Körnchen für Körnchen rieseln die durchsichtigen Kristalle in das alchemistische Gefäß, mit einem kaum hörbaren Rasseln. Nicht viel, kaum mehr als eine Prise, ehe er sich abwendet und durch die Tür hinaus in den Burghof tritt, das gläserne Behältnis in der Hand.
Er schenkt den Braungerüsteten keine Beachtung, welche in ihren Tätigkeiten innehalten und sich tief vor ihm verneigen. Ebenso wenig den Blicken, welche sie sich gegenseitig zuwerfen, ihre Gesichter erfüllt von Verwirrung und verhaltener Antizipation.
Kaum ein Wort ist in den letzten Tagesläufen an diesem Ort gesprochen worden, und auch jetzt liegt bedrückendes Schweigen auf den schwarzen Steinmauern. Die Geschehnisse lasten nicht bloß auf der weißberobten Person im nordöstlichen Teil des Innenhofes, deutlich haben diese ebenso ihre Spuren auf den Mienen der anderen hinterlassen.
Ohne für eine Erklärung inne zu halten, stapft er hinüber zum Brunnen, um dort schweigend den Eimer in die dunklen Tiefen herabzulassen. Das Seil wird beinahe bis zu seinem Ende abgerollt, denn selten niedrig ist der Stand des Wasserspiegels. Doch mehr als ausreichend ist das klare Naß, um das alchemistische Glas bis zum Rande zu füllen.
Eine knappe Kopfbewegung bedeutet dem Mann hinter dem Weißberobten, sich von jenem zu entfernen, und ohne Zögern wird der Befehl befolgt, wenn auch mit fragendem Blick - welcher nur ebenso unbeantwortet bleibt wie zuvor.
Er tritt auf den Mann in der Robe zu, blickt ihm direkt ins Gesicht, doch kein Anzeichen auf Erkennen spiegelt sich in den blutunterlaufenen, glasigen Augen wider. Die Lider sind halb geschlossen, die Pupillen verengt wie unter gleißendem Licht und der Blick ist anteilnahmslos ins Nichts gerichtet.
Ruhig spricht er den Namen des deliranten Mannes, kaum mehr als ein leises Flüstern, doch sein Gegenüber reagiert nicht. Die Augen bewegen sich kurz hektisch hin und her, doch keine Reaktion auf die Worte wird es wohl es sein. Was auch immer der Weißberobte sehen mag, es dürfte keinerlei Entsprechung in dieser Sphäre haben.
Also hebt er die Linke an dessen Wange, fährt mit der ledernen Innenseite des Plattenhandschuhs die Kontur des inzwischen leicht pergamentartigen Gesichtes nach, bis Daumen und Zeigefinger jeweils links und rechts der aufgesprungenen, blutverkrusteten Lippen ruhen. Ein leichter Druck, und diese öffnen sich ein wenig.
"Schlucken... langsam..." Das Glas wird vorsichtig an die vertrockneten Lippen gesetzt und etwas geneigt. Nur ein kleines, kurzes Rinnsal, bis endlich der Schluckreflex einsetzt. Ebenso unbewußt wohl lehnt sich der geschwächte Körper etwas vor, der unterwarteten Flüssigkeitsquelle entgegen.
Einer steinernen Faust gleich legt sich der erbärmliche Anblick seines kleinen Bruders um sein Herz, schonungslos schnürt er ihm die Luft ab und schürt ein verzehrendes Feuer in seinen Eingeweiden. Nur ein fester Biß auf die eigene Unterlippe hält ihn noch davon ab, dem Halbtoten an den Kopf zu werfen, daß nicht er alleine diese Bürde trägt, daß das Joch nicht nur an seinen eigenen Kräften zehrt.
"Langsam," wiederholt er stattdessen leise, während er das mit Salz angereicherte Wasser in kleinen Schlucken die ausgetrocknete Kehle hinableert. "So ist's gut."
Es ist gerade ausreichend Flüssigkeit, daß eine geringe Überlebenschance für den von Wasser- und Schlafmangel geschwächten Körper besteht, längst nicht genug jedoch, um den wohl inzwischen alles verzehrenden Durst zu stillen. Auch wird es nicht ausreichen, um den deutlichen Vergiftungserscheinungen entgegen zu wirken, welche mit der Tortur der Austrocknung einhergegangen sind.
Doch wenn es seine Bestimmung vorsieht, dann mag der Büßer lebend aus dieser Qual hervorgehen.
Wortlos setzt er das Glas ab, provoziert damit ein guturales Gurgeln des Verdurstenden, die einzige Reaktion jedoch, zu welcher der schwer gezeichnete Körper imstande ist. Dann greift er nach dem Kragen der weißen Robe, führt den groben Stoff über die geschundenen Lippen, um die frisch aufgeplatzten Risse vorsichtig abzutupfen.
Etwa einen Zyklus später spielt sich eine ähnliche Szene im Burghof ab, neuerlich wird dem jungen Mann ein wenig Flüssigkeit zugeführt, zu viel zum Sterben, zu wenig, um wirklich zu leben. Die Männer in brauner Uniform beobachtet das Ganze neuerlich schweigend, werfen einander unstete Blicke zu, und diesmal beantwortet er sogar ihre unausgesprochene Frage.
Denn auf dem Weg ins Innere der Burg stapft er an einem von ihnen vorbei, und leise nur raunt er ihm warnend zu: "Denkt daran - keine Hilfe für ihn."
Er wartet keine Antwort ab, zieht ohne Innehalten den Torflügel vor sich unter leisem Protest des schwarze Metalls auf und verschwindet in den Tiefen des steinernen Baus. Einen Moment lang überkommt ihn das Verlangen, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, doch wie ein Schleier aus kühlender Seide legt sich die Kälte in seinem Inneren beschwichtigend um sein Herz. Dies ist nicht die rechte Zeit, nicht der rechte Ort.
Mit ruhigen Bewegungen tritt er stattdessen ans andere Ende des Raumes, geht dort langsam auf die Knie herab und neigt den Oberkörper weit nach vorne. Es ist kein Tempel, es ist kein Schrein - und dennoch ist es für ihn im Moment ein Ort des Glaubens, als er mit fester Stimme die Worte spricht:
"Angamon, ilamankry Horkum, mehch ilari Linthulare. Dih khetry kherinkta hederar dih nekrumry Raetisar. Ag kaechar krin mih varilkry brawt, gedard onah dih Dukai, nokh onah hadrohmar onach thidrik. Ag kaechar, gedard onah dih Arkan, nokh onah talrendar fehrik ta Hedery Tardukai. Ag kaechar, gedard onah dih Vrist, nokh onah livar eth kherinar, ern dih doryl eth krin dih hyl. Krin dih Thul i vrain eth telraht eth nekrum. Arkum eth Vegehk vara du, Tarkum arn Hora."
Einige Herzschläge verstreichen, in welchen die Worte als Echo in seinen Gedanken widerhallen, ehe er langsam das gleichseitige Kreuz vor seiner Brust zieht.
"Krin ta Valkai."
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