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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 10.11.16, 19:26 
Einsiedler
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"Du denkst über deinen aktuellen Zug nach? Ich denke über die fünf darauf folgenden nach," wiederholte er sinngemäß die Worte des Hochgeweihten und ließ den Zeigefinger nachdenklich über das Spielbrett kreisen. Ein echtes Spielbrett mittlerweile, mit tatsächlichen Figuren, was die Sache doch erheblich vereinfachte.

Die "Partie", wenn man das einseitige Schlachtfest als solche bezeichnen mochte, hatte bestätigt, worauf ihn bereits die alten Lehren vorbereitet hatten - Dukdermarkh ohm lerkta varderar vapen ohm grep.

Über das Spiel zu lesen, sich mit der Analyse von Zügen zu beschäftigen und die Philosophien dahinter verinnerlicht zu haben, machte noch keinen guten Spieler aus. Machte genaugenommen gar keinen Spieler aus, denn schon beim ersten "dein Zug" hatte er nicht viel mehr tun können, als eine zufällige Figur auf ein beliebiges Feld zu ziehen - was natürlich in Anbetracht der Wichtigkeit der Eröffnung, über welche er so manches gelesen hatte, mehr als fatal gewesen war.

Doch er hatte keinen Grund, sich zu schämen, nicht mehr. Es hatte lange gedauert, ehe er diesen Teil seiner Ausbildung verstanden hatte, doch mittlerweile war er sich der Tatsache bewußt, daß niemand etwas beherrschen konnte, was er selbst noch nicht erlernt hatte. Die Aufgabe eines Schülers bestand darin, Fragen zu stellen, weshalb er sich dem Spiel hingegeben und im Laufe seiner eigenen Fehlzüge Frage um Frage an seinen Gegner gerichtet hatte.

Und der Hochgeweihte hatte geantwortet - nicht die letzte Gelegenheit, zu der er an jenem Abend Dankbarkeit gegenüber seinem Feind empfunden hatte.

Seither aber saß er nun hier, baute die Reihen auf, spielte Züge gegen sich selbst, und versuchte zu erkennen, wo seine gröbsten Fehler zu finden waren. Nicht, weil ihm daran gelegen war, ein Experte für das Spiel zu werden, sondern weil er die Worte aus dem Munde des Hochgeweihten nicht zum ersten Male gehört hatte: "Schach ist ein Abbild des Lebens."

Die Implikation deckte sich verstörend mit dem, was man ihm in den eigenen Reihen bereits offenbart hatte. Daß er zwar nicht mehr vollkommen unbedacht handelte, doch noch weit davon entfernt war, mehr denn nur die direkt folgende Reaktion zu antizipieren. Daß er deshalb hauptsächlich reagierte, statt zu agieren, selten nur die Fäden selbst zog. Daß er unwissend, ungeübt und unbeholfen war, was den Umgang mit anderen anbelangte, vor allem aber mit seinem Feind.

Ein perfektes Sinnbild der letzten Jahresläufe war die Partie gewesen, wie er sich von einer Ecke in die andere hatte scheuchen lassen, stets knapp nur der endgültigen Niederlage entkommen war, eine Figur nach der anderen dabei ungewollt zu Schaden hatte kommen lassen. Er wollte nicht lernen, er mußte es - denn die Konsequenzen seines Handelns lasteten mit jedem Mal schwerer auf jenen, welche er stützen sollte anstatt ihnen zu schaden.

Es war ein überaus langsames Vorankommen, aber zumindest derzeit noch ein beständiges. Vor einigen Zyklen noch war das Nachdenken über sämtliche möglichen Züge direkt nach dem seinen ein qualvolles Wirrwar gewesen, während er nun wenigstens das Netz der Möglichkeiten für zwei oder gar drei Züge erkennen konnte, wenn er sich wirklich darauf konzentrierte.

Einen grundlegenden Fehler hatte er dabei bereits gefunden - er dachte oft über Züge seines "Gegners" nach, welche ihm hilfreich sein konnten, was dem zerstörerischen Konzept der "Hoffnung" doch recht nahe kam. Daß sein "Gegner" in diesem Falle sein zukünftiges Ich war, da er eben bloß gegen sich selbst spielte, war jedoch recht hilfreich bei dem Versuch, den nächsten Zug nicht aus der momentanen Perspektive zu betrachten, sondern aus der Sicht dessen, der den Zug machen würde.

Er mußte lernen, nicht zu wünschen, sondern vorherzusehen.

"Rahtai vill berathirar, ne onah dulrahtar ilkan vathei morra onah makenar," zitierte er leise aus dem ersten Kapitel des Khalmak Vandria, als er endlich die Verbindung zwischen der alten Niederschrift taktischer Regeln und dem Grundkonzept des Spiels zog.

Und langsam begann er zu begreifen, daß man es nicht nur wegen der beiden Hauptfiguren das Spiel der Könige nannte.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 11.11.16, 21:14 
Einsiedler
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"Wir versuchen, nur noch Ihn zu spüren."

Es war keine leichte Übung, nicht nur die Wahrhaftigkeit und Heiligkeit jener Worten in seinem Innersten zu fühlen, sondern diesen auch tatsächlich in seiner Seele Bestand zu geben, während seine Augen auf ihrer meditativ knienden Gestalt ruhten. An Gefühlen, diesem kostbaren und doch in seiner jetzigen Ausprägung so hinderlichem Gut, mangelte es im Moment keineswegs.

Lediglich die Ruhe, jene dabei herauszufiltern, welche ihm tatsächlich von Ihm gesandt waren, um Seinen Willen kundzutun und Seine Pläne für Tare in die Tat umzusetzen - dies war Seine heutige Prüfung an ihn, und es war eine der schwersten, die Er ihm je hatte zukommen lassen.

"Was nichts kostet, ist nichts wert."

Keinen Moment lang zweifelte er auch die Wahrhaftigkeit jener Worte an, denn diese Lektion hatte er sich selbst teuer erkaufen müssen. Altruismus war ein Begriff, mehr nicht - ein Konzept, welches nicht gelebt wurde, am Allerwenigsten von jenen, welche sich in ihrer zelebrierten Selbstlosigkeit suhlten. Alles hatte seinen Gegenwert, und wer etwas nach außen hin kostenlos anzubieten schien, der neigte nur dazu, letztendlich den höchsten Preis dafür einzufordern.

Wenn es danach ginge, dann war dies hier wohl nicht nur eine der schwersten, sondern zugleich eine der wichtigsten Prüfungen seines Daseins, denn der Preis war nicht weniger denn seine Seele - und vielleicht sogar ihr Leben.

Sein Atem ging ruhig, und trotz der wachhabenden Stellung in der südwestlichen Ecke des Raumes waren seine Muskeln entspannt und völlig frei. Lediglich dem Blick gestattete er diesmal nicht, sich meditativ im Nichts zu verlieren, denn er würde sich diese Aufgabe nicht erleichtern, indem er mit ihrem Anblick die quälende Erinnerung an ihre Situation ausblendete.

Der Feind verstand es einfach nicht.

Sie warfen ihm vor, unterwürfig und abhängig von ihr zu sein, ohne zu begreifen, welche Hintergründe dies hatte - daß seine Reaktionen nicht anders ausgefallen wären, hätte einer ihrer Brüder die Zelle mit Seiner Präsenz erfüllt, daß er im Gegenteil sein Verhalten in eine demütigere Richtung hätte angepaßt, wie es die Etikette vorsah.

Sie beleidigten sie - nicht ihn selbst - mit ihren Aussagen, sie hätte ihn von sich abhängig gemacht, sein Glaube hinge nur an ihrer Gegenwart. Neuerlich spürte er erst Unzufriedenheit, dann kalten Zorn in sich aufwallen ob dieser unverhohlenen Respektlosigkeit ihren Lektionen gegenüber, doch diesmal leitete er das Gefühl wieder kühl durch seine Adern hindurch, nahm es als neue Kraft in sich auf, ohne der Empfindung an sich nachzugeben.

"Ich war vor Euch auf diesem Weg und ich werde es nach Euch sein," hatte er die Worte gesprochen, deren tatsächliche Tragweite und zugrundeliegende Wahrheit nur sie selbst wirklich erfassen konnte. Er war durch das Leben gestolpert, zumeist blind und führungslos, hatte sich lediglich hilflos über Wasser gehalten und verbissen ums Überleben gekämpft wie in jener letzten Schachpartie mit Hochwürden.

Er hatte sich selbt gehaßt, an sich selbst gezweifelt, sich selbst mehr denn einmal beinahe aufgegeben. Doch niemals, in all der Zeit, hatte er je an seinem Glauben gezweifelt, nicht ein einziges Mal in Frage gestellt, daß dem Valkai Vandria bis in den Tod und darüber hinaus zu folgen der einzige Weg für ihn sein konnte. Für seinen Glauben war vollkommen bedeutungslos, was mit ihr geschah.

Nicht aber für seinen Weg.

Tief atmete er ein, ließ die kühle Luft seine Lungen bis zur Grenze ihrer Kapazitäten füllen, um dann all seine Gedanken bedächtig zwischen den Lippen aus seinem Inneren hinaus zu atmen. Zurück blieben nur die Emotionen, welche er zu sortieren hatte.

Welche waren die seinen, nach all den Jahren der Einengung und Unterdrückung durch seinen Geist nun hervorgebrochen, überwältigend, verzehrend, kraftvoll und doch destruktiv? Welche waren die SEINEN, leitend, führen, ihn mit Stärke füllend und ihm eine Richtung aufzeigend?

Er nahm das tiefe Schuldgefühl, und befreite sich davon. Es war nicht an ihm selbst, über seine Fehltritte zu richten, und seine Gedanken durften nicht durch die quälenden Schmerzen getrübt sein, welche ihn vor wenigen Tagesläufen der Luft zum Atmen beraubt hatten.

Er nahm die nagende Sorge um sie, und befreite sich davon. Es war nicht von Bedeutung, was mit ihr als Person geschah, und es war nicht seine Bestimmung, sie um ihretwegen zu beschützen, sich von den Gedanken an ihr mögliches Schicksal vom Weg ablenken zu lassen, welcher vor ihm lag.

Er nahm die erdrückende Verzweiflung, und befreite sich davon. Es war nicht seine Entscheidung, was zu geschehen hatte und was nicht. Der Weg war vor ihm ausgebreitet, und er würde seinen Eid nicht brechen durch unbedachte Bauchentscheidungen.

Er nahm seine kalte Entschlossenheit, und...

Nein, er konnte sich nicht davon befreien. Ob nun, weil er sich schlicht von seiner Schwäche der Sturheit noch nicht lösen konnte, oder weil es Sein Wille war, das würde sich noch zeigen.

Keineswegs maßte er sich an, dies beurteilen zu können, ihm blieb nur der Glaube daran, daß nichts ohne Grund geschah und er sich weiterhin genau dort befand, wo Er ihn haben wollte. Daß Er seine Handlungen führte, und er genau das tun würde, was er tun mußte.

Doch bis dahin... mußte er erst noch überleben.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 13.11.16, 16:02 
Einsiedler
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Er starb einsam und unter yedorronischen Qualen.

Jede Faser seines Körpers wurde von stechendem Schmerz erfüllt, als das rasende Pochen seines Herzens verstummte und nur noch Stille in seiner zugeschnürten Brust hinterließ. Ein Schmerz, welchen er nicht ausblenden konnte, welcher ungleich quälender sein gesamtes Dasein erfaßt hatte, seinen Körper lähmte und seine Seele schund, als es je eine Empfindung zuvor vermocht hatte.

Die vertraute Kälte durchflutete ihn, nicht stärkend dieses Mal, nicht mit jener Ruhe angereichert, denn sein Herr war kein gütiger Herr. Der Zorn, welcher nicht sein eigener war, sickerte zähflüssig durch seine Adern, ließ sein Blut erstarren und seine Muskeln kristallisieren. Wie ein Geflecht aus parasitären Ranken wand sich die Dunkelheit um sein Herz, brach es entzwei - nicht um es gnadenvoll vergehen zu lassen, sondern um es mit unerbittlicher Grausamkeit wieder in seine Tätigkeit zurück zu zwingen.

Er wollte schreien, als eiskalte Luft ungebeten in seine Lungen zurück drängte und seine Sinne ihn zurück rissen in die gnadenlose Realität, wo er nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, worunter er sich mehr zu krümmen hatte: Die schonungslosen Worte des Elfen, welche scharfkantige Salzkörner in die offenen Wunden seiner Seele trieben, oder die behutsamen Berührungen dieses ambivalenten Wesens, welches gleichermaßen engster Freund und erbittertster Feind war.

Kein Schrei war ihm jedoch vergönnt, nur ein einzelner gequälter Laut - ein bitterer Vorgeschmack darauf, was ihn am anderen Ende erwartete beim nächsten Schweigen seines Herzens, das erbärmliche Wehklagen einer Seele zerrissen und geschändet von Dämonen, ihr einziger Wert noch darin bestehend jene in ihrer unendlichen Gier zu nähren, derer Er sich bediente. Es war, was er verdiente nach allem, wohin seine unbeholfenen Züge am Ende geführt hatten.

Und dann waren da die einzigen Worte, welche zu ihm durchdrangen, nicht als weiterer Schmerz, nicht als Befehl, dem er sich willenlos beugte - sondern als kalter Funke, ein winziger Teil der tiefen Wahrheit, nach welcher er sich stets streckte, ohne sein Ziel je wirklich zu fassen zu bekommen. Dieser Teil der Wahrheit jedoch war zum Greifen nahe, und er zögerte nicht, die Finger seiner Seele danach auszustrecken. Der unbändige Zorn wurde der seine, ohne zu zögern bemächtigte er sich der kalten Kraft, um sich daran hochzuziehen.

Sie hatte ihm einst aufgetragen zu lernen, aus ihren Augen zu sehen, aus ihrer aller Augen - und er sah auf ihn herab, diese erbärmliche Kreatur, welche sich dort wand, tränenlos und doch gebrochen, zerschmettert unter der Last jener Leben, welche er mit dem seinen hatte schützen wollen anstatt sie nun damit ins Verderben zu reißen. Er empfand kein Mitleid, keine Sorge, nur Abscheu und Haß auf die Schwäche, welche Seinen Idealen derart zuwiderlief.

Seine Muskeln drohten ihm erneut den Dienst zu versagen, doch er zwang sie in die Submission und richtete sich schwankend auf, zog die letzten Kraftreserven aus der Kälte in seinem Inneren, um den Blick auf den Elfen zu richten. Deutlich zeichneten sich die schwarzen Fäden am Rande seines Blickfeldes ab, welche das Erreichen des Limits seiner ihm anvertrauten Gabe kennzeichneten, doch er scherte sich nicht darum. Anklagende Worte und schließlich Befehle prasselnden unentwegt auf ihn ein, und nur der beständige Zorn gab ihm noch die Kraft der Versuchung zu widerstehen, Widerworte zu finden.

Diese nutzlosen, kindlichen Widerworte.

Er hatte ihm keine Befehle zu erteilen, doch nur ein Narr würde sich deswegen der Wahrheit in seinen Worten entgegenstellen in erbärmlichen Trotz - ein Narr wie jener, welcher an dieser Stelle seinen letzten Herzschlag an Selbstmitleid und Schwäche verschwendet hatte.

"Jah," stieß er hervor, und der Haß verlieh dem einzelnen Wort mehr Nachdruck und Lautstärke als angebracht gewesen wäre. Nicht Haß dem Feind gegenüber, welcher wie auf ein unmündiges Kind einredete, sondern Haß darauf, daß er eben diese Reaktion in ihm hervorgerufen hatte. Daß er zugelassen hatte, sich selbst derart zu erniedrigen. Daß er nicht dieser Mann war, der einen derartigen Einsatz verdient hätte.

Den Einsatz dieses wertvollsten Lebens hier auf der verfluchten Schicksalsinsel.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 13.01.17, 08:29 
Einsiedler
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Schweigend stand er auf den schwarzen Zinnen und blickte hinab auf den Innenhof, dessen eisverkrusteten Boden er in den letzten dreizehn Monden Heimat genannt hatte. Die Stelle, wo der damals schwächliche Hüne unter der Last der Rüstung zusammengebrochen war. Wo er seine Schwester unter den Augen des Satai ausgepeitscht hatte. Wo der Dämon das Leben seines Sohnes bedroht hatte. Wo der namenlose Verräter seine Buße überlebt hatte, nur um danach seinen Freitod zu wählen.

"Ich war vor Euch auf diesem Weg..."

Es war nicht die erste Heimat, die er aufgeben mußte, und vielleicht würde es nicht die Letzte sein. Vandrischer Boden. Doch die Worte hatten weiterhin Bestand - Vandrien war kein Stück Land, keine Ansammlung von Staub und Erde auf kaltem Stein, Vandrien war eine Lebenseinstellung, eine Pflicht und eine Stärke, welche sie in ihren Herzen trugen anstatt mit ihren Stiefeln darauf zu wandern. Vandrien würde ihnen folgen, wo auch immer der Weg durch die Dunkelheit sie als nächstes führen würde.

"... und ich werde es nach Euch sein."

Unbeirrbar hallten die Worte, seine eigenen Worten, durch seine Gedanken, bis er jenen letztendlich doch noch gestattete, sich offen in sein Bewußtsein zu drängen. Er würde sich nicht in dieser Erinnerung aus einem anderen Leben verlieren, und doch scheute er auch nicht vor ihr zurück.

Die Zeit, seinen Worten von damals Taten folgen zu lassen, war gekommen.

Die gottlosen Verräter hatten ihm nicht gestattet, bis zum Ende an ihrer Seite zu verweilen, hatten ihn trotz seiner Gegenwehr Blut, Staub und Gebete hustend nach draußen geschleift, während des Gottkönigs heilige Kälte das Feuer noch eingedämmt hatte. Seine rußgrauen Augen hatten die Flammen nicht mehr gesehen, aber sein Körper hatte sie gespürt, hatte das gierige Lecken auf seiner geröteten Haut gefühlt, wie es an seinen Beinen empor geklettert war und seinen Körper vollständig eingehüllt hatte.

An manchen Stellen hatten sich Brandblasen gebildet, und der Schmerz, obgleich nur ein schales Abbild, war dennoch schier unerträglich gewesen. Ausgeblendet hatte er ihn aber nicht, denn es war die Art von Schmerz gewesen, die ihm einst Kraft verleihen würde. Ein Schmerz, welcher der Bruderschaft an sich gehörte, an welchen jedoch nur er sich einst körperlich zurückerinnern würde.

Und das würde er, wenn die Zeit gekommen war. Er würde sich erinnern.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 19.01.17, 03:19 
Einsiedler
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Eine weitere rote Strähne löste sich unter dem metallenen Schaben der zwei gegengleichen Klingen - auf dem grauen Waffenrock fächerte sich das Haar auf und zerstob in mehrere kleine Büschel, die weiter hinab glitten auf den kalten, nur noch von einer einzelnen Kerzenflamme wage erhellten Boden.

Phinnip, der junge Bursche mit der herausgeschnittenen Zunge, trat ein Stück um ihn herum und griff nach der nächsten Haarlocke, während er selbst sein Mündel schweigend in der Reflektion des kleinen Handspiegels bei seinem Tun beobachtete. Der Junge hatte sich, wie immer ohne zu murren, den Änderungen seit Angamonis angepaßt und einfach die ihm aufgetragenen Arbeiten weiter verrichtet - ohne auf die Worte zu reagieren, daß er nun selbst zum Gejagten würde, so er weiter seinen Dienst unter der Anleitung der Bruderschaft wahrnahm. Eine bemerkenswerte Loyalität jenen gegenüber, deren Glauben er nicht teilte.

Vielleicht würde er ja doch eines Tages dem Talfar ta Tardukai folgen?

Die rußgrauen Augen lösten sich vom Spiegelbild des stummen Dieners, legten ich stattdessen auf das Abbild des Fremden davor, welcher den Blick ungerührt erwiderte. Das blasse Grün war an jenem Tag nicht mehr zurückgekehrt, stattdessen hatte das verwaschene, am inneren Rand kaum noch vom Schwarz der Pupillen unterscheidbare Grau nun einen permanenten Platz dort gefunden.

Hand in Hand ging die Farbe mit den harten, kantigen Zügen. Die Wochenläufe seit seiner Rückkehr aus Brandenstein - seit er zurück in die Feste gekommen war, um hier sein Todesurteil abzuwarten - hatten ihre Spuren hinterlassen, alles Weiche, alles Sanfte aus seinem Gesicht herausgebrannt. Zurückgeblieben war etwas, das nicht mehr viel gemein hatte mit dem schwächlichen, emotionslosen und doch so naiven Collnaid, welcher damals im Auftrag der Sakai mit seiner Schwester die Insel aufgesucht hatte.

Sein Auftrag an Phinnip, das störrische Haar zu kürzen, war jedoch weniger dem Wunsch geschuldet, das neue Gesamtbild um eine weitere Änderung zu ergänzen, als schlichtweg aus pragmatischen Gründen entstanden. Er war es leid, das widerspenstige Rot unter dümmlichen Hüten zu bändigen, nur um nicht ständig Strähnen aus dem Gesicht streichen zu müssen. Und er war es leid, welch sprechendes Sinnbild die unkontrollierbare Sturheit des roten Schopfes doch dafür war, vor welche Herausforderung er sie mit seinem eigenen wirren, störrischen Verhalten gestellt hatte.

Und doch, hatte nicht gerade dies die wahre Schönheit ihres perfiden Plans bedeutet?

Sie hatte dieses hilflose, sich hinter Emotionslosigkeit versteckende und doch so sture und aufmüpfige Wesen genommen, und daraus einen Menschen geschaffen. Sie, eine Tardukai, hatte einen warmherzigen, hilfsbereiten Schüler aus ihm gemacht.

Einen jungen Mann, welcher bereit gewesen war selbst den schlimmsten Verrätern vergebend die Hand entgegen zu strecken. Einen werdenden Vater, der ungehemmt um den verloschenen Lebensfunken seines Sohnes hatte Tränen vergossen. Einen sanften Beschützer, welcher sich zwischen einen Dämon und einen Novizen Bellums gestellt hatte, um dessen Leben zu retten. Einen selbstlosen Heiler, welcher Gesundheit und Leben riskiert hatte, um einer seuchengeplagten Stadt durch die schwere Zeit zu helfen. Einen treuen Freund, den selbst ein Licht Jassavias als Bruder bezeichnet hatte.

Sie hatte einen guten Menschen aus ihm gemacht - und dann andere dazu gebracht, ihm diese Menschlichkeit wieder aus dem Herzen zu reißen.

"Valkun ist tot." Nur den winzigsten Bruchteil eines Herzschlages hielt Phinnip in seinem Tun inne bei den Worten, ehe er scheinbar ungerührt die nächste Strähne kürzte. Er hatte den Jungen nie gefragt, ob es der Magister selbst gewesen war, der ihm die Zunge herausgeschnitten hatte. "Zerrissen wohl von einer der Kreaturen, die zu beherrschen er dachte, ohne den einzig wahren Tarkum arn Khathul anzuerkennen."

Die Worte...

... klangen schal und leer.

Selbst vor seinem Eintritt in die Bruderschaft war Rache für ihn ein fremdartiges Konzept gewesen. Ja, der Gottkönig hatte für sich selbst Gerechtigkeit eingefordert, nicht bloß für den Verlust seiner Priesterin, sondern ebenso für die Verfehlungen der letzten Monde, vielleicht Jahresläufe. Der Bruderschaft war die Bürde abgenommen, selbst das Schwert für Seinen Zorn in dieser Angelegenheit zu sein, doch die klaffende Wunde war damit nicht verheilt. Nicht gelindert. Vielleicht gar noch weiter aufgerissen.

Sie hatten eine Tardukai verloren, zu einer Zeit da Schüler rar und von zweifelhafter Ausgangsqualität waren. Der Tod eines Magiers änderte daran nichts, auch wenn er sich diesen in seiner einstigen Menschlichkeit herbeigesehnt hatte, in der Hoffnung dies würde das Gift aus den Ohren seiner Schüler tilgen, in der Hoffnung den Rest Kairoduns wieder auf einem Pfad zu wissen, der dem Horkum Angamon gefällig war.

Er hegte diese Hoffnung nicht mehr, denn Hoffnung war etwas, woran Menschen sich klammerten, und von seiner Menschlichkeit hatte man ihn geheilt. Zurück blieben nur Entschlossenheit und Gewißheit. Ja, die Worte klangen schal und leer, denn es bedurfte keiner Todesnachricht um zu wissen, daß alles seinen Lauf nehmen würde, daß der Gottkönig sich nehmen würde, was ihm zustand und zerstören, was sich Ihm nicht unterwarf.

Und auch für sich selbst hatte er keine Hoffnung mehr, war er ihrer Notwendigkeit doch beraubt nun da er Klarheit hatte. Die Zeit des Aufrappelns war vorbei, und es hatte nicht der Worte des Hory Satais bedurft um zu wissen, daß er nur noch ein einziges Mal fallen würde.

In Ehren und für den Valkai Vandria, dafür würde er Sorge tragen.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 23.01.17, 19:21 
Einsiedler
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Die Schmerzresistenz war nie angeboren gewesen.

Jene Erkenntnis hatte sich in den letzten Monden, nunmehr beinahe einem ganzen Jahreslauf, deutlich abgezeichnet. Dieser letzte Auftrag, und was davor geschehen war, hatte dies nur ein weiteres Mal bestätigt, und es hatte ihn einiges an Kraft gekostet, sich deswegen keine Blöße vor seinem Begleiter zu geben.

Wie einfach dies doch im Vergleich früher gewesen war, bedingt durch die emotionale Selbstverstümmelung, welcher er sich selbst unterzogen hatte - aus Schutz vor den Schmerzen, körperlich wie auch seelisch, welche eine beständige Konstante in den ersten Jahresläufen dargestellt hatten. Lange bevor er diesen Pfad betreten hatte, denn auch wenn dies den Götzendienern nicht in ihre Narrative passen wollte, nur der geringste Teil seiner Narbensammlung rührte aus seiner Zeit bei der Bruderschaft her.

Und ganz offenbar würden wohl keine weiteren hinzukommen.

Einen knappen Blick nur vergeudete er auf sein Handgelenk, auf die Haut darunter, welche nur durch das weite Beugen zwischen den Stahlplatten sichtbar wurde. Jene Stelle, an der sich in den vergangenen Zyklen ein Giftstachen in sein Fleisch gebohrt, sich der tödliche Wirkstoff in seinem Kreislauf auszubreiten begonnen hatte, nur um wenig später als dickflüssiges, schwarzes Sekret aus der Wunde hervor zu sickern und zischelnd auf dem kalten Boden zu verdampfen.

Leise schnaubend wandte er den Blick zurück auf das halbfertige Schriftstück vor ihm und nahm seine Schreibtätigkeit wieder auf.

Mehrmals war er vorhin an den Rand der Bewußtlosigkeit geschlagen worden, die Ereignisse würden jedoch keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, weder körperlich, noch in seinem Gedächtnis. Mehr als er je erwartet hätte, war der tägliche Kampf mit den Kreaturen dieser Insel zu einem Fixpunkt in seinem Leben geworden - eine Pflicht, der man sich hingab, ohne einen weiteren Gedanken darauf zu verschwenden. Wie das beständige Summen einer Mücke, stets gegenwärtig, kaum mehr als ein lästiges Hintergrundgeräusch jedoch.

Dieser eine Schlag jedoch, gut gezielt und wohl weniger auf körperliche Qual ausgelegt, beschäftigte ihn weiterhin. Der Schmerz war längst vergangen, das angestaute Blut hatte sich wie gewohnt rasch wieder zurückgezogen, die Erinnerung aber nagte an ihm.

Er hatte sich gar nicht erst der Versuchung hingegeben, Zorn zu empfinden auf den ursprünglichen Auslöser der Misere. Er alleine trug die Verantwortung für das, was geschehen war, er selbst hatte entschieden, in jener Situation die unbedachte Äußerung von sich zu geben, und er war sich bewußt, daß die Konsequenzen dafür vergleichsweise nachgiebig ausgefallen waren. Es war auch nicht die Zurechtweisung an sich, die ihn beschäftigte.

Es war seine eigene Antwort auf die zweite Frage.

Nur den geringsten Anteil eines Augenblickes hatte er gezögert, und doch lastete diesem Zögern eine tiefgründige Schwere an. "Jah, Hory Satai!" Die Worte hätten sofort erfolgen müssen, denn deren Richtigkeit stand außer Frage, und es war nicht sein Platz, auch nur über die Alternative nachzudenken. Er hatte kein Recht, dermaßen an seinem Schüler zu zweifeln, denn nicht er hatte über dessen Tauglichkeit zu entscheiden.

Und doch, er zweifelte, mehr noch denn an jenem Tag, als sie dem Khetai aufgetragen hatte, sein Vertrauen wieder zu gewinnen. Mit dem Wegfall des Mitgefühls und der Hoffnung hatte auch seine Geduld für seinen Schüler begonnen zu schwinden - nicht weil er nicht gewillt war, weiterhin Zeit in diesen zu investieren, vielmehr einfach weil er nach dem letzten Gespräch keinen Ansatz erkennen konnte, daß dieser jemals Fortschritte machen würde. Wo ihn früher sein menschlicher Beschützerinstinkt angetrieben hatte, da hatte nun sein Pflichtgefühl gänzlich die Kontrolle übernommen - und dieses schrie nahezu, daß er die Zeit der Bruderschaft sinnlos vergeudete.

Nachdenklich legte er die Feder beiseite und überflog die niedergeschriebenen Zeilen. Es war kein Zufall, denn lange schon hatte er aufgehört an bloße Zufälle zu glauben, daß die grauen Augen dabei an einem Satz hängenblieben: "... wobei er deutlich die schlechten Lehrer in der Verantwortung sieht."

Eine interessante Frage, wo die Verantwortung in diesem Fall lag, denn auch ihre Worte zu diesem Thema waren in seinen Erinnerungen verankert. "Elakh votha ta dygh rahtar dukva - nar thidrik vara drik ta votharkta. Godh votha ta dygh rahtar talrend - nar thidrik vara drik ta akarohmarkta."

Die Kunst bestand darin, den Ursprung des Fehls zu erkennen, den Lehrer, den Schüler, oder beide im Wechselspiel - und im Anschluß die entsprechenden Konsequenzen aus der Antwort zu ziehen.

Den Bericht mitsamt der dazugehörigen Zeichnung legte er in seiner Mappe ab, die Gedanken waren dabei jedoch bei einem ersten Lösungsansatz für sein Problem. Er selbst hatte seinem Schüler immer und immer wieder vorgehalten, dieser würde die gesamte Bruderschaft schädigen mit seiner Unfähigkeit, an andere heranzutreten. Es war unumstritten, daß er es nun war, welcher der Unterstützung anderer bedurfte, und er würde nicht aus Angst oder falschem Stolz seine eigenen Worte Lügen strafen.

Er brauchte Rat. Und er würde darum anfragen.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 27.01.17, 17:03 
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"Thirvad dukva, Brawt!"

Die Worte waren einem aggressives Knurren artverwandter denn wirklich menschlicher Sprache - zornig, ungeduldig und von bissiger Feindseligkeit durchzogen. Eine gepanzerte Hand schnellte dazu nach vorne, grub sich erbarmungslos in die Nackenfalte des jungen Wolfes, und obgleich dieser mittlerweile die Ausmaße eines durchschnittlichen Hundes vorweisen konnte, wurde er mit scheinbarer Leichtigkeit am Nacken empor gehoben.

Er fühlte die instinktive Starre des Tieres einsetzen, bewegte den Arm leicht schüttelnd und durchbohrte den Welpen mit einem durchdringenden Blick. Die Reaktion war eindeutig, die graubraunen Augen ängstlich geweitet, das leise Winseln erbarmungswürdig und das einsetzende Zittern deutlich fühlbar.

Wenn er Brawt eines Tages zu einem treuen Wächter der Vikumaktait erziehen wollte, würde er ihm diese armseligen Reaktionen abgewöhnen müssen.

Der nächste Gedanke allerdings galt seinem eigenen Verhalten. Hatte er gerade tatsächlich seinem jüngsten Rudelmitglied suggeriert, er wäre bereit, es zu Tode zu schütteln wie eine bloße Beute, und das nur weil das junge Tier ihn auffordernd mit der Schnauze angestoßen hatte?

Die rußigen Augen wanderten von der verängstigten Kreatur hinüber zu dem wachhabenden Feradai, welcher den Blick recht eindeutig von ihm abgewandt hatte und sichtlich angespannt an seinem Posten ausharrte. Es war nicht ungewohnt, daß er in den letzten Monden bei Weitem härter mit den ihm unterstellten Mitgliedern der Bruderschaft umgegangen war, nicht im Zorn, sondern schlicht im Zuge der Ausbildung.

Nie zuvor aber hatte einer von ihnen erlebt, daß er derart mit den Tieren umgegangen wäre, und es war nicht zu übersehen, daß dieses so ganz und gar atypische Verhalten mehr als nur unterschwellige Beunruhigung im Gefolge des Valkai auslöste.

Er war dabei, die Kontrolle zu verlieren, die Beherrschung, vielleicht sogar den Verstand. Ihm war nicht entgangen, wie sich die anderen in den letzten Tagesläufen immer mehr von ihm zurückgezogen hatten, in seiner Gegenwart wie auf Eierschalen gelaufen waren und stillschweigend sein launisches Anschnauzen über sich ergehen hatten lassen.

Seine Reaktion nun aber führte ihm erst wirklich vor Augen, wie sehr sich seine Irritation mittlerweile tatsächlich in seinem Verhalten widerspiegelte. Wie viele Tagesläufe waren vergangen, seit er zuletzt tatsächlich Erholung im Schlaf gefunden hatte? Seit wann verwehrte ihm nun die Traumweberin schon auf Geheiß des erbarmungslosen Seelensammlers die heilsame Gunst ihrer Träume?

"Godh, Brawt, godh." Langsam ging er in die Hocke, setzte den jungen Wolf wieder auf festem Boden ab. Die Worte waren beinahe sacht gesprochen, eine Seltenheit, wo doch seit dem Tod seiner Lehrmeisterin selbst in ruhigen Momenten eine beständige Kälte Einzug gehalten hatte in seine Stimme. Tatsächlich mußte er sich regelrecht dazu zwingen und die unterschwellige Wut unterdrücken, als er die Hand beruhigend durch das Fell des Tieres wandern ließ.

"Talrardy," forderte er den Welpen schließlich ruhig auf, und dieser ließ sich nicht erst überreden, hastete mit einem eiligen Satz davon.

Wieder wandte er dem Feradai kurz nur den Blick zu, schnalzte unzufrieden mit der Zunge, als er dessen Aufmerksamkeit weiterhin fast verkrampft in die andere Richtung gerichtet vorfand. Mühevoll nur kämpfte er dabei den Zorn herunter, welcher ihn wie eine heiße Welle überflutete und förmlich danach schrie, dem feigen Hund mit der gepanzerten Faust die ungebührlichen Gedanken aus dem Leib zu prügeln, die sich deu...

Betont langsam sog er die kalte Luft des Virk in seine Lungen, hielt sie dort einige Momente gefangen, um sie dann in kleinen, weißen Wölkchen wieder dem Innenhof der Burg zu überantworten.

Godh.

Er ignorierte das unmerkliche Zusammenzucken des Feradai, als sein Schwert aus der Scheide glitt, und richtete stattdessen seinen Blick auf die blank polierte Oberfläche, oder vielmehr auf das geisterhafte Abbild, welches darauf zu erkennen war.

Ein grausam verzerrtes Gesicht, die schwarzen Augen klein und zusammengekniffen, das "Weiß" von unzähligen roten Äderchen durchzogen, welche an manchen Stellen offenbar aufgeplatzt waren und sich als rötlich angehauchte Schicht über den Augapfel verteilt hatten. Mehrere tiefe Ringe zeichneten sich darunter ab, leicht bläulich unterlegt und matt schimmernd, und die sonst schon helle Gesichtsfärbung hatte einen ungesund gräulichen Ton angenommen.

Sein Spiegelbild erinnerte ihn entfernt an die wandelnden Leichname, welche sich im Osten der Insel so gerne auf ihn stürzten.

Ein genervt klingendes Schnauben begleitete seine reichlich abgehakten Schritte, welche ihn durch die seitliche Tür in den Übungsraum führten und von dort die Treppen hinauf in die mittlerweile leergeräumten Archive. Stille herrschte hier im Inneren, seit die Feradai diesen Teil der Vikumaktait abgearbeitet hatten, unterbrochen nur vom Widerhall seiner Stiefel auf dem schwarzen Stein.

Fahrige Bewegungen waren es, mit welchen er in der Mitte des leeren Raumes auf die Knie sank - nur das Ablegen der Klinge vor ihm auf dem kalten Steinboden hatte etwas nahezu Sakrales an sich, und wirklich weit mag dieser Vergleich auch nicht hergeholt sein, da es tatsächlich ein leises Gebet war, in das er einen Moment später versank.

Obgleich es länger dauerte als sonst, bis er tief in sich den dunklen Hauch von Kühle ertasten konnte, so legte sich bald schon sein Bewußtsein über diesen Keim der Stille, begann wie so oft neue Kraft daraus zu schöpfen. Deutlich konnte er ihr Blut durch seine Ader fließen fühlen und beinahe stofflich, weit mehr denn eine bloße Erinnerung, den Nachhall der kurzen Berührung des Horkum Angamons zu den Heiligen Tagen vor nunmehr mehr als einem Jahreslauf.

Er war nicht der gerechte und rechtschaffene Hor, für den er Ihn damals gehalten hatte. Ein wilder, zerstörerischer, von Haß und Mißgunst getriebener Gott, der weder Gnade noch Liebe für Seine Anhänger zu erübrigen hatte, aber Er war des Valkais Gott, und damit auch der seine. Beinahe euphorisch rauschte die Kälte bei diesen Gedanken durch seinen Körper, und er fand keinen Trost darin wie früher, sondern schlicht ein unerschütterliches Äquilibrium.

Die Traumweberin versagte ihm also ihre erholsamen Träume?

Nun, dann würde er eben Ruhe in Meditation und Gebet finden.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 29.01.17, 18:30 
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Die beiden darauffolgenden Tagesläufe hatte er wieder im nunmehr gewohnten Zustand der Ausgeglichenheit verbracht. Er hatte seither nicht wieder versucht, Ruhe im Schlaf zu finden, sich der Gnade der Traumweberin auszuliefern, sondern hatte bewußt die Meditation gesucht, still neben dem Bett kniend, ohne den Lug und den Trug wirrer, unkontrollierter Traumgedanken.

"Mir gefällt Eure herrische Art nicht..."

Doch in diesen Nachtzyklen blieb ihm die Ruhe neuerlich verwehrt, nicht als Strafe der Götzen, sondern aus nur allzu weltlichen Beweggründen. Die Worte hallten in seinen Gedanken wider, wann immer sich seine Augen schlossen, und in seinen Adern loderte heißer, zähflüssiger Zorn.

"... genauso wenig wie sie mir bei Eurer Schwester gefallen hat."

Es war einzig dem Körper zu verdanken, welcher knapp zwei Schritt von ihm entfernt ruhte, daß er nicht mit einem zornigen Aufschrei dem neuerlich entfachten Haß Luft machte. Denn Haß war es, welchen er empfand, nicht weil ihm im nächsten Satz wortwörtlich Hochmut vorgeworfen worden war, nicht weil man Virk und ihn als unzulänglich dargestellt oder ihn über den Willen des Horkum Angamon belehrt hatte.

Schlicht, weil es ein Khetai war, der dies gewagt hatte. Schon wieder.

Ihm war die Erlaubnis erteilt worden, das Leben des Khetai zu bedrohen oder gar zu gefährden, so es die Ausbildung erforderte, und nach jenem Gespräch hätte er von dieser Zusicherung Gebrauch gemacht. Der aufmüpfige Schüler hätte nicht den Tod gefunden, hätte sich diesen am Ende lediglich herbeigesehnt, doch wäre er danach nicht mehr imstande gewesen, das für den Folgetag angesetzte Gespräch zu führen. Und kein noch so insolenter Khetai war es wert, einem Hedery Tardukai die Pläne zu durchkreuzen.

Prüfend begann er sein Innerstes abzutasten, nach einem Restfunken des menschlichen Mitgefühls zu suchen, welches er einst für seinen Bruder empfunden hatte. Er selbst war ein mehr als unzureichender Schüler gewesen, über Jahresläufe hinweg hatte er seine Schwester Virk auf ihrem Weg zurückgehalten mit seiner Schwäche, seiner Untauglichkeit. Er war gestrauchelt und gefallen und wieder gestrauchelt und erneut gefallen. Oft genug hatte er jene Erinnerungen vorgeschoben und sich selbst dazu ermahnt, wie ähnlich er damals doch seinem heutigen Schüler gewesen war.

Doch der Blick durch die rußgrauen Augen zeigte ihm ein gänzlich anderes Bild, als es das von verletzlichen Gefühlen getrübte Blaßgrün getan hatte.

Die Ähnlichkeit war nicht zu verkennen, diese erbärmliche Unbelehrbarkeit und diese grenzenlose Dummheit, doch dort endete sie auch bereits wieder - denn wo er sich verzweifelt weitergekämpft hatte, wo er schwächlich aber zumindest verbissen gewesen war, da konnte er in dem Khetai nicht die geringste Leidenschaft entdecken, keinerlei Willen, alles zu geben für die Erreichung seines Zieles. So sehr er dies auch versuchte, so sehr er sich selbst in die Verantwortung ob des beständigen Scheiterns zog, er sah keinen Rohdiamanten, der geschliffen gehörte.

Er sah ein Faß ohne Boden, in welches die Bruderschaft Zeit und Energie füllte, welches jedoch immer leer und hohl bleiben würde. Wenn es seine Entscheidung wäre...

Nekra.

Es war nicht seine Entscheidung. Das folgende Gespräch mochte darüber bestimmen, ob der Khetai eine Zukunft hatte, und wie diese aussehen würde, er aber würde keinerlei Beteiligung daran haben. Dies war eine Bürde der Bruderschaft, und er würde das Ergebnis mittragen, wie unerklärlich ihm dieses auch aufgrund seines Unwissens noch erscheinen mochte, doch konnte er sich der Weisheit dahinter sicher sein.

Der Zorn begann langsam durch seine Adern zu sickern, sich als kaltes Kribbeln in seinen Muskeln auszubreiten, als er wieder zurück ins Gleichgewicht fand. War unter dem Dreck und dem Gestein doch ein Diamant versteckt, würde der Khetai leben, und die Bruderschaft würde daran erstarken. War er tatsächlich die Zeitverschwendung, die er in ihm sah, würde sich dies Problem alsbald lösen. In jedem Fall würde es kommen, wie es kommen mußte.

Na Onah gedar, medna meh kherinar.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 6.02.17, 16:45 
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Das kleine Bruchstück an Herz, dieses schwarze, kalte Fragment welches nach den Ereignissen der letzten Monde noch in seiner Brust pochte, zersprang neuerlich in Myriaden kleine Splitter, die sich schmerzhaft in seine Eingeweide bohrten. Metaphorisch, und dennoch war der Schmerz fast körperlich zu spüren. Sein Leib bebte, und zum ersten Mal seit jenen Ereignissen an Angamonis durchzuckte ihn ein Gefühl fernab von Zorn, Irritation und Haß.

Trauer, Schuld, yerrodonische Qual, als er den leblosen Körper des Mischlingsrüden unter einem lauten Aufschluchzen an seine Brust drückte. Blut und Innereien verteilten sich auf der grauen Uniform, und es kümmerte ihn schlicht nicht. Liebevoll streichelte er durch das Fell des Leichnams, ein makabrer Anblick wohl, lag der Kopf doch abgetrennt vom Rest des Körpers zu seinen Knien.

Wieder und immer wieder spielten sich die Szenen vor seinem inneren Auge ab, die Angst in Rhidians Blick, dieses Unverständnis, weshalb sein geliebter Mensch das Schwert erhoben und auf ihn niedersausen hatte lassen. Die schonungslosen Worte im Anschluß, welche ihm ohne jede Zurückhaltung vor Augen führten, wie sehr er seinen geliebten Gefährten gequält hatte beim Versuch, ihm ein würdevolles Ende zu bereiten - und wie sehr er versagt hatte, genau dies zu vollbringen.

Er hatte gehofft, Rhidian würde sich wehren, wie ein Kämpfer dem Tod entgegentreten, hatte in diesem Moment so erbärmlich seine eigenen Gedanken auf die des Rüden projiziert und ihm damit ein friedliches, angstloses Dahinscheiden verwehrt. Der treue Vierbeiner aber hatte nicht gekämpft, wäre nie auf die Idee gekommen, sich seinem Anführer entgegenzustellen, selbst nicht im Angesicht von Tod und Verrat.

Schmerzerfüllt und unter Schuldgefühlen, welche auf ihm lasteten einem Gebirge gleich, vergrub er das Gesicht in den ausgeweideten Überresten. Er war ein Mörder, ein Schlächter, keinen Deut besser als die Götzendiener, welche Qual und Grausamkeit über andere brachten unter dem Deckmantel irriger Lügen. Er hatte dieses treuste und liebste Wesen, das ihm bedingungslos vertraut hatte, grausam und langsam geschlachtet mit dem Gedanken, ihn wie einen Kämpfer sterben zu lassen - nicht weil es das Beste für seinen vierbeinigen Schützling gewesen war, sondern weil es war, was ER sich erhoffte, wie ER den Tod finden wollte. Er war ein hochmütiger Heuchler!

Als er den kleinen Körper auf den Feldern hinter der Burg vergrub, da bat er nicht um Vergebung, denn für das Gräuel, das er diesem unschuldigen Wesen angetan hatte, würde er keine Vergebung finden. Wie die Schuld ob seines ungeborenen Sohnes würde er auch die am Tod seines treuen Gefährten mit sich tragen - nicht daß er ihn erschlagen hatte, sondern wie. Und was er dem kleinen Wolfswelpen damit angetan hatte, daß er die grausame Tat vor dessen Augen begangen hatte.

Am Ende kniete er am Grab des Rüden, die letzten Tränen versiegt und sein Herz wieder kalt und doch so schwer. Er wußte, daß er kurz davor war, daran zu zerbrechen - daß jener, der ihm den Auftrag gegeben hatte, diesen letzten Faden ergriffen hatte, an welchem man ihn noch lenken konnte, an welchem man ihn aus dem Equilibrium reißen und ihn wieder zu einem Menschen machen konnte, nur um dann zuzusehen, wie er sich selbst die proverbiale Klinge in den Leib rammte.

Und doch war es ihm nicht erlaubt, zu zerbrechen, nicht an dieser Schuld, nicht an der inneren Zerrissenheit ob seines Bruders, nicht an den wiederkehrenden Erinnerungen an jene Flammen, die ihn seines Fixpunktes, seines Wegweisers beraubt hatten. Sein Leben war nicht das seine, ebenso wie es seine Seele längst nicht mehr war, und so hatte er kein Recht, an den Geschehnissen zugrunde zu gehen.

Also bettete er sein Schwert vor sich auf den kleinen Erdhügel, welcher beherbergte, was vor einem Zyklus noch das Herzstück seines Rudels gewesen war, und den Kopf in Schande gesenkt versank er in Mediation. Er fand nicht zurück zu seinem Gleichgewicht, nein, denn er hatte sich heute selbst das Herz aus der Brust gerissen.

Doch zumindest fand er einige Zyklen der Ruhe.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 9.02.17, 21:19 
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Das leise Schnauben eines der Pferde verlor sich in der Stille des Dunkelzyklus, und beinahe gespenstisch ruhig schien es um sie herum, ehe das erste Knistern zu ihnen hindurch drang. Die Anspannung war nahezu greifbar, doch waren es weniger die Tiere, welche den orangeroten Schein vor dem Hintergrund des tiefschwarzen Himmels mit wachsender Unruhe wahrnahmen, sondern die in Kupfer und Braun gewandeten Gestalten hinter ihm.

Sie waren es gewesen, welche unter seiner Anleitung Holz, Reisig und Heu innerhalb der schwarzen Mauern verteilt, jeden einzelnen der Räume mit dem brennbaren Material ausgefüllt und dafür gesorgt hatten, daß nicht ein Flecken von der durch den letzten, fatalen Luftzug ausgelösten Feuersbrunst verschont bleiben würde. Dennoch, es war eine Sache, den Untergang der altvertrauten Heimat zu planen und die entsprechenden Vorbereitungen dafür zu treffen.

Eine ganz andere jedoch, die Vikumaktait, die Wolfsfeste Siebenwinds, lichterloh in Flammen aufgehen zu sehen.

Er selbst saß aufrecht im Sattel seines Schlachtrosses, den Helm unter dem Arm getragen, beinahe wie ein Spiegelbild des Satai, welcher sein eigenes Pferd herumgewandt hatte und das Ergebnis seiner letzten Tat mit ernster Miene betrachtete. Blickte man in die Gesichter der versammelten Mitglieder der Bruderschaft, so schien es mehr eine feierliche Feuerbestattung zu sein denn ein bloßer Abzug, denn kaum jemand außerhalb ihrer Reihen würde je verstehen, welch ein Opfer dieser für die Männer und Frauen des Fürsten Vandriens bedeutete.

Gierig leckten die Flammen an den Holzverstrebungen des Gebäudes empor, und für den Bruchteil eines Augenblickes durchzuckte ihn die Erinnerung an die unerträglichen Schmerzen, jenes Abbild der Qualen, unter welchen das Feuer seine Lehrmeisterin verschlungen hatten.

Das Gefühl hielt nicht lange an.

Viel zu oft schon hatte er in Flammen aufgehen sehen, was ihm lieb und teuer gewesen war, viel zu deutlich waren die Sinneseindrücke in seinem Gedächtnis verankert, als daß sie noch großartig Schrecken in ihm auszulösen imstande wären.

Der Geruch nach geschmolzener Haut und verbrannten Haaren, als sein Vater vor seinen Augen zu einer undefinierbaren Masse menschlicher Überreste reduziert worden war. Das unangenehme Prickeln auf der Haut, als er während der Aufstände im 14. Jahr des Ketzers durch das brennende Tor seiner einstigen Heimat Eichwehr geritten war. Das von den Flammen der brennenden Burg Grünfurth erleuchtete Gesicht des Tardukai Rhidian von Grünfurth, als sie sich nach dem Niederschlagen der Aufstände nach Savaro zurückziehen hatten müssen.

Ein gewisser Gewöhnungseffekt begann sich einzustellen, welcher die erbrachten Opfer keineswegs schmälerte, sondern schlicht den Schmerz abzutöten begann, der damit einher ging.

Unvermittelt wanderte seine Hand nach hinten, legte sich auf jene Satteltasche, in welcher er das Banner mit dem Wappen des Valkai sicher verstaut hatte. Sie waren Vandrier, nicht wahr? Solange auch nur ein einziger von ihnen seinen letzten Atemzug noch nicht getätigt hatte, war das, was dort vor ihnen gerade lichterloh brannte, nichts weiter als eine Ansammlung von Steinen. Ein Symbol.

Eines, das unablässig durch das nächste ersetzt werden würde.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 12.03.17, 01:14 
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Mit einem befriedigenden Schmatzen bohrte sich die Spitze der Klinge durch die lederne grüne Haut, glitt durch das zähe Fleisch und entlockte den Sehnen ein schnalzendes Geräusch, als sie beim Reißen zurück in das verletzte Gewebe peitschten. Wütend und gequält gleichermaßen zerriß ein Schrei die kühle, regengeschwängerte Luft, ein süßlicher Widerhall gedämpft nur durch das pochende Rauschen des Blutes in seinen Ohren.

Töte ihn. Töte ihn. Töte ihn.

Der Umhang flatterte wild im Wind seiner raschen Bewegungen, zeichnete wellenförmig ihren Ablauf nach als er um die eigene Achsel wirbelte, den Dolch aus der frischen Wunde wuchtete und den eigenen Schwung nutzte, um mit aller Kraft einen schweren Stahlstiefel in die zweite Kniekehle des Feindes zu donnern. Ein Beben, ein Straucheln, schon taumelte der Koloß einen Schritt nach hinten, dann einen zweiten, der massive Körper seiner beiden Stützen beraubt. Der von den ständigen Regenfällen aufgeweigte Boden dämpfte den Fall des Ungetümes, doch verhieß diese letzte Gnade keine Linderung.

Er landete auf der Brust des gefällten Monsters, noch ehe der Schlamm unter ihnen zur Ruhe gekommen war, und seine Hände waren weit erhoben über die häßliche, grüne Visage. Sein Rundschild landete mit einem abstoßend saugenden Schlurfen neben den beiden Körpern im Matsch, und den flachen Griff des Dolches hatte er nun mit beiden Händen umschlungen. Seine Linke ruhte dabei auf dem runden Abschluß des Knaufs, fest um Daumen und Zeigefinger der Rechten geschlossen, um die Waffe mit zusätzlichem Druck tiefer in das Ziel stoßen zu können.

Die geifernde und tobende Fratze unter ihm nahm der Reihe nach die Gesichter von Menschen aus seiner Vergangenheit an, als er tief in sich den Zorn suchte, welcher ihn sein Leben lang begleitet hatte. Nicht die kalte Wut, geboren aus dem Blut das sie mit ihm geteilt hatte, nicht das eisige Prickeln, das ihn von innen her stärkte - sondern die ungezügelte, heiße Glut, die stattdessen den Dolch in seinen Händen nähren würde. Derselbe Haß, der ihn so oft zu verzehren gedroht, dem er in den letzten Monden gänzlich entsagt hatte.

Bewußt rief er sich die Erinnerungen ins Gedächtnis, und er blickte hinab in das Gesicht des Inquisitors, der ihm seine Familie genommen hatte - in das hämische Grinsen des späteren Geweihtenanwärters, der ihn über Jahresläufe hinweg gequält und gedemütigt hatte - in die blutige Visage des Mannes, der ihm seine Loyalität damit gedankt hatte, daß er ihm hatte das Genick brechen wollen - in die...

War es der Haß, der in diesem Moment gänzlich die Kontrolle über sein Handeln übernahm, oder war es der Dolch - vielmehr war die Frage denn zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch gerechtfertigt, oder waren beide ohnehin längst eins geworden, eine unaufhaltsame Macht, welche seine Hände führte?

Wieder und immer wieder ließ er die Klinge nach unten schnellen, sie sich tief in das kreischende Antlitz des Ogers verbeißen, unter dem Splittern von Schädelknochen und dem protestierenden Knirschen des Leders seiner eigenen Handschuhe. Seine Ohren aber waren erfüllt vom zornigen Pochen seines Herzens, vom siedendheißen Rauschen seines Blutes. Das Ziel seiner Attacken zeichnete sich nur noch als verschwommene Masse vor seinen Augen ab - nein, vielmehr war es tatsächlich zu einer undefinierbaren Masse zerschlissen, als er endlich den letzten Hauch von Leben aus dem Leib unter sich entweichen fühlte.

"Das ist MEIN Land!" Der kühle Wind des Var trug seine haßerfüllte Stimme weiter noch als dies hätte möglich sein sollen, der kratzige Aufschrei eines Zornes, der nicht der seine war. Es mochte an Häresie grenzen, denn auch die Worte waren nicht die seinen, als er diesen fremden und doch so vertrauten Zorn ungefiltert durch seine Lungen stieß, um unter diesem wütenden Aufbrüllen ein letztes Mal den Dolch tief in sein Ziel zu treiben.

Schnaufend und besudelt von Blut und grauer und weißer Substanz ließ er den Oberkörper nach vorne sinken, bettete seine Stirn auf die Linke, welche die Rundung des ankhförmigen Dolches weiterhin umschlungen hielt. Die plötzliche Stille um ihn herum, das Versiegen des Kampfrausches ließ ihn ausgezehrt und leer zurück, doch es war eine heilsame Leere, die ihn zum ersten Mal seit dem Tod seines Schützlings wieder gänzlich in sein Equilibrium zurückversetzte.

Sie hatte ihn gewarnt, hatte ihm prophezeit, daß der Dolch ihn an Grenzen führen würde, und daß er selbst herausfinden müsse, welche davon er bereit war zu übertreten. Es gab nur eine einzelne persönliche Grenze, die er nicht bereit war zu brechen - noch nicht, vielleicht auch niemals. Alle nichtpersönlichen Grenzen aber waren Gesetz, und kein Dolch, keine Einflüsterung würde ihn dazu bringen, sich nicht an jene zu halten.

Die Klinge war sauber, wie frisch poliert, als er sie aus dem wild zugerichteten Kadaver zog, denn einem Schwamm gleich hatte sie gierig das Blut aufgesogen, war der pulsierende Lebenssaft im kalten Stahl versickert. Die Überwindung war mittlerweile recht vertraut, welche es ihn kostete, den Dolch in seiner Scheide am Waffengurt verschwinden zu lassen, um die Hände wieder frei zu haben.

Mit einer Ruhe, die man ihm wohl wenige Momente zuvor nicht zugetraut hätte, säuberte er sich notdürftig von den übelriechenden Sekreten und den stählernen Schild vom gröbsten Schlamm. Der leblose Körper wurde seiner Haut beraubt, des guten Leders wegen, aber durchaus auch als Mahnmal an seine Artgenossen, sich nicht weiter in einer Sicherheit zu wähnen, welche stets nur Illusion gewesen war. Dies hier war nicht Ogerland, und würde es auch niemals sein.

Letztendlich schulterte er die Ausbeute, nahm Waffe und Schild wieder zur Hand und wandte sich dann zum Gehen, um ungestört seinen Weg gen Norden fortzusetzen.

Bis zum nächsten Oger, nach dessen Blut der Dolch gierte.

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 Betreff des Beitrags: Re: Große Schwester, kleiner Bruder
BeitragVerfasst: 18.03.17, 06:33 
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"Dir sagt nicht zu, was wir mit ihm getan haben?"

Das beständige Rauschen der Brandung, der salzig frische Geruch einer westwärts gerichteten Luftverwirbelung, Felas helles Funkeln auf den sachte dahinschaukelnden Wellen - die Sinneseindrücke vermochten das angewiderte Würgen der beiden Feradai zu überdecken, den Verwesungsgestank der Leiche, welche diese trugen, den Weg hinab vom entweihten Schrein.

Nicht aber das Schnaufen seines stummen Mündels.

Kreidebleich war das Gesicht des Jungen, als er die makabre Prozession von der inneren Mauer aus verfolgte, seine von harter Arbeit gezeichneten Finger in den kühlen Stein gekrallt. Bei allem, was der Bursch mit der herausgeschnittenen Zunge in seiner Zeit hier auf der Insel nicht nur gesehen, sondern teils selbst schon miterlebt hatte, der verwesende Leichnam schien dennoch etwas in ihm angerührt zu haben.

Schweigend beobachtete er ihn, und einen Moment lang konnte er sich selbst in dem mitleidig verzogenen Gesicht erkennen, einen kurzen Blick in seine eigene Vergangenheit erhaschen. Die Emotionen auf den ungewohnt ausdrucksstarken Zügen waren mehr als nur unangebracht und zeugten von einer Schwäche, welche er in seinem Schützling nicht ewig dulden können würde, doch die eigenen Erinnerungen an jene Gefühle waren noch nicht ganz verblaßt.

Entsprechend konnte er sie nicht gutheißen, sehr wohl jedoch verstehen.

Seine Hände legten sich auf die Schultern den Kindes, eine beschwichtigende Geste, welche er mit leisen Worten unterstrich. Worte, die er oft schon gesprochen hatte, die auch diesmal Nachdenklichkeit auf das Gesicht des Jungen zauberten. Und auch wenn das Schlucken deutlich zu hören war, so quittierte Phinnip sie wie gewohnt mit einem zaghaften Nicken.

Die Feradai, auf sein Geheiß hin geschützt durch Handschuhe und fest um Nase und Mund gewickelte Tücher, hatten das Tor unter ihnen nun passiert, sodaß die beiden die Seite wechseln mußten, um dem Leichenzug weiter folgen zu können. Seine Erfahrungen als Heiler ließen ihn den Zustand des Kadavers dabei mit regem Interesse erfassen.

Nicht Mensch, nicht Tier, waren auch die äußeren Anzeichen der Zersetzung durchzogen von einer Mischung aus menschlicher und tierischer Verwesung. Jene Stellen um Hände um Füße herum, welche nicht von Fell bedeckt waren, zeigten deutlich die grünliche Marmorierung der Blutgefäße. Das Fell wiederum glänzte fettig, beinahe wie von einer feinen Schicht Wachs überzogen. An mehreren Stellen hatte sich die Haut aufgebläht, hatten sich die Zersetzungsgase zu kleinen Blasen aufgeschichtet, und das erste verflüssigte Gewebe war aus der Schnauze des Ferrins ausgetreten.

Ein kaltes Lächeln zeichnete sich auf seinen aufgesprungenen Lippen ab, als er das Fehlen eines nicht ganz uninteressanten Details feststellte. Der Körper hatte begonnen, sich selbst von innen her zu zersetzen, doch nicht ein einziges Tier, nicht eine Made hatte es gewagt, sich dem Leichnam zu nähern und dessen Auflösung von außen zu begünstigen. Der Schrein des Seelensammlers war entweiht, seine Kreatur einem Ritual im Namen des Gottkönigs zum Opfer gefallen - und keiner der widerwärtigen Würmer unter der Kontrolle seines morbiden Horwah würde den Prozeß beschleunigen.

Die Feradai mit ihrer faulenden Fracht waren durch das Tor zum Hafen verschwunden, und in wenigen Momente würde der leblose Körper seinem feuchten Grab übergeben werden. Das Wasser würde die Zersetzung weiter verzögern, den Ferrin aufblähen und ihn unter einer wächsernen Schicht körpereigenen Fettes auf dem Meeresgrund konservieren.

Eine Tatsache, welche er seinem Schützling jedoch nicht offenbarte.

"Zeig mir die Fortschritte," forderte er den Jungen stattdessen auf, um die Gedanken des stummen Dieners weg von den grausigen Bildern und zurück zu seiner Arbeit zu lenken. Und tatsächlich, ein wenig Leben schien in dessen Augen zurückzukehren, als er die Anweisung mit einer tiefen Verbeugung quittierte und sich den Stufen zuwandte.

An derem unteren Ende waren bereits recht deutliche Anzeichen des Umbaus zu erkennen. Phinnip und die Feradai hatten hier große Teile des natürlichen Felsens abgetragen und die so gewonnenen Steine in nach Größe geordneten Stapeln aufgetürmt. Auch der Turm, welcher über den Stallungen der Pferde aufragte, war ihren Spitzhacken teilweise zum Opfer gefallen, um den Anbau eines kleinen Gebäudes nördlich der Mauer zu ermöglichen.

Auf der anderen Seite des inneren Tores zeichnete sich ein recht ähnliches Bild im Burghof ab, welcher neben Baugerüsten ebenso diverse Stapel an verschieden großen Steinen beherbergte. Mehrere Stöße an Holzschindeln waren an jener Wand aufgereiht, wo einst die Schmiede entstehen sollte, teils extra gefertigt aus dem frisch geschlagenen Holz von Bäumen aus der näheren Umgebung, teils abgelöst vom einstigen Dach des Vorbaus beim östlichen Torhaus. Das nunmehr dachlose Gebäude war zugestellt von weiteren Steinstapeln, welche bald schon die vordere Front bis auf einen Türrahmen verschließen würden.

Die Räumlichkeiten dahinter, so wußte er, waren in den letzten Wochenläufen fast vollständig von Schutt und Unrat befreit worden, die letzten Überbleibsel der einstigen Herren des Gemäuers. Phinnip selbst war alle paar Zyklen damit beschäftigt, mit Eimer und Besen den Staub der Bauarbeiten zu beseitigen, sodaß das Lager mittlerweile fast vollständig geräumt und Küche längst wieder benutzbar waren.

Beinahe schon begeistert wirkten die Bewegungen des stummen Jungen, als dieser ihn schließlich zu einem der Fässer führte, welche überall in und vor den Räumen verteilt standen. Eifrig hob Phinnip den Deckel an und deutete ins Innere, welches eine zähflüssige, tiefschwarze Masse offenbarte - und ebenso eifrig deutete sein Mündel auf die Wand dahinter, zu einer Stelle, wo der einst recht helle Stein die dunkle Farbe der Flüssigkeit angenommen hatte.

Er ließ eine Hand schmunzelnd über die Mauer wandern. Was auch immer sich in dem Faß befand, es hatte sich nicht bloß wie gewöhnliche Farbe über den Stein gelegt, sondern war vielmehr in diesen eingezogen und hatte ihm eine beinahe schon natürliche, schwarze Färbung verliehen - nicht ganz unähnlich den Mauern der alten Vikumaktait.

"Godh kherinar, mih kherinkta." Den Blick von der Wand nehmend wandte er sich herum, ließ die rußgrauen Augen über das langsam immer vertrauter werdende Gemäuer wandern. Nun, da die letzten Reste viergöttlichen Einflusses durch das Blut des rituellen Opfers hinfortgewaschen waren, bestätigte sich langsam, was er bei ihrem Abzug aus Finsterwangen bereits empfunden hatte.

Vandrien war ihnen gefolgt, und schon bald würde die neue Wolfsfeste aus dem Wasser ragen, als wäre sie schon immer ein Bollwerk hier am Rande des Geheiligten Landes gewesen.

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