
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Langsam, behutsam glitt die scharfe Klinge über das schlohweiße Haar, durchtrennte jenes knapp über dem Ansatz und ließ einen kleinen Vorhang aus lockigem Flaum zu Boden rieseln. Ein leises Schnauben, doch keine Bewegung ging von dem untersetzten Körper aus, als sich das Messer neuerlich einem Büschel Haare näherte.

Er hatte einen Arm um das Schaf gelegt, mit sanftem Druck hielt er es gleichermaßen fest, wie er ihm auch Nähe und Sicherheit vermittelte. Mittlerweile hatten die Bewegungen nichts mehr gemein mit den eher hilflosen Versuchen der ersten Tage hier in der Zweisiedelei, als sich sein Wissen noch auf Pferde und Hunde beschränkt hatte.

Vertrauensvoll ließ das lockige Tier mittlerweile die Schur an sich verrichten, und in recht rascher Abfolge erfolgten die einzelnen Arbeitsschritte inzwischen, während sich in seinem Schoß und um seine Knie herum Büschel um Büschel aus weißer Wolle sammelte.

Doch die Abläufe gingen ihm nur noch automatisch von der Hand, denn viel zu weit waren seine Gedanken vom Hier und Jetzt entfernt, als daß er wie sonst die Schlichtheit und Ehrlichkeit der Arbeit genießen konnte. Zu schwer lastete die Unsicherheit auf seinen Schultern.

Die Worte des Briefes, welchen er an Rodriks Lagerstätte im Turm hinterlassen hatte, hallten in seinem Geist wider, als bedurfte es der schriftlichen Aufzeichnung jener, um sie für ihn Realität werden zu lassen. "Ich werde mir eine Unterkunft in Brandenstein nehmen, um den Schutz meines ungeborenen Kindes gewährleisten zu können," wiederholte er sie nun auch laut, begleitet vom neuerlichen Aufschnauben des Schafes.

Es hatte nicht der Bestätigung am gestrigen Tage bedurft, um ihm Gewißheit zu geben, daß jenes Kind unter ihrem Herzen ruhte. Wie oft hatte er es gefühlt, hatte selbst noch durch den Stoff ihrer Kleidung und das Leder seiner Handschuhe das Leben dort gespürt, und es im Gegenzug wissen lassen, daß sein Vater bei ihm war?

Und dennoch, ihre Worte waren nicht spurlos an ihm vorüber gegangen, denn nun da auch alle anderen die Bestätigung hatten...

Unzufrieden drängte der schwarze Artgenosse des Schafs gegen seine Schulter, als er wohl lange Zeit nur reglos verharrte, den Gedanken weder zu Ende zu denken noch gänzlich loszulassen wagte.

Er hatte der Mutter gestern offenbart, daß er nicht gewillt war, diesen Kampf auszutragen, während es noch in ihrem schützenden Schoße ruhte. Er würde nicht riskieren, daß es noch im Mutterleib von Mächten auseinandergerissen wurde, die weit über das Vorstellungsvermögen eines einfachen Menschen hinaus gingen.

Lieber überließe er es für eine Weile den zerstörerischen Einflüssen, die mit ihm darum buhlten, als mitanzusehen, wie dieses zarte Flämmchen durch den Kampf darum zum Erlischen gebracht wurde.

"Hast du kein Vertrauen in dein eigenes Kind? Gestehst du ihm nicht die Kraft zu, sich selbst gegen alle Einflüsse zu behaupten und letztendlich den richtigen Weg zu wählen?"

Erst jetzt, gefühlt ein Leben und mehr nachdem seine Schwester jene Worte gesprochen hatte, wurde er sich endlich der ganzen Tragweite bewußt. Er würde für das kleine Leben da sein, ihm beistehen und versuchen, jeglichen Schaden von ihm abzuwenden - aber den Kampf um seine Seele, den konnte es nur selbst führen.

Es war schwer zu akzeptieren - wie er seinem elfischen Freund offenbart hatte, er war ein Beschützer, war schon immer ein Beschützer gewesen. Die Vorstellung, es hilf- und schutzlos dem schädlichen Wirken anderer zu überlassen, drohte sein Inneres in flüssigem Feuer vergehen zu lassen. Doch nichts weiter würde er tun können, als da zu sein, es weiter spüren zu lassen, daß es einen Vater hatte, der immer für es sorgen würde.

Mit einem sachten Klaps auf die Hinterläufe entließ er das Schaf aus seinem Griff und machte sich daran, die Wollen einzusammeln, und trotz der düsteren Gedanken zeichnete sich kaum merklich der Hauch eines Lächelns auf den geschwungenen Lippen ab bei der Vorstellung, wie er sein Kind einst lehren würde, diese schlichte Arbeit zu verrichten.

Ehrliche, demütige Arbeit.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 27.06.16, 14:55 
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Das Kurzschwert in seiner Hand war rostig und verbeult, völlig ungeeignet für den Kampf - doch wie so vieles im Leben, was für manche nichts weiter war als unnützer Abfall, stellte sich für andere als brauchbares Werkzeug dar. Es war schlicht nicht von Bedeutung, daß die Klinge verbogen und gewellt war, als sie durch die gelben Halme des Getreidefeldes glitt, die prallen Ähren mit fließenden Bewegungen vom Rest der Pflanze trennte.

Es war beinahe eine Flucht gewesen, als er am gestrigen Tage mit seinem elfischen Freund die Stadt verlassen hatte.

So sehr er sich auch darum bemühte, den Worten seiner Schwester - nein, eigentlich den Worten eines jeden Menschen, Elfen und Zwerges, mit denen er in den letzten Wochen gesprochen hatte - Folge zu leisten und seine Gefühle nicht weiter zu unterdrücken, so sehr war ihm bewußt gewesen, daß der brodelnde Zorn in jenem Augenblick keinem höheren Zwecke gedient hätte.

Er hatte ihr verboten, sich dem Dämon entgegen zu stellen, und sie hatte gehorcht. Und doch war da dieses brennende Gefühl in seinem Inneren gewesen, diese alles verzehrende Wut über ihr dummes Verhalten. Wie hatte sie es WAGEN können, sein Kind derart in Gefahr bringen zu wollen?

Stinkers Bellen riß ihn aus seinen Gedanken.

Die zum Werkzeug umfunktionierte Waffe in der Hand, richtete er sich auf, und sein Blick fiel auf die Gestalt drüben am Lagerplatz. Ein junger Mann, kräftig von der Statur her doch ein wenig abgehetzt, stand dort am Feuer und ließ den Blick über die Umgebung schweifen.

"Herr Collnaid?"

Er wollte dazu ansetzen, dem Fremden zu erklären, daß Meister Rodrik im Moment nicht zugegen sei, daß er sich aber gerne ans Feuer setzen und sich vom Inhalt des Kochtopfes bedienen könne, um auf ihn zu warten. Der Blick fiel jedoch auf das Schreiben in den Händen des Boten, und jede Höflichkeit wich einer düsteren Vorahnung, als er ihm jenes einfach ungefragt abnahm und die Siegel brach.

Kreidebleich war sein Gesicht für einige Momente, als er die Worte des Briefes überflog, doch dann flammte er wieder gnadenlos in seinem Inneren hoch, dieser unbändige Zorn, der alles zu verschlingen drohte. Blanke, pure Wut, die danach schrie, in Bahnen gelenkt zu werden, ehe sie ihn von innen her zerreißen konnte.

Die Veränderung im Gebaren des sonst so sanften Mannes mußten wohl deutlich sichtbar gewesen sein, denn der Bote trat langsam mehrere Schritte zurück, ohne den Blick vom Empfänger der Nachricht zu nehmen - wie man sich vor einem wilden Tier zurückzieht, welches jeden Moment zum Sprung ansetzen kann.

"Wir werden nun..." Seine Worte aber waren betont ruhig gesprochen, denn er würde sich nicht der Ungerechtigkeit hingeben, den Überbringer einer schlechter Botschaft seinem Zorn auszusetzen. "... gemeinsam die Miene durchqueren. Du wirst NICHT zum Verfasser der Nachricht zurückkehren, sondern bis zum Ende des letzten Zyklus verschiedene Orte der Insel aufsuchen. Solltest du verfolgt werden, wirst du den Aufenthaltsort unter keinen Umständen preisgeben. Tust du es doch..."

Das rostige Kurzschwert wurde achtlos zur Seite geworfen und stattdessen die wuchtige, gut gepflegte Klinge in die Hand genommen, welche ihm stets gute Dienste im Kampf gegen Bestien und Piraten diente.

"... finde ich dich."

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 29.06.16, 17:43 
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Myriaden kleiner Explosionen flammten hinter seiner Stirn auf. Jeder unstete, flüchtige
Gedanke begleitet von einem schmerzhaften Stich, welcher sich durch seine Augen hindurch bis zum Hinterkopf zu ziehen schien. Kleine, weiße Lichtpunkte tanzten dazu wild über das Innere seiner Lider.

"Mh..." Unter dem leisen Aufstöhnen öffnete er die Augen wieder und richtete diese auf die weißlich-trübe Flüssigkeit zu seinen Füßen. Zweimal acht Zyklen hatten die Häute darin nun ausgeharrt, um nun bereit zu sein für die nächsten Schritte - doch die sich überschlagenden Gedanken und der SCHMERZ in seinem Kopf lähmten seinen Körper.

Unzählige Zyklen war er nach Erhalt des Briefes quer über die Insel gehetzt, nur um schließlich am vereinbarten Treffpunkt beinahe alles zu verlieren. Er hatte den einzigen Ausweg gewählt, der sich ihm in jener Situation noch offenbart hatte, und obschon sich die Situation für den Moment wieder beruhigt hatte, wußte er, daß dies nur eine temporäre Lösung war - vermutlich war diese just in diesem Moment erneut am Zusammenstürzen, ganz so wie jede einzelne davor.

Die Gedanken donnerten mit ungebremster Wucht gegen die Innenseite seines Schädels, und neuerlich erstrahlten unzählige kleiner Sterne vor seinem Blick.

Langsam, vorsichtig zog er das erste Stück Tierhaut aus der Kalkmilch und löschte dieses mit einem Eimer Wasser, bis der vollgesogene Fetzen nur noch klares, reines Wasser tropfte. Die Bewegungsabläufe waren mechanisch, mehr von seinen Erfahrungen im Gerben getrieben denn durch bewußte Gedanken.

Denn jene waren nun darauf gerichtet, was in den letzten Zyklen geschehen war. Nichtig und klein wirkten seine Probleme mit der Mutter seines Kindes nun, da seine Verstand zu begreifen versuchte, daß die Insel gerade am Auseinanderbrechen war. Was würde aus dem feinen, instabilen Gebilde werden, das sich seit den Tagen des Dunkeltiefs aufgebaut hatte, nun da mit dem Friedensvertrag der größte Stützpfeiler entfernt war?

Welche neue Allianzen würden sich bilden? Welche Seiten einander zähneknirschend akzeptieren? Und zwischen welchen Parteien würde nun unerbittlich Krieg ausbrechen?

Unter einem neuerlichen, kopfschmerzbedingten Aufstöhnen zog er das Fell auf links gedreht über einen der Baumstämme, die er nach seiner Rückkehr aus dem Wald von Rinde und Ästen befreit hatte, und griff nach der großen, nach innen gebogenen Klinge. Die Bewegungen, mit welchen er die letzten Reste von Fleisch und Fett von der Unterseite des Leders zu lösen begann, hatten beinahe schon etwas Meditatives an sich, und seufzend ließ er sich in die regelmäßigen Bewegungsabläufe fallen.

Vertrauen.

Gleichmäßig paßte er seinen Atem den Bewegungen an, nahm beim Zurücklehnen tief Luft in seine Lungen auf, um sie dann beim Vorbeugen wieder langsam und bewußt zwischen seinen Lippen hervorfließen zu lassen. Schicht um Schicht wurde die Tierhaut so von den Verunreinigungen an der Unterseite befreit.

Vertrauen.

Er zog die Haut wieder vom Baumstamm ab, untersuchte beide Seiten auf ungewollte Rückstände, und behandelte die Blöße dann neuerlich mit Wasser.

Vertrauen.

Gleichmäßig schichtete er die vorbehandelte Tierhaut auf, um sie für den darauffolgenden Schritt bereitzuhalten, und das nächste Stück wurde aus der milchigen Flüssigkeit geholt, in welcher sich die Haare des Fells aus der Haut gelöst hatten. Ruhig wiederholte er die Bewegungsabläufe.

Vertrauen.

Ein kleines Lächeln begann seine Lippen zu umspielen, als er in der schlichten Tätigkeit seine gewohnte Ruhe wiederfand, vor allem aber in dem Wissen, daß sich alles so fügen würde, wie es vorherbestimmt war. Ihre Worte, ihre Taten, gelenkt von jener unerschütterlichen Macht, von Gerechtigkeit und Stärke.

Vertrauen.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 3.07.16, 15:09 
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Mit einem kräftigen Ruck bohrte sich die stumpfe Metallplatte neuerlich in das feuchte Gras, durchtrennte gnadenlos Halm um Halm, um schließlich tief ins aufgeweichte Erdreich getrieben zu werden. Dann neigte sich das Schaufelblatt, als am anderen Ende des Hebels eine kräftige Hand dagegen drückte und einen durch Druck und kleine Wurzeln locker zusammengehaltenen Erdblock zu Tage förderte.

Früher hatte er solche Arbeiten bewußt durchgeführt, seinen Geist mit stiller Kontemplation oder einem kleinen Gebet gefüllt, doch das Gros der Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit an sich gelenkt. In den letzten Wochenläufen hingegen, mit jedem verstrichenen Tageslauf stets mehr und mehr, waren seine Gedanken aber erfüllt von einem Chaos aus Empfindungen, Bildern, teils viel zu hektischen Gedanken.

So wie der Schmerz im Moment, der nichts mit den körperlichen Wunden zu tun hatte, die der gestrige Übungskampf bei ihm hinterlassen hatte.

Es war auch nicht der leblose Körper, der neben ihm auf den regennassen Boden gebettet war, der den Schmerz auslöste. Da war eine unterschwellige Empfindung von Bedauern, denn auch wenn die Tiere nur ein loser Haufen von wilden Streunern waren, so waren sie doch im weitesten Sinne des Wortes Teil eines Rudels, mit dem Roten Hund als ihrem Anführer.

Aber das eigentliche Gefühl von Verlust, das sein Herz siedend heiß durchflutete und es von innen heraus zu zerreißen drohte, hatte seine Quelle tiefer in ihm vergraben, nicht im Pochen seines Herzens, sondern direkt in seiner Seele. Nun, da er endlich beschlossen hatte, seine Gefühle zuzulassen, da er zum ersten Mal in seinem Leben innige, bedingungslose Liebe zu einem Menschen zugelassen hatte, da wurde ihm dieser entrissen, noch ehe er überhaupt je das Licht Felas zu Gesicht bekommen hatte.

Kraftlos sackte er neben dem halb ausgehobenen Loch in die Knie.

Er war ihrem Rat gefolgt, hatte sich in den letzten Tagesläufen immer wieder vorgesagt, daß sein Kind in Sicherheit war, daß es leben würde und daß dies im Moment keine Trauer, sondern Freude in ihm auslösen sollte. Und tatsächlich, immer wieder hatte er sich selbst dabei erwischt, wie sich ein Lächeln auf seinen Zügen ausgebreitet hatte - nicht das steife, angedeutete Hochziehen der Mundwinkel, sondern ein natürliches, ehrliches Lächeln, das sich so fremd und doch so passend anfühlte.

Doch die Worte am Brett der Kirche zu lesen, höchst offiziell und ohne einlullendes Schmuckwerk, hatte das Ganze unerbittlich in sich zusammenfallen lassen. Die kindlich-naiven, und doch so liebgewonnenen Bilder waren mit unerbittlicher Vehemenz zurückgekehrt in seine Gedanken. Wie er mit seinem Kind im Arm auf dem Dach der kleinen Hütte sitzen würde, um den arbeitsreichen Tag ausklingen zu lassen. Wie er dem kleinen Wesen den fürsorglichen Umgang mit den Tieren beibringen würde, diese schlichte und dabei so aufrechte Arbeit, mit der er selbst aufgewachsen war. Wie er das Kleine mitnehmen würde zur Feldarbeit, um ihn ein Leben in Demut und Genügsamkeit zu lehren.

All das würde nie geschehen, denn ein anderer würde sein Kind großziehen.

Unter einem leisen, gequälten Aufschrei krümmte er sich noch vorne, und das ungewohnte Naß von salzigen Tränen begann helle Linien auf die erdig verkrusteten Wangen zu zeichnen, sich seinen Weg hinab zu bahnen und schließlich im frisch ausgehobenen Erdreich unter ihm zu versickern. Zyklen, Tagesläufe, Monde... bis ans Ende der Zeit kniete er nur über dem kleinen Grab und ließ den Gefühlen freien Lauf, weinte den Schmerz aus sich hinaus, bis nur noch trockenes Schluchzen übrig blieb, welches wiederum irgendwann ebenso kraftlos verstummte.

Sie hatte Recht gehabt - wie immer.

Er war viel zu sehr gefangen in Gedanken über die Zukunft, sah deutlich seinen zukünftigen Platz im großen Ganzen, vielleicht auch noch seinen erbärmlichen Platz in der Vergangenheit, doch niemals seinen Platz im Hier und Jetzt. Wie oft nun war er schon genau daran gescheitert?

An den Gedanken, wie es sein würde, wenn seine Ausbildung abgeschlossen war - ohne sich darauf zu konzentrieren, wo er im Moment stand und was er zu tun hatte. An der Vorstellung, wie er jene in Sicherheit wissen würde, die er schützen wollte - ohne darauf zu achten, wie sehr seine jetzigen Handlungen diesem Ziel zuwider liefen. Und eben an den Bildern, wie er sein Kind großziehen und umhegen würde - ohne darüber nachzudenken, was im Moment dessen Überleben und Gedeihen wirklich sichern konnte.

Schwankend richtetet er sich wieder auf und griff neuerlich nach der Schaufel, um mit kraftlosen und doch beharrlichen Bewegungen weiter das Loch im Boden auszuheben, bis jenes tief genug war, um den kleine Streuner darin sicher zu verscharren. Der reglose Körper fühlte sich so fürchterlich zerbrechlich unter seinen Händen an, als er diesen behutsam anhob, als würde der alte Hund lediglich in einem tiefen Schlaf verharren. Mit ruhigen, sachten Bewegungen ließ er das Fellbündel in seine letzte Ruhestätte hinab.

"Es ist der beste Weg für das Kind. Hör auf, ihm im Wege zu stehen," wiederholte er leise ihre Worte, während seine Hände erneut den Griff des Werkzeuges umschlossen. Und mit jeder Schaufel voll Erde, die er auf den stillen Körper hinabregnen ließ, begrub er auch einen Teil des Schmerzes und der Zweifel - denn nachdem auch die letzte der Demut zuwiderlaufende Träne vergossen war, war erneut Platz in seinem Herzen, und er wußte, womit er diesen füllen mußte.

Vertrauen - in sie, in Ihn, in sein Kind.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 11.07.16, 11:29 
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"Rhidian, nein."

Die Worte waren mit stoischer Ruhe und doch fester Stimme gesprochen, so wie auch die unzähligen Male davor, und mittlerweile zeigten sie zumindest für einige Momente den gewünschten Effekt. Die kleinen, aber spitzen Zähnchen lösten sich von der ledrigen Oberfläche des Balles und der dazugehörige Kopf hob sich ein Stück an, um sich in Richtung der Stimme zu wenden.

Deren Besitzer hatte sich auf dem schlichten Feldbett niedergelassen, und mit unermüdlicher Beharrlichkeit arbeiteten dessen Finger daran, ein Büschel Stroh vorsichtig in eine Form zu bringen. Wie lange war es nun her, seit er zuletzt eine dieser Figuren gefertigt hatte, damals noch in den Stallungen der Burg Eichwehr, in den wenigen stillen Momenten, die ihm zwischen der Arbeit und der harschen Zuwendung der anderen Kinder geblieben war?

Damals hatte er sie zum Trost gefertigt.

Heute bedurfte er dessen nicht, denn er hatte versprochen, das Andenken seines Sohnes mit keiner weiteren Träne mehr zu beflecken. Es gab keinen Grund zu trauern, die Erinnerung an Evan würde ihn von nun an lediglich mit Stolz und mit Freude erfüllen, mit Dankbarkeit für die Ehre, sein Vater gewesen sein zu dürfen. Ein wohliges Kribbeln durchlief ihn, als er sich der Worte erinnerte, die er beim Abschied hatte für ihn sprechen dürfen.

Nein, diese Figur war nicht zum Trost, sie war ein letztes Geschenk an seinen Sohn, auch wenn er es diesem niemals überreichen können würde.

"Rhidian," sprach er streng, ohne den Blick von der langsam Gestalt annehmenden Figur zu lösen, als er aus den Augenwinkeln des Treibens des kleinen Welpen gewahr wurde. "Nein."

Er ignorierte das unzufriedene Fiepen des kleinen Wesens neben sich und vollendete seine Arbeit, indem er der Strohfigur eine schmucklose, braune Tunika überwarf und jene sorgsam um die Mitte herum festband. Es war ein schlichtes Püppchen, gefertigt aus schlichten Materialen und von Händen, die solche Arbeiten nicht gewohnt waren - und dennoch zeichnete sich deutlich ein Lächeln auf den trockenen Lippen ab.

Sachte lehnte er die kleine Figur am Kopfende des Feldbettes in jene Ecke, an welcher die beiden Wände des Holzverschlages zusammentrafen, und wandte sich dann wieder dem kleinen Fellbündel zu. Jenes war eben damit beschäftigt, beide Vorderpfoten gegen den Ball zu stemmen in dem Versuch, das runde Etwas zu erklimmen - ein ambitioniertes Unterfangen für ein Wesen, das sich kaum gerade auf den eigenen vier Pfoten halten konnte.

Die Nacht zusammengerollt auf einem schlichten Fell draußen vor der Hundehütte, umgeben von den restlichen Hunden des Rudels, hatte alte Erinnerungen hervorgeholt - der Grund wohl dafür, daß er den Wunsch verspürt hatte, eine der Strohfiguren zu fertigen. Fräulein Weidenbachs Besuch hatte ihm einige neue Denkansätze eingebracht, letztendlich aber vor allem diese Gelegenheit, nach all den Läufen wieder neben - teils auch unter - den schlafenden Körpern eines Rudels zu schlafen.

Und das Lächeln wurde breiter, als er an das andere Rudel dachte, an welchem er teilhaben durfte.

Wo jeder seinen Platz kannte und akzeptierte.

Wo unbedingtes Vertrauen herrschte.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 19.07.16, 09:05 
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Eine Strafe. Nichts weiter als eine Strafe. Wie konnte er das Kleinod auch nur einen Moment lang als etwas anderes ansehen als eine Strafe?

"Ungewöhnliche Anforderung," dröhnte die tiefe Stimme des Dwarschim Händlers durch seine Gedanken, und rasch hob er den Blick wieder an. Während er seinen düsteren Gedanken nachgehangen und sich selbst einzureden versucht hatte, daß er beim Anblick des Schmuckstückes nur Schmerz und Reue empfinden dürfte, hatte der Zwerg jenes mehrmals in seinen klobigen Händen gedreht und gewendet.

Nun war der Blick der dunklen Augen auf das Innere des Medaillons gerichtet - auf die beiden leeren Flächen, die dazu gedacht waren mit jenem gefüllt zu werden, an das man sich auf ewig erinnern wollte.

"Mh... inwiefern?" Auch er richtete den Blick wieder auf den teuren Anhänger. Er hatte darum gebeten, den schlichtesten von allen gezeigt zu bekommen, aber Guzle Purbier war noch nie dafür bekannt gewesen, "schlichte" Waren zu verkaufen. Entsprechend war das Kleinod für seinen Geschmack bei Weitem zu filigran verziert ausgefallen, und alle Versuche, eines aus schlichtem Eisen zu ergattern, waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.

"Na, im Normalfall kommen da Bilder rein. Zeichnungen von der Liebsten. Vielleicht auch mal eine ihrer Locken. Aber gravierte Metallplättchen, das ist mir neu."

"Stellt dies ein Problem dar?"

"Problem?" Der Dwarschim schnalzte unzufrieden mit der Zunge, und seinen Kunden überkam das unbestimmte Gefühl, daß er mit dieser Frage gerade den Preis des Schmuckstücks eine weitere Spur in die Höhe getrieben hatte. "Selbst wenn du da eine Miniatur-Statue deiner Liebsten hinein haben wollen würdest, fände sich ein Bruder, der das machen könnte. Sag ja nur, ist ungewöhnlich."

Ein weiteres Mal wurde das Medaillon in der Hand des Zwergen gedreht, ehe es jener unter der Verkaufstheke verschwinden ließ. "Wofür stehen die Buchstaben überhaupt - die Initialen der zukünftigen Frau Zweifel-am-Dwarschim-Handwerk?"

"Die Initialen meines Sohnes."

"Fein, fein. Ein Geschenk an den jungen Mann?"

Eine Strafe. Es war eine Strafe. Und es sollte sich wie eine anfühlen, aber dennoch spürte er ein kleines Lächeln über seine Lippen huschen, mit einem Hauch von süßer Melancholie, die so ganz und gar nicht dem entsprach, was er empfinden sollte.

"Eine Erinnerung an ihn."

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 1.08.16, 11:30 
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Das weiche Fell, durch welches seine Finger sachte glitten, war seinem eigenen Haupthaar nicht ganz unähnlich - wild und ungebändigt, von schwungvollen Wirbeln geprägt, die aufgrund der geringen Länge des Schopfes dazu führten, daß die Strähnen nicht flach am Kopf aufliegen konnten. Nun fehlte nur noch die satte, dunkelrote Färbung, und er hätte eine kleine Version von sich selbst auf der Brust liegen gehabt.

Das kleine Fellbündel quittierte das auf die Gedanken folgende Lächeln mit der zarten Welpenversion eines fröhlichen Kläffens, wand sich unter der kraulenden Hand hinweg und machte sich daran, die leicht aufgesprungenen Lippen und die angrenzende Nase mit der feuchten Zuwendung seiner pinken, rauhen Zunge zu beglücken.

Inzwischen kam das Lachen ganz natürlich. Ein dunkler, klarer Ton, welcher durch den massiven Brustkorb vibrierte und die kleine Gestalt darauf entsprechend zum Tanzen brachte.

"Rhian... Schluß jetzt!" Lachend schubste er das kleine Köpfchen zur Seite, nur um daraufhin eine freche Attacke gegen seine Hand in Kauf nehmen zu müssen. Die ersten Zähne seines kleinen Schützlings waren noch messerscharf, und doch konnten sie nicht darüber hinwegtäuschen, wie unbeholfen er in seinen gespielten Angriffen noch war.

Rhidian war in den letzten Wochenläufen von einem ausgehungerten Häufchen Haut und Knochen zu einem lebensfrohen und quietschlebendigen Welpen herangewachsen, und doch war er noch immer so fürchterlich verletzlich und abhängig. Auch darin waren sie sich wohl ähnlich, auch wenn er selbst sich nun endgültig von seinem eigenen Welpendasein lösen mußte.

Nicht nur, weil er nun selbst Verantwortung zu tragen hatte und die Ereignisse der letzten Tagesläufe dafür gesorgt hatten, daß er nicht länger einfach nur Rodriks Schüler sein konnte...

"Das werde ich," hatte sie auf seine Bitte geantwortet. Sie war sich wohl sicher, daß er diese Bitte bereuen würde. Er hingegen war sich sicher, daß dem nicht so sein würde. Er konnte nicht ewig ein Welpe bleiben, und auch wenn ihn die neue Distanz schmerzte, mit der die anderen Mitglieder des Rudels ihn nun aufgrund seines neuen Platzes bedachten, er würde nicht einknicken und sie mit falscher Zurückhaltung schwächen. Das war er ihnen schuldig.

Der erste Schritt aus seinem Welpendasein war nun getan, der zweite lag aber noch schmerzlich vor ihm. Er würde sich von seiner Vergangenheit lösen müssen - nicht den Erinnerungen, nicht den Lehren, die er daraus ziehen konnte. Die Sehnsucht aber mußte weichen, ebenso wie die Schuldgefühle und die falschen Vorstellungen, die man ihm in jenen Tagen eingepflanzt hatte.

Das kleine Lächeln, als er an die Worte Tendarions am gestrigen Tag zurückdachte, konnte er sich ob dieses Vorhabens nicht verkneifen, hatte der Elf doch nur allzu recht gehabt.

"Rhian, Hopp!" Mit einem sachten Stubser schob er seinen kleinen Schützling von sich herunter und rappelte sich wieder auf, gefühlt den halben Wald dabei von seiner Kleidung abschüttelnd. Kurz nur protestierte der Welpe, doch kaum hatte es sich sein Ziehvater erneut auf dem liegenden Baumstamm bequem gemacht, war das Fellknäuel auch schon wieder mit einem Satz auf dessen Schoß, um neugierig das Hadernblatt darauf zu beschnuppern.

"Rhidian... nein," mahnte er streng, während er die Feder zur Hand nahm und das am Vorabend begonnene Schreiben fortsetzte.

Zitat:
Liebe Mutter,

Lange ist es her, seit meine Dukatensendungen zuletzt von einem Brief begleitet worden sind, hielten mich Scham und Unsicherheit doch davon ab, dir vom Fortschritt meiner Ausbildung zu berichten. Wenn ich mich recht erinnere, so waren meine letzten Worte aus Kadamark an dich gerichtet, als ich vor vielen Monden dort mit meiner Schwester verweilte.

Viel ist seither geschehen, und obgleich ich mir sicher bin, daß du jenen Ereignissen nicht viel Positives abringen können würdest, so wisse, daß es deinem Sohn gut geht und er nach tiefen Rückschlägen und vernichtenden Urteilen seinen Weg wieder gefunden hat und nun langsam lernt, diesen auch ohne Zurückhaltung zu beschreiten.

Auch hatte ich in den letzten Wochenläufen viel Zeit zur Kontemplation, was unsere gemeinsame Zeit betrifft. Wenn schon nicht mein Werdegang, so mag dich vielleicht zumindest die Tatsache erfreuen, daß Vater einem Irrtum unterlegen war als er behauptete, ich sei nicht mit einer Seele ausgestattet.

Anfangs war es nicht einfach, mit all den neuen Emotionen umzugehen, welche mit jener Einsicht einher gingen, doch mittlerweile denke ich, zu mir gefunden zu haben und die Gefühle in ausreichendem Maße beherrschen zu können. Sicherlich erfüllt es dich mit Erleichterung zu hören, daß auch meine Wutausbrüche sich entsprechend auf ein Minimum beschränken und dann zumeist in geordnete Bahnen gelenkt werden können.

Allerdings brachten mich diverse Gespräche und auch Meditationen dazu, mich einem weiteren Thema erneut zu widmen. Es stand nie außer Frage, daß die Zerstörung unserer Familie nur infolge von Verrat hat stattfinden können, und dir ist sicherlich bekannt, welchen Stellenwert die Konzepte von Loyalität und Verrat in meinem Leben einnehmen.

Von daher komme ich nicht umhin, die


Die Feder hielt inne, und mit einem unzufriedenen Schnauben starrte er einige Momente lang auf das Geschriebene herab. So viele nichtige, unbedeutende Worte, so ganz und gar konträr zu seinem Vorhaben, die Vergangenheit loszulassen.

Erschrocken fiepend machte der Welpe einen Satz zur Seite, als das Hadernblatt mit ein paar weit ausholenden Bewegungen mehrfach zerteilt wurde, um schließlich sein Ende in den Flammen des Lagerfeuers zu finden. Das leise Knistern, als der unvollendete Brief im gierigen Züngeln verging, hatte etwas ungemein Befreiendes an sich.

Rasch zog er ein weiteres Blatt in seinen Schoß, um eine bedeutend prägnantere Version des Schreibens aufzusetzen.

Zitat:
Liebe Mutter,

Ich vergebe dir. Der Rest liegt einzig in Seinem Ermessen.


Zufriedenheit breitete sich in seinem Inneren aus, ein wohlig frisches Gefühl, welches sich in einem neuerlichen Lächeln auf den blassen Zügen äußerte. Seine Hand wanderte behutsam über die wenigen Worte, begleitet von einem zufriedenen Nicken - ein perfektes Schreiben.

Und ohne zu zögern übergab er es ebenso den Flammen.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 22.08.16, 10:43 
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Mit unnachgiebiger Vehemenz wurde die Luft aus seinen Lungen gepreßt, gierig schnappte er nach den letzten Resten, als sich schmerzhaft immer wieder etwas zwischen seine Rippen hindurch bohrte. Seine Augen waren ihm keine Hilfe, verzerrt und verschwommen nur offenbarten sie ihm die schemenhaften Umrisse, welche auf seiner Brust umhertanzten.

"Mh!" Seine Arme waren schwer wie Blei, unfähig, dem wilden Treiben auf seinem Oberkörper Einhalt zu gebieten. Die Schemen... Hände? Wieder und wieder drückten sie sich in die vernarbte Haut, und neuerlich rang er unter einem schmerzerfüllten Aufzischen nach Luft.

Hände. Vertrocknete, mumifizierte, sechsfingrige Hände.

Es war diese Surrealität, die ihn der Tatsache gewahr werden ließ, daß er neuerlich in einem Traum gefangen war. Nur ein weiterer Alpdruck, ein Ringen seines Verstandes mit den mannigfaltigen Eindrücken der letzten Wochenläufe, ausgelöst wohl durch die emotionale Berg- und Talfahrt des gestrigen Tageslaufes.

Ein knapper, doch umso kräftigerer Willensschub, und als er die Augen wieder öffnete, war es die Realität, welche ihn im Halbdunkel des Dunkelzyklus umfing. Keine körperlosen Hände waren es, welche sich schmerzhaft zwischen seine Rippen drückten, sondern vier durchaus noch mit einem Körper verbundene Pfoten.

"Rhian!" Murrend hob er die Hände an, um das Fellknäuel von seiner Brust zu schieben, sachte aber doch bestimmt. Der Welpe hatte mittlerweile eine stattliche Größe erreicht, schwer genug, daß sein verspieltes Herumtänzeln auf dem Brustkorb seines Ziehvaters tatsächlich inzwischen schmerzlich die Luft aus dessen Lungen pressen konnte.

Reumütig kuschelt sich der Mischling an seine Seite - und die vertraute Berührung ließ die Emotionen wieder in ihm aufsteigen. Sein Arm legte sich sachte um den kleinen Körper an seiner Seite, und die noch vom Schlaf gezeichneten Augen starrten zur Decke empor - wie im Traum boten sie ihm nur verschwommene Bilder, geschuldet jedoch einzig der salzigen Flüssigkeit, welche still aus den Winkeln hervortrat und an den Seiten hinablief.

Die Geschehnisse des Nachmittages hatten ihn nicht mitgenommen. Er hatte getan, was notwendig gewesen war, nicht mehr und nicht weniger. Er verspürte weder Reue, noch Schuldgefühle, denn er hatte alles in seiner Macht stehende getan, um so respektvoll wie möglich vorzugehen. Vielleicht respektvoller gar, als es in jenem Moment angebracht gewesen wäre.

Was seine Gefühle stattdessen gefangen hielt war die unerwartete Begegnung in den frühen Nachtzyklen. Ein Teil seines Lebens, mit welchem er versucht hatte abzuschließen, dessen unrühmliches Ende er jedoch nie wirklich hatte akzeptieren können. Er hatte sich gestern offen der Wahrheit gestellt, daß seine gelegentlichen Lieferungen keineswegs bloße Pflichterfüllung gewesen waren, sondern ein gewollter Vorwand.

Und tatsächlich, kaum daß er sich der Wahrheit geöffnet hatte, war er mit einer Aussprache belohnt worden, ein Gespräch, welches so viel von dem aufgewühlt hatte, das er tief unter den körperlichen Arbeiten der letzten Wochenläufe vergraben hatte. Ein Gespräch, das ihm eine gewisse Verletzlichkeit aufgezeigt hatte - und doch auch gleichzeitig seine Entschlossenheit wachgerufen hatte, diese nicht zu bekämpfen, sondern eine Stärke daraus zu machen.

Dennoch, ohne den Fluß an Tränen in irgendeiner Weise zu unterbrechen, versuchte er sich selbst darüber klar zu werden: belohnt, oder doch eher gepeinigt?

Wohl je nach Standpunkt.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 23.08.16, 10:55 
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Mit stoischer Genauigkeit tauchte er die Hände zum wiederholten Male in den Wassereimer, um selbst noch die letzten Reste von Blut, Wundsekret und verklebten Heiltrankschlieren von der schwieligen Haut zu lösen. Auch die Fingernägel wurden akribisch auf Wund- und Schmutzreste geprüft, ehe er sich endlich ausreichend von den Überbleibseln eines durchaus blutreichen Abends befreit fühlte und die Hände zum Trocknen ausschüttelte.

Die Gedankengänge, welche die Xan-Priesterin vor wenigen Zyklen angestoßen hatte, waren jedoch nicht ganz so einfach abzuschütteln wie das kalte Brunnenwasser.

Waren seine Empfindungen wirklich so seltsam? War es wirklich so ungewöhnlich, daß er den letzten Zyklus damit verbracht hatte, sich den Wunden und der Verpflegung verletzter Wildtiere zu widmen? War es wirklich so unangebracht, bei dem wehklagenden Jaulen eines verletzten Jungwolfes mehr zu fühlen als stumpfe Gleichgültigkeit, welche er selbst vor der Entdeckung seiner Emotionen so nie empfunden hatte?

Ohne Zweifel, sein Jagdmesser hatte vermutlich mehr Tieren den Tod gebracht als er wohl je während seiner kurzen Zeit auf Tare retten können würde. Aber dennoch machte es doch einen primären Unterschied, ob er ein Leben rasch und schmerzlos beendete, um Fleisch, Fell und Knochen zu nutzen, oder ob er sinnlos ein unschuldiges Wesen elendiglich am Wegesrand verenden ließ.

Der Gedanke jedoch bedingte sofort eine zweite Frage, welche das Gespräch vor dem Hospital ausgelöst hatte. Was genau war überhaupt Unschuld?

Ein Tier, welches stets nur tötete, um das eigene Überleben zu sichern? Eine Frau, welche log und betrog, um sich Kleidung und Nahrung für ihre hungernden Kinder zu erschwindeln? Ein Mann, welcher einen Mord beging, um damit anderen das Leben zu retten?

Nachdenklich wanderte sein Blick auf seine feuchten Hände hinab, über die von der Arbeit geprägten Finger, hinunter bis zur Innenseite der Linken, dem wulstig vernarbten Gewebe, welches sich über die gesamte Handfläche zog.

"Ein kleiner Junge, welcher hilflos mitansehen muß, wie die Flammen seinem Vater das Fleisch von den Knochen lecken."

Der Wutanfall kündigte sich auf die gewohnte Art und Weise an, mit einem siedend heißen Aufflammen in der Magengegend, einem schmerzhaften Knoten, der ihm die Luft abzuschnüren drohte. Anders als früher aber versuchte er nicht, diesen tief in sich zu begraben - er nahm den Zorn als das an, was er war, ließ ihn langsam in sich hochsteigen, wie glühende Lava durch seine Adern selbst noch bis in die entlegensten Fingerspitzen wandern.

Und mit einem tiefen, ruhigen Atemzug kühlte die Emotion ab zu bloßer Entschlossenheit.

Langsamen Schrittes und mit einer Gelassenheit, welche seiner früheren verkrampften Emotionslosigkeit spottete, trug er den Wassereimer durch das Tor, an den beiden Wachen vorbei, welche ihn nur kurz mit aufmerksamen Blicken bedachten. Die verunreinigte Flüssigkeit wurde restlos in die Wiese jenseits der Mauern geleert, ehe er den Rückweg antrat.

Interessant. Für jemanden, der selbst vorgab nicht viel von philosophischen Gesprächen als "Zeitvertreib" zu halten, hatte sie doch eine recht beeindruckende Art, genau solche Gedankengänge hervorzurufen.

Und er konnte sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen, als er den Eimer zurück an seinen angestammten Platz brachte.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 28.09.16, 17:50 
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War er wieder zu seinem alten Zustand der Nicht-Existenz zurückgekehrt?

Er lehnte mit dem Rücken gegen den Türstock, die Arme vor der Brust verschränkt, und hatte den Blick der blaßgrünen Augen auf die ruhende Gestalt gerichtet. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, während er den älteren Mann betrachtete, und weder äußerlich noch innerlich zeigte sich eine Regung ob des Gespräches in den vergangenen Abendzyklen.

Es berührte ihn nicht.

Das Schicksal des anderen war ihm keineswegs gleichgültig. Sollte dieser es schaffen, dem gestern eingeschlagenen Weg weiter zu folgen, so mochte sich eine wichtige Gelegenheit bieten, den ihnen gesetzten Zielen näher zu kommen. Womöglich, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, böte sich ihnen gar die Aussicht, einst Seite an Seite einem höheren Ziel zu dienen.

Nein, ihm war keineswegs einerlei, was mit dem Mann geschehen würde - und doch war er bar jeder Emotion. Er verspürte keine Freude über die unerwartete Veränderung, über den überraschenden Wandel. Er fühlte keine Erleichterung, daß sich sein Verlust vielleicht nicht wiederholen mußte. Ihn erfüllte keine Angst davor, das Blatt könne sich erneut wenden und der unaufhaltsame Abstieg neuerlich einsetzen.

Seine Augen schlossen sich, und er richtete den Blick nach innen, um diese mittlerweile so ungewohnte Gefühlskälte zu erforschen. Hatte er sich wieder zurückgezogen in seine Welt der Emotionslosigkeit? Was war der Auslöser gewesen, weshalb dieser Schritt zurück?

Doch die Fehleinschätzung seines eigenen Gemütszustandes offenbarte sich ihm schnell, als er sein Inneres zu erkunden begann, denn er war keineswegs emotionslos und leer so wie damals. Viel zu deutlich konnte er dafür den unterschwelligen Ärger fühlen, der ihn erfüllte, Ärger über die vergeudete Zeit und daß dieser Wandel so lange auf sich hatte warten lassen.

Hinzu kam auch eine gewisse Unruhe, gänzlich unabhängig von dem Gespräch, doch seit mehreren Tagesläufen nun schon ihn seinem Herzen verankert. Er wollte agieren, er war es leid hier zu sitzen und darauf zu warten, daß andere Leute handelten.

Dieser Tatendrang, dieses Gefühl nicht stillstehen zu können, nicht stillstehen zu DÜRFEN, war wohl einer der Fäden von denen sie gesprochen hatte. Einer, den er nicht durchtrennen sondern einflechten würde, denn auch wenn ihn dieser kurzfristig vom Pfad abweichen hatte lassen, so war er doch unentbehrlich. Er mußte nur dafür sorgen, daß er diesen bewußt kontrollierte - und nicht andersrum.

Die Gedanken kehrten zurück zur Ausgangsfrage. Nein, er war nicht wieder in Emotionslosigkeit versunken, er hatte wohl schlicht gelernt zu akzeptieren. Was geschehen würde, würde geschehen - und egal wie das Ergebnis auch aussehen mochte, er würde es annehmen und damit arbeiten, Kraft für das daraus ziehen, was vor ihm lag.

"Enttäusch mich nicht," murmelte er schließlich, ehe er sich wieder schweigend umwandete und den Raum verließ - wohl wissend, daß die Worte nur eine leere Phrase waren, denn was auch geschehen mochte, er würde nicht enttäuscht sein.

Denn Enttäuschung setzt Erwartungen voraus.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 1.10.16, 11:15 
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Wild tanzende Schatten verloren sich zwischen seinen Fingern, zeichneten unregelmäßige Muster auf die schwielige Haut, auf die häßliche Brandnarbe seiner Handfläche. Ein ewiges Ringen zwischen Licht und Dunkelheit, symbolträchtig auf eine ganz eigene Weise, und doch waren seine Gedanken viel zu weit entfernt, um die neckische Andeutung des Lichtes zu erfassen.

Er lag auf dem Rücken, die Hand hatte er gen Raumdecke gestreckt, und obgleich seine Augen darauf fokusiert waren, waren es ganz andere Bilder, welche seine Gedanken erfüllten.

Elf Jahresläufe. Elf lange Jahresläufe hatte er vergeudet. Die Zornausbrüche - unkontrollierbar und aus heutiger Sicht so surreal - hatten ihn auf seinem Weg zurückgehalten, ihn von einer Katastrophe in die nächste torkeln lassen. Hätte ihn die tiefe Wut damals nicht wieder und wieder übermannt, wäre er nicht so oft gestrauchelt, sein Weg hätte sich nicht in die Länge gezogen und er wäre...

... nicht ihr Schüler.

Sie wäre nicht für ihn dagewesen, als er aus einer spontanen Eingebung heraus sein Kind gezeugt hatte. Er hätte sich ihr nie anvertraut, seiner sonstigen Zurückhaltung zum Trotz. Sie hätte ihn nicht gnadenlos zurück zum Anfang gestoßen, um ihn von dort einen neuen Pfad zu lehren. Er wäre nicht ihrer Führung gefolgt, wäre niemals dort angekommen, wo er heute stand.

Seine Augen, unnatürlich geweitet und so aus dem kreidebleichen Gesicht umso mehr hervorstechend, starrten durch seine Hand hindurch ins Nichts jenseits des Daches über ihm. Ihre Worte, die Gedanken welche diese angeregt hatten, hatten ihm den Atem geraubt, und auch jetzt noch schien sich das laute Pochen seines Herzens zu überschlagen.

Sie sprachen so oft über den Glauben, über das große Ganze und über das Vertrauen, daß sie stets geleitet wurden - sich stets genau dort wiederfanden, wo es ihnen vorherbestimmt war. Doch nie war er auf die Idee gekommen, dies...

Hektisch kehrten seine Gedanken zurück zu jenem Ursprung, seinem ersten Ausbruch. Nein, nicht der Ursprung, denn hatte es nicht schon viel früher begonnen? Warum hatte sein alter Lehrmeister überhaupt beschlossen, ihn zu unterrichten? War es eine rationale Entscheidung gewesen? Nein, wie hätte es eine solche sein können, war er doch denkbar ungeeignet gewesen. War auch jener Entschluß aus einem Impuls heraus gefallen, aus dem Wunsch, den einstigen Freund an seiner Seite zu wissen, einer Emotion wie sie nicht zu dem sonst so erhabenen Mann passen wollte?

Der Gedanke wurde weitergesponnen, noch weiter ging er zurück in seiner Vergangenheit, als sich ein unsichtbares Netz aus unzähligen Möglichkeiten vor seinem inneren Auge zu entfalten begann. Jede Entscheidung ein Punkt, welcher durch Linien mit anderen Punkten verbunden war. Und jedem dieser Punkte lag eine Emotion zugrunde, manchmal nachvollziehbar, manchmal ein scheinbar ungerechtfertigter Impuls.

Die Sehnsucht nach Ehre und Loyalität, welche ihn Rhidian damals in Eichwehr hatte folgen lassen.

Das Pflichtgefühl Gawyns Leben retten zu müssen, was wiederum erst Rhidians Aufmerksamkeit auf ihn gezogen hatte.

Der plötzliche Mut, mit welchem er dem damals Fremden seine Brandnarbe gezeigt hatte.

Das bohrende Mitgefühl seiner Mutter gegenüber, welches ihn alles ertragen hatte lassen.

Die Liebe zu seinem Vater und allem, wofür er stand.

Die Entscheidung seines Vaters, ihn nicht sterben zu lassen...

Je weiter seine Gedanken in der Zeit zurück wanderten, umso feinmaschiger wurde das Netz, umso mehr offenbarte sich ihm ein Pfad, der über so unendlich viele Umwege genau zu eben diesem Augenblick geführt hatte. Er wäre nicht hier, nicht exakt der Mann, der er nun war, hätten ihn seine Impulse und jene der Menschen um ihn herum nicht auf diesen verschlungen Schleichpfaden zum Hier und Jetzt geführt.

Langsam nur senkte sich seine Hand herab, fand neben seinem Kopf Ruhe auf dem schlichten Kissen. Sämtliche Muskeln in seinem Körper entspannten sich - nicht das oberflächliche Entspannen zur Ruhephase, sondern ein vollkommenes Loslassen, ein rückhaltloses Anvertrauen seiner Selbst dem, was ihm zugrunde lag.

Und jeder Zweifel an seinem Weg verging in Nichtigkeit.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 3.11.16, 15:40 
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Die Zeit schien stillzustehen, die aus der zäh über das Himmelszelt kriechenden Wolken triefenden Regentropfen unbeweglich in der Luft vor seinem Fenster zu verharren.

Blaßgrüne Augen waren nach draußen gerichtet, spielten ihm einen abstrusen Streich, als zwischen den reglos hängenden Tropfen die Felascheibe hervorblitzte, erst über den Horizont stieg, dann nach einer atemberaubend eiligen Wanderung auf der anderen Seite wieder erlosch. Gegengleich zum Stillstand des Regens vergingen die Zyklen wie welkes Laub in einem Orkan, und jegliches Gefühl für deren Lauf hatte sich gänzlich von ihm gelöst.

Nur der Bruchteil eines Herzschlages war es, in welchem sich seine Augen schlossen, und doch mußte eine Ewigkeit dahingezogen zu sein, als er seine Gedanken wieder auf das Treiben vor seinem Fenster richtete. Der Regen war nun wieder dazu übergegangen, in rascher Abfolge auf die Felsen unterhalb der kleinen Öffnung zu prasseln, und Fela ruhte erneut reglos halb hinter der Wolkendecke verborgen.

Interessant.

Nicht ein einziges Mal in den letzten zwei dutzend Jahresläufen war er länger als ein oder zwei Zyklen zu solcher Untätigkeit verdammt gewesen, und er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob die Auswirkungen auf seine Sinne eher beängstigend oder erleuchtend waren. Vermutlich eine kongruente Mischung aus beidem.

In jedem Fall eine neue Erfahrung, die Gedanken wandern zu lassen, ohne den Körper nebenher zu beschäftigen mit dem Einholen der Ernte, der Pflege der Tiere, dem Sortieren der Vorräte oder seinen Kampfübungen. Dies hatte ihm die Zeit gegeben, mit dem beiläufig und mehr scherzhaft eingeworfenen Vorschlag zu experimentieren, jene Tätigkeiten einzig auf seinen Geist zu verlagern.

Es war eine kuriose Idee, seine Gedanken aufzuteilen, einerseits auf die imaginär durchgeführten Handgriffe, welche er in den letzten Monden längst schon nicht mehr bewußt vollführt hatte, andererseits auf die tiefer gehenden Analysen der Worte, welche in den letzten zwei Tagesläufen gesprochen worden waren.

Und dann tat sich eine dritte Ebene der Gedanken vor seinem geistigen Auge auf, als sich das feinmaschige Netz wieder offenbarte, er seine vermeintlich fatale Zwangslage schlicht als weiteren Knoten im komplexen Gebilde der Möglichkeiten erkannte.

Eine weitere essentielle Station auf seinem Weg des Lernens.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 4.11.16, 19:54 
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Der beständige Zustand der teilweisen Loslösung von der materiellen Welt war am Ende des dritten Tageslaufes vom Blut an seinen Händen jäh aufgehoben worden, also war es seine Waschschüssel, vor welcher er nun kniete und mit bedächtigen Bewegungen seine verkrustete Haut vom Wasser umspülen ließ.

Die schlichte Tätigkeit hatte, wie schon das Reinigen seines Körpers am Abend zuvor, etwas Beruhigendes an sich - der Luxus, den Körper in frischem, gereinigtem und gepflegtem Zustand halten zu können, war ein beachtliches Geschenk, dessen sich die wenigsten Leute hier in der Stadt wirklich bewußt waren.

Er beschloß, sich eine Weile dieser Körperlichkeit hinzugeben, seine Gedanken bewußt wieder auf weltlichere Belange zu konzentrieren. Vielleicht würde er sich heute sogar dem Bett zuwenden und Schlaf finden, anstatt lediglich die meditative Ruhe am Fenster zu suchen. Seltsam, der dritte Abend erst, und doch hatte sich in dieser doch eigentlich so kurzen Zeit so unendlich viel für ihn verändert.

Wobei "kurz", wenn er seine Gedanken schon in eine weltliche Richtung lenkte, ein recht dehnbarer Begriff war in Anbetracht dessen, daß seine Verpflichtungen in dieser Zeit zwangsweise ruhen mußten. Sein Schüler würde sich schon nicht nach seiner Gegenwart verzehren, und die Felder würden freilich eine Weile ohne ihn zurecht kommen - er konnte jedoch nicht die Sorge um seine Tiere leugnen, welche in all der Zeit nun ohne seine Pflege auskommen mußten.

Nicht zum ersten Mal erwies sich seine Eigenart, die meisten seiner Tiere nicht durch Fesseln oder Zäune an sich zu binden, als wahrer Segen. Deid hatte es sich vermutlich auf dem angrenzenden Feld gemütlicht gemacht - und er war dankbar für den Umstand, daß er ihre Satteltaschen geleert hatte, auch wenn die Früchte wochenlanger Arbeit damit vermutlich für ihn verloren waren.

Auch um Rhidian mußte er sich nicht sorgen. Oft genug hatte er ihn nun schon zur Arbeit in den Wald mitgenommen, hatte den jungen Hundesprößling das Jagen gelehrt, im Verband ihres kleinen Rudels, aber auch ohne menschliche Mithilfe. Dessen kleiner Bruder, das hilflose Wolfsjunge, war mehr Ziel seiner Sorge. War Rhidian bereits alt genug, um instinktiv Verantwortung für die hilflose Kreatur zu übernehmen? Würde er seine Beute mit ihm teilen?

Oder...

Ein unangenehmes Rauschen in den Ohren kündigte das Aufwallen einer Emotion an, welche er seit jenem Moment nicht mehr verspürt hatte, als er kurz davor gestanden hatte, seinen Weg auf immer zu verlieren und in Schande sein Leben auszuhauchen. Angst. Angst, neuerlich einen Schutzbefohlenen zu verlieren. Eine Schwäche, einer der Fäden, an welchen man ihn lenken konnte, und doch war er noch nicht bereit, diesen zu durchtrennen.

Wie viele dieser Fäden er doch noch zu behandeln hatte, dessen war er sich freilich bewußt - und doch hatten ihn die Worte vor wenigen Zyklen überraschend getroffen, denn ein Mangel an eigenen Gedanken zählte nicht dazu. Wie oft, vielmehr, hatte sie ihm in den letzten Monden vorgeworfen, stets ihre Aussagen zu hinterfragen und seine Zweifel an Worten und Konzepten in ungebührlich eigenwilliger Art und Weise zu äußern?

Die Aussage aber hatte ihn tiefer getroffen, als dies gut für ihn wäre - nicht weil er sie für richtig hielt, sondern weil sie eine Verletzlichkeit in seinem Gegenüber offenbart hatte, die ihn schmerzte. Jemand, der seine eigenen Worte stets erbarmunglos wie eine versteckte Waffe führte, kaum einen Satz formulierte ohne Vorwürfe und Tadel, unzählige kleine Spitzen - und dann diese Eigenschaft in anderen suchte, verkrampft, selbst wenn die Worte aufrichtig und ohne Hintergedanken waren, dann war dies eine überaus gefährliche Mischung aus Hochmut und Unsicherheit.

Und damit war er mit seinen Gedanken wieder bei den verfluchten Fäden, denn diese Erkenntnis hätte nicht Bedauern, sondern Genugtuung in ihm auslösen sollen. Wie schwach er doch noch immer war, wie sehr er seinen naiven Vorstellungen noch nachhing, nicht mit den Gedanken, welche diese Schwäche nur allzu deutlich erkannten, sondern mit seinem Herzen. So unkontrolliert wie sein Zorn bis vor...

Er hielt inne, in Gedanken gleichermaßen wie in seinen Bewegungen.

Sein Zorn, der ihn kontrolliert hatte, viele Jahresläufe lang. Der, je mehr er ihn unterdrückt hatte, umso heftiger immer wieder hervorgebrochen war, sich in seiner Unbeherrschbarkeit stets seiner Entwicklung in den Weg gestellt hatte. So wie es die Angst um andere nun tat, so wie es auch sein Sehnen nach Harmonie stets vermochte.

Den Zorn hatte er erst besiegt, als er diesen bewußt zugelassen hatte. Was, wenn er dasselbe mit Angst und Sehnen ebenso versuchte? Wenn er sich bewußt diesen Schwächen hingab, um zu lernen diese zu kontrollieren? Diese nicht unterdrückte, sondern sie akzeptierte und sich dann dafür entschied, seine Handlungen nicht zwingend danach auszurichten?

Mit nachdenklichem Blick trocknete er seine Hände und richtete sich auf, um sich neuerlich dem Fenster zuzuwenden. Vielleicht war es voreilig gewesen, dieses Geschenk der Ruhe und Zurückgezogenheit nicht weiter voll auszukosten.

Schlafen konnte er schließlich später noch.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 7.11.16, 18:36 
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Deutlich waren die tiefen Augenringe in der verschwommenen Reflektion seiner Züge zu erkennen, als er die Klinge des Jagddolches in seinen Händen jeweils zu beiden Seiten leicht neigte.

Nicht vom Mangel an Schlaf rührten diese her - es war erstaunlich, wie lange er die Regeneration seines Körpers alleine durch Meditation hatte aufrecht erhalten können. Und auch die Demütigungen, welchen er ausgesetzt gewesen war, hatten diesen Verfall nicht hervorgerufen - gedemütigt werden kann nur, wer nicht bereits Demut kennt, und mehr denn deutlich waren ihm seine Fehler und Schwächen inzwischen bewußt.

Es war vielmehr eben eine jener Unzulänglichkeiten, welche ihn aus seinem beinahe schwebend leichten Zustand geholt hatte. Er hätte sich niemals provozieren lassen dürfen, hätte das Gespräch nach dem ersten herablassenden Prahlen auf sich beruhen lassen müssen, dem süffisanten Befehl zu schweigen Folge leisten, obgleich dieser aus einem Munde gekommen war, welcher ihm keine Befehle zu erteilen hatte.

Doch die abfälligen Worte - diese hämisch-grausamen Worte über sie und sein totes Kind, deren einziges Ziel es war, ihn in seinem tiefsten Inneren zu treffen - hatten eine rasende Kälte in ihm ausgelöst, welche nichts mit seinen alten Zornausbrüchen gemein hatte. Wie hatte es diese jämmerliche Gestalt nur wagen können, so über sie zu sprechen, über sie zu urteilen, wo der Widersacher doch nicht einmal einen Bruchteil ihrer Stärke und ihrer Weisheit besaß?

Dennoch...

Trotz der harschen Gedanken, welche ihn neuerlich mit diesem Gefühl absoluter Empörung durchdrangen, waren seine Hände ungemein ruhig, als er die scharfe Klinge des Kräutermessers über seine eigene Haut zog.

Er hätte schweigen sollen, das Gegenüber sich in seinem vermeintlichen Triumph suhlen lassen. Solch jemand konnte ihre Ehre nicht beschmutzen, war weder ehrenhaft noch mächtig genug dazu. Vielmehr hatte er so erreicht, sich selbst neuerlicher Häme und herablassendem Spott auszusetzen, sich selbst in eine Position der Schwäche drängen lassen. Sie würde davon erfahren und...

Gut. Sie SOLLTE davon erfahren. Er selbst würde ihr diese Schwäche aufzeigen und um ihre Mithilfe bitten, jene auszubrennen.

Auch das kleine, matte Lächeln zu diesen Gedanken ließ sich in seinem Spiegelbild erahnen, während sich die Klinge des Messers Finger um Finger seine Wangen entlang arbeitete, diese von den beharrlich nachwachsenden Bartstoppeln befreite und nur die gewohnt blasse, wettergegerbte Haut zurückließ.

Nun mußte er nur noch lange genug überleben, um sich ihrem Zorn stellen zu können. Den Kopf demütig senken, jeden weiteren verbalen Angriff mit einem ergebenen Nicken entgegen nehmen, sich sinnbildlich wieder mit dem Gesicht in den Schlamm drücken lassen.

Er mußte wieder Collnaid der Stallbursche sein.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 9.11.16, 17:32 
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Acht mal acht Felder.

Vor ihm ausgebreitet lag sein Vertrag mit dem Handwerksbund, dessen Rückseite pragmatisch umfunktioniert worden war zur Zeichenfläche. Mit exakten Strichen, die Linien gerade geführt mithilfe des Tabletts, hatte er jenes Spielbrett aufgezeichnet, die schwarzen Felder mit seiner feinen Schreibfeder schraffiert unterlegt.

Rodriks Holzmurmeln dienten ihm als Bauern - kalte Farben für schwarz, warme Farben für weiß. Aus den Wurzeln, welche er für das Alchemielager der Bruderschaft gesammelt hatte, hatte er grob die Türme und Springer geschnitzt. Läufer, Dame und König waren aus der Handvoll Ferrinzähne selektiert, welche er seit Wochen verabsäumt hatte, an den Trophäenhändler weiterzureichen.

Er hatte erst versucht, die gestrige Partie nachzustellen, doch waren seine Kenntnisse über das Spiel nicht ausreichend, um die Lücken in seiner Erinnerung vollständig auszugleichen, weshalb er sich letztendlich darauf beschränkt hatte, die letzten Züge zu rekonstruieren.

Nun stand er wieder am Ende, direkt vor der Vernichtung des schwarzen Königs - und er lächelte.

Die Ruhe war zurückgekehrt, die beschwichtigende Kälte, welche durch seine Adern floß. Nichts war mehr geblieben von dem unerträglichen Schmerz, welchen ihm der Dwarschim so grausam zugefügt hatte.

"Ihr habt eine Frau in die Arme der Kirche geführt, welche sich schlimmerer Vergehen schuldig gemacht hat."

Wie fatal doch die Wirkung der Worte auf ihn eingewirkt hatte, wenige Tagesläufen nach seinem Entschluß, sein Mitgefühl, seine Sorge um andere zu akzeptieren und zu kultivieren. Wie grausam sie sich in sein Herz gebohrt hatten, wie ein glühender Speer, welcher zu der Sorge noch unendliche Schuld in seine Seele gebrannt hatte.

Sie saß in einer Zelle, wegen seines Fehls.

Die Verzweiflung war unrühmlich aus ihm hervorgebrochen, in unaufhaltsamen Sturzbächen, und mit jedem Wort, jeder weiteren Bestätigung, daß er für ihren Niedergang verantwortlich sein sollte, hatte sich eine unsichtbare Hand fester um sein Herz geschlossen, bis er das Vermögen zu atmen verloren hatte.

Erst, als er sich über die Waschschüssel gebeugt und seinen Magen auf links gedreht hatte, hatten sich seine Lungen wieder gierig mit Luft füllen können, und wie ein Häufchen Elend hatte er sich gegen die Fensterwand gekauert. Eine Schande für sie, wie schon so oft.

Doch die Zeit mit ihr, kurz wie sie gewesen sein mochte, hatte ihm neue Stärke gegeben. "Vertrau mir," hatte sie vor so scheinbar ewiger Zeit zu ihm gesagt, und jenes unerschütterliche Vertrauen war es, welches seine Kraft hatte zurückkehren lassen. Sie war unbesorgt, sah dies alles bloß als eine wichtige Lektion für ihren Schüler an - welchen Grund also sollte er haben, Unsicherheit zu verspüren?

Sein Blick fiel zurück auf das improvisierte Schachspiel.

Nein, nicht nur eine Lektion. Sie hatte ihren Unterricht fortgesetzt, direkt unter den Augen des Feindes, und er hatte so einiges gestern mitnehmen können. Nicht zuletzt das Verhalten des weißen Königs, dessen Faksimile er nun nachdenklich anhob und betrachtete.

Wie bereitwillig er schon im Eröffnungsspiel begonnen hatte, seine Bauern zu opfern. Wie schnell er seinen eigenen Turm eingerissen hatte. Wie offen er seine Verteidigung gelassen hatte, um vorpreschen und alles niedermetzeln zu können. Seine Dame war rasch und erbarmungslos vorgedrungen, doch nicht ein einziges Mal hatte sie sich darum bemüht, den König selbst zu decken.

"Der König ist stark genug, um sich das zu erlauben."

Er hatte noch nicht begriffen, wie schwach der König in Wirklichkeit war ohne jene, die ihm dienten. Wie essentiell die Loyalität seiner Untergebenen war, nicht nur der Königin oder der Läufer, sondern ebenso jene der Bauern.

Doch auch die schwarze Seite hatte interessante Züge gemacht.

"Dachtet Ihr wirklich, ich würde zögern, einen Priester zu opfern?" Morotardy nekra, anoh ner Tardukai dyghar ilar morot.

Und dann das Endspiel...

Mit nachdenklichem Blick setzte er den weißen Ferrinzahn zurück auf das aufgezeichnete Spielbrett, und die Augen wanderten erneut über die Szene. Die Dame war über den König hergefallen - Schach matt. Zurück blieb nichts weiter als drei schwarze Bauern, einer in der Mitte des Schlachtfeldes, zwei jedoch hatten den weißen König in die letzte Ecke gedrängt.

Genau hierin hatte er stets den größten Fehler dieses Spiels gesehen. Fiel der König, so war es zu Ende, denn von jedem braven, galadonischen Bauern wurde erwartet, daß er die Waffen niederlegte und sich dem Sieger unterwarf.

Er setzte die weiße Dame auf das Feld, von welchem sie den schwarzen König verstoßen hatte, dann aber wandte er sich den beiden Bauern zu. Keine galadonischen Bauern, sondern vandrische, bereit sich jederzeit vor ihren Anführer zu werfen - aber auch, seinem Befehl folge zu leisten, wenn er sie dem feindlichen König entgegenschickte, selbst wenn bereits feststand, daß der schwarze König ohne sie fallen würde.

Egal, welchen Zug der weiße Gegner machte, egal welchen Bauern er erschlug, der andere würde dessen Platz einnehmen und dem König den Kopf abschlagen. Also entfernte er zwei der drei Figuren und lehnte sich dann zurück, um das Ergebnis zu betrachten. Nur noch zwei der schwarzen Figuren waren übrig, zwei einfache Bauern, welche nicht lange bestehen konnten.

Doch der weiße König war geschlagen, und ein kleines Lächeln breitete sich neuerlich auf den trockenen Lippen aus. Kein triumphierendes Lächeln, denn kein Triumph war dieses Ende. Ein ergebenes Lächeln, welches die schlichte Schlußfolgerung akzeptierte.

"Vandrische Bauern schlägt man nicht, indem man sie von ihrem König trennt."

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