Eiskalte Schauer liefen Larya Wohlauf über den Rücken, als der Heilige Tesan den ersten Schritt von der Bühne herab tat, denn mehr denn fühlbar lag die Spannung in der Luft. Mit einem gezischelten Befehl hieß sie ihre Soldaten an, die in schwarzen Roben gehüllten Personen im Augen zu behalten, während sie selbst ihren Herrn mit ihren Blicken fixierte.
Pfeile lagen auf den Sehnen der Bögen, und die Augen der Cortaner waren auf die dunklen Gestalten gerichtet, als sich der Konflikt unten anbahnte, sich die einstigen Stadtherren dem einzig rechtmäßigen Meister über Luth Chalid, dem Erwählten der Götter entgegen stellten.
Sie riß ihre Armbrust hoch, entsicherte den Mechanismus, als ein kräftiger Stoß aus dem Nichts die Ränge erfaßte und die Männer zum Taumeln brachte. Die Bögen wurden gespannt, doch die ersten Pfeile, gerichtet auf die schwarz Vermummten, wurden durch die unsichtbare Macht abgeleitet.
Um sie herum brach das Chaos los, umringt waren ihre Soldaten plötzlich von schwarzen Skeletten, grausamen Streitern aus den Neun Reichen des Gefallenen Gottes, irdenen Kreaturen unvorstellbarer Macht. Auch unter ihnen tobte der Kampf, doch war der Blick auf ihren Herrn verwehrt, das Sprachrohr Morsans! Ein Stoßgebet an den Schweigsamen, daß Meltem ihn in Sicherheit bringen möge, war alles was sie im Moment für ihn tun konnte.
Mit entschlossenem Blick wandte sie sich herum zu ihren sterbenden Soldaten, welche unter der Übermacht an Kreaturen einer nach dem anderen fielen. Doch der Tod war ihr noch nicht vergönnt, noch würde sie nicht den Frieden in Morsans Armen finden, ehe sie nicht dessen höchsten Diener in dieser Sphäre in Sicherheit wußte!
Erfüllt von einer absurden Mischung aus Zorn und innerer Ergebenheit wurde Bolzen um Bolzen in die Armbrust gespannt. Sie selbst steckte einen Treffer nach dem anderen ein, Pfeile spickten ihren Körper, doch da war kein Schmerz, der sie in ihren Bewegungen hinderte. Die Ränge füllten sich mit den Körpern ihrer Kameraden, aber auch der garstigen Kreaturen, die unter den güldenen Bolzenspitzen reihenweise fielen.
Der zerschlissene Waffenrock hatte längst eine dünklere Färbung von Rot angenommen, und tief in ihrem Inneren wußte sie, daß sie längst tot war, daß nur noch die Loyalität zu ihrem Herrn und die Kraft ihres Gottes sie aufrecht hielten. Schnaufend kämpfte sie sich die Treppen hinab, suchte hinter den Tischen Deckung, doch sie war von Feinden umzingelt, welche sich nun hier drinnen verschanzten, niemanden hinein oder hinaus ließen.
Tesan Valdefort aber, Cortans Hoffnung auf einen strahlenden Sieg, war aus dem Theater entkommen.
Eine unbekannte Macht ergriff sie, schleuderte sie durch den unteren Raum. Sie rollte sich ab, um ihre Armbrust zu schützen, donnerte dabei ächzend gegen eines der Tischbeine. Jemand schlug ihre Waffe zur Seite, fort aus ihrer Reichweite, und ihr blieb nichts weiter, als auf allen Vieren unter die Tische zu kriechen und den wilden Hieben der Kreaturen auszuweichen, welche auf sie gehetzt wurden.
Doch durch all das Chaos und den rasselnden Atem ihrer mit Blut gefüllten Lungen hindurch blieb ihr der Kampfeslärm von draußen nicht verborgen. Tapfere Mannen Cortans, welche sich furchtlos den Angreifern entgegen stellten, für das Recht ihres Herrn einstanden gegen jene Verräter, die sich nun zum zweiten Mal bereits gegen den Auserwählten gestellt hatten.
Sterben, sie würden alle sterben, sich Morsans strafendem Urteil stellen müssen!
Deutlich spürte sie das Leben aus ihrem Körper weichen, mit jeder Bewegung, jedem verzweifelten Ausweichen, doch sie würde nicht loslassen, ehe sie den Retter Cortans nicht in Sicherheit wußte.
Sie konnte Meltems Rufe von draußen in das Chaos im Inneren hereindringen hören, ihre Weisungen, sich neu zu formieren und das Theater zu stürmen, niemanden entkommen zu lassen und ihren Herren mit den eigenen Leben zu schützen, koste es was es wolle. Meltem Ranth, die einzige Hoffnung, Morsans Auserwählten an sein Ziel zu bringen, nun da sie selbst dabei war, ihr Leben auszuhauchen.
Ihr Blick, getrübt durch die Schwäche ihres sterbenden Körpers und das salzige Brennen des eigenen Schweißes, erfaßte viel zu spät, was der Feind plante. Erst als das verräterische Flimmern die Luft der Bühne erfüllte, erkannte sie ihren Fehler. Sie robbte zu der ihr entrissenen Armbrust, eilig spannte sie den Mechanismus, legte einen Bolzen auf...
... doch da war der letzte Feind bereits durch das Portal getreten und hatte selbiges sich hinter ihm geschlossen.
"Sie sind durch ein Portal!" schrie sie den Mannen auf dem Marktplatz entgegen.
Nur wenige Augenblicke zu spät brach auch Meltem endlich durch das verriegelte Tor des Theaters, gefolgt von den treuen Soldaten, welche sich durch die Stadt hindurch zum Theater gekämpft hatten. Larya versenkte einen letzten Armbrustbolzen in die einzig noch verbliebene Kreatur, welche im nächsten Moment von Meltems Klinge niedergestreckt wurde, und die Schützin brach kraftlos auf die Knie.
"Wo ist es?! Dieses feige Pack?!" Meltems gerechter Zorn war deutlich in ihrer Stimme zu hören.
"Portal..." Sie war kaum noch in der Lage, ihre Antwort zu formulieren, denn mit jedem Atemzug füllten sich ihre Lungen nur weiter mit ihrem eigenen Blute. "Durch ein Portal... verschwunden. Sie sind... entkommen..."
Ihr Kopf war demütig gesenkt ob ihres Versagens, als Tesan Valdefort das Theater betrat und sich seinen Weg durch die unzähligen Leichen bahnte, um sich ein Bild von der Verwüstung zu machen. Dutzende Körper toter Kreaturen bedeckten den Boden, unbedeutende Handlanger, doch zwischen ihnen lief das rote Blut unzähliger tapferer Cortaner, welche ihr Leben gegeben hatten, der fürchterlichen Übermacht letztendlich erlegen waren.
"Abmarsch!" befehligte Tesan Valdefort harsch, und die beiden Streiterinnen folgten ihm ohne zu zögern.
Draußen auf den Straßen war mittlerweile eine unerbittliche Schlacht ausgebrochen, zwischen brennenden Häusern und panisch flüchteten Bewohnern standen sich Cortaner und Endophali in einem Kampf auf Leben und Tod gegenüber, weitere Leichen begannen den Boden der einst stolzen Stadt zu pflastern.
Rauchschwaden drangen ihr in Augen und Nase, sie verlor den Blick auf Meltem und ihren Herren. Verlor den Blick auf alles, da war nur noch Ruß, und Dunkelheit und Schmerz. Die ängstlichen Schreie, der Kampfeslärm, das tosende Knacken unzähliger Feuer, all das verschwand langsam im Hintergrund. Nur noch das gleichmäßige Schlagen dunkelgrauer Schwingen hallte in ihren Ohren wider.
Mit einem Lächeln ließ sie die Armbrust zu Boden gleiten, streckte ihre Hand kraftlos dem dunklen Vogel entgegen und ließ sich von der Sanftheit Seiner Umarmung einhüllen.
"Bring mich nachhause..." flüsterte sie mit ihrem letzten Atemzug.
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