Es bedurfte einiger Tage um sich zu aklimatisieren. Der fehlende Wechsel von Hell- und Dunkelzyklen, keine Sterne, kein Mond und keine Fela, auch wenn deren Licht an diesem Ort eingefroren war, einem Ort, an dem kein Uhrwerk und keine Sanduhr ihren Dienst verrichteten, nein, nichts hier half einem dabei so etwas wie ein Zeitgefühl zu bewahren. Dennoch klammerte man sich anfangs unwillkürlich daran, zu vertraut war man damit, sein gesamtes Leben dem Wechsel von Fela und Monden unter zu ordnen, damit sein Leben dem Takt der anderen an zu passen, aber hier war niemand außer ihr. Die Zeit hatte an diesem Ort keine Macht. Über nichts und niemanden. Es wurde leichter wenn man dies begriff und lernte einfach los zu lassen. Zu schlafen wann man es wollte ohne sich zu fragen ob es die rechte Zeit sein mochte. Zu essen was man wollte ohne sich zu fragen ob es nicht zu früh oder zu spät dafür war. Die rechte Zeit, zu früh oder zu spät, das gab es hier nicht, hier gab es nur das hier und jetzt. Tue wonach Dir ist. Nicht hinterfragen, einfach handeln, sich dem Augenblick und seinen Wünschen hin geben. Schlafen, essen, baden, beten, nachdenken, spazieren, klettern, singen, tanzen, fühlen, für all das gab es hier nur eine Zeit: Wann immer einem danach war.
Verständlich, dass die Elfen die diesen Ort fanden ihn als vitamanah empfunden haben mussten. Keinerlei Zwänge und das musste man sich zweifelsohne ein gestehen, dieser Ort war schön. So befremdlich er auf die meisten auch wirken mochte mit seinen Bäumen die unter der Erde wuchsen, er hatte etwas beruhigendes an sich, das man nur schwer in Worte fassen konnte wenn man die rechten Worte nie gelernt hatte. Ein wenig verwunderte es sie nach wie vor was die Elfen aus diesem Ort gemacht hatten und wofür er heutzutage gehalten wurde. Wie alle die Bauten bestaunten, die Statuen, die Tafeln in einer Sprache, die heute nicht einmal mehr die Elfen sprachen. Dabei waren die Gebäude in dieser Höhle nicht einmal annähernd das Älteste an diesem Ort. Mit einer Hand strich sie über den knorrigen Eichenstämme der Mutterbäume. Nicht einmal annähernd. Gebäude aus Holz und Stein, nein, die ersten die diese Höhle nutzten hatten keinen Bedarf für schmucke Steinbauten und verzierte Holztafeln, was sie errichten wollten war etwas ehernes, etwas wahres, etwas lebendiges. Etwas Gutes. Etwas, das alle Zeiten überdauern würde. Es war eine gute, eine starke Höhle, der Zirkel der hier gelebt hatte hatte mit Sicherheit Großes bewirkt. Wie sie wohl entdeckt worden war? Waren sie einfach fort gegangen? Waren sie auf gegangen in ihrem Werk? Oder war ihr Volk dem Untergang geweiht gewesen und so nahmen sie die jungen Völker und führten sie an diesen Ort? Sie würde es nie wissen, aber das war auch nicht erheblich. Wichtig war einzig was diese Völker aus diesem Ort gemacht hatten, wie der Wandel doch noch an einem Ort der keine Veränderung kannte Einzug gehalten hatte. Früher mochte dies eine Hexenhöhle gewesen sein, ein Hort der Erdmutter und ihres Wurzelwerkes, aber heute war dieser Ort vor allem ein kleines Wunder. Der vielleicht älteste noch existierende Schrein Vitamas, den je eines Menschen Auge angesichtig wurde.
So lag sie im hohen Riedgras, die Hände im Nacken verschränkt und starrte an die Höhlendecke. Sie war nicht grundlos genau jetzt genau hier. Sicher, sie war gerne hier, damals schon und heute um so mehr, aber noch war da der Grund weshalb sie hier war. Ein Grund, der es ihr unmöglich machte sich wirklich auf diesen Ort ein zu lassen. Ein Grund an dem es einen Hebel an zu setzen galt.
Etwas ironisch an einem Ort der keine Zeit kannte über Vergangenheit und Zukunft zu sinnieren, aber vielleicht machte gerade dies ihn auch zum perfekten Ort dafür. Wo es keine Grenzen gab, da konnten die Gedanken und Herzen wirklich frei sein um über Tare und die Götter nach zu sinnen. Ihre Miene verfinsterte sich und der einzelne Qwn, der sich ihr genähert hatte als sie ein wenig auf der Laute gespielt hatte, entfernte sich wieder. Noch verstand sie das Muster an Licht- und Tonfolgen nicht mit der diese Kreaturen wohl miteinander kommunizierten, aber sie hatte ja noch Zeit. Bisher konnte sie nur sagen, dass hohe, helle Klänge ihnen besser gefielen als dunkle und dass sie getragene Melodien den raschen vorzogen. Alles etwas eigen aber sie war zuversichtlich, dass dem eine tiefere Logik zugrunde lag, die sich ihr noch erschließen würde. Was man bei dem Thema das ihr die Stimmung verhagelte nicht behaupten konnte.
Letztendlich konnte sie es reduzieren: "Du bist zu klug für Vitama." "Du bist zu zornig für Vitama." "Du hast einen zu ausgeprägten Gerechtigskeitssinn für Vitama." Seltsame Vorstellung. Dass man zu viel von den Vieren in sich haben konnte um ihnen nahe sein zu können. Dennoch wurde diese Vorstellung der Viere immer wieder gepredigt. Beim ersten mal hatte sie noch darüber gelacht. Mittlerweile blieb ihr das Lachen im Hals stecken, denn hinter diesen wenigen Worten stand so viel.
Zu klug für Vitama, als wäre der Glaube nur etwas für die Dummen und die Schwachsinnigen. Wenn die Klugen sich nicht den Vieren zu wenden konnten obwohl doch Intelligenz oder auch Logik einem von ihnen als Gabe zu zu rechnen waren worin lag dort die Logik? Und wenn man den Gedanken weiter sponn? Konnte man demzufolge auch zu weise sein um zu den Vieren finden zu können? Oder zu gütig?
Zu klug für Vitama, als würden die Viere sich gegenseitig im Wege stehen, einander behindern. Tief drinnen war das das Gottesbild der anderen, jeder für sich allein, jeder mit seinen ganz eigenen Gaben und Tugenden, die im Widerspruch zueinander standen. Vieregefällig, das gab es in in einer solchen Glaubenswelt nicht, sondern immer nur das was einem Gott allein zusagt. Tugendhaftigkeit gab es nicht. Wenn man drei der Vier von sich stieß wenn man sich einem zu wandte, dann konnte man nicht vieregefällig sein.
Zu klug für Vitama. Wenn die Viere schon einander im Wege herum standen, wenn das ihr Wesen war, dann waren all' die Grabenkriege innerhalb der Kirche logisch, ja göttergewollt und jeglicher Versuch diese Streitigkeiten bei zu legen nicht in ihrem Sinne.
Zu klug für Vitama. Was erwarteten sie von ihr? Sollte sie die Viere darum bitten sie blind, dumm und gleichgültig zu machen damit sie sich leichter einfügen konnte? War es das was in ihrer Welt eine Geweihte aus machen sollte?
Sie schnaubte aus. Auch ein Weg sich alles schön zu reden. Tugenden zu predigen und das Gegenteil vor zu leben. Eide und Gelübde, kaum ausgesprochen schon gebrochen, Intrigen um die Vormachtstellung innerhalb der Kirche, Recht und Gerechtigkeit zu preisen aber zugleich nicht nur nicht durch zu setzen, sondern die Durchsetzung zu verhindern, ihr fielen auf Anhieb Dutzende Gelegenheiten ein bei denen die Kirche ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurde und das wirklich schlimme daran war die völlige Gleichgültigkeit dem gegenüber. Bei anderen verurteilt, vor allem wenn sie das taten was man selbst gerne tat, bei anderen, ja, aber bei einem selbst nie. Zwei, drei Tage in Roben herum laufen um allen zu zeigen was für ein vorbildlicher Gläubiger man war und danach konnte man schamlos weiter machen als wäre nie etwas gewesen. Alles vergeben und vergessen. Um den angerichteten Schaden brauchte man sich nicht zu kümmern und man tat es auch einfach nicht. Vergeben und vergessen. Das war woran die meisten zerbrachen. Als Anwärter lehrte man sie auf zu sehen. Alles war neu, man nahm es an wenn es wie eine Flut über einen herein brach. Zeit zum Hinterfragen blieb keine. Das kam später, als Novize. Als Novize hatte man die Zeit zum Hinterfragen und das Gelernte an zu wenden. Taten vor Worten. Fromme Worte gab es hier reichlich. Fromme Taten dagegen nicht, nicht einmal den Willen dazu. Dieser Konflikt war nicht auf zu lösen. Wenn man das was man gelehrt bekam nicht anwenden konnte, wenn die Messlatte die man an andere an legte immer höher war als die die man an sich selbst an zu legen gewillt ist, dann war das ein klassisches Dilemma ohne Lösung. Klassisch genug um so manchem Novizen das Genick zu brechen. Wenn man die Wahl hatte zwischen den Vieren und der Kirche, weil man nicht beides zugleich haben konnte, da man entweder an den Vieren wie sie gepredigt wurden oder an dem was tatsächlich vor gelebt wurde fest halten musste und beides nicht zu vereinbaren war, dann trafen die meisten wohl die richtige Wahl. Unter den Blinden mochte der Einäugige König sein, aber der Sehende war eine Bedrohung für die Stellung des Königs. In der Folge waren die die übrig blieben dadurch diejenigen, die lieber im Konflikt mit den Vieren als im Konflikt mit der Kirche lebten, dass meisten die die Viere wirklich haben konnten nur aus einem von zwei Lagern stammen konnten. Aus denen die diesen Konflikt nicht wahr nehmen konnten und jenen die sich für die Kirche und gegen die Viere entschieden hatten. Die Selbstdarsteller, die Selbstverliebten, die Selbstgerechten, die Selbstsüchtigen, die denen es bei ihrem Dienst nie um andere gegangen war, sondern immer nur um sich selbst. Und die Viere? Die hoben sie weiter und weiter empor. War das logisch? Gerecht? Gnädig? Sie wusste es nicht, sie kannte den Plan der Götter nicht. Oberflächlich betrachtet war die Antwort nein. Nach menschlichem Verständnis wäre es logischer, gerechter, wenn sie sich die erwählten, die ihnen tatsächlich nahe standen. Also alle anderen ja, nur eben nicht diejenigen, die sich dafür an boten. Oberflächlich betrachtet wäre das logisch. Gerecht. Es würde sogar Frieden schenken. Unter der Schale jedoch fehlte dieser Überlegung das mitfühlende. Wenn man sich davon löste, wenn man weiter zum Kern hin vor drang, dann blieb die Frage welche Wahl ihnen blieb. Entweder diese oder keinen. In der Not fressen Dämonen Fliegen sagte das Sprichwort. Was aßen wohl Götter in ihrer Not, wenn man sie so weit in eine Ecke drängte in der es nur noch diese eine Entscheidung gab? Keiner war keine Option, keine wirkliche. Somit folgte das was sie taten einer übergeordneten Logik. Sogar einer übergeordneten Gerechtigkeit. Es schenkte wenn auch auf eine sehr eigenwillige Art Frieden und, das musste sie anerkennen, es war definitiv mitfühlender, gnädiger, liebevoller als die Alternative die keine war.
Sie seufzte langgezogen. Sie war müde. Zu kämpfen laugte aus auf Dauer, insbesondere dann wenn man allein stand. Die Sünde war verlockend genug um süchtig zu machen. Aber ein Süchtiger musste selbst trocken werden wollen ehe man ihm helfen konnte. Alles andere erbrachte nichts außer, dass man sich an ihm und seiner Sucht auf rieb. Der Punkt war: Sie konnte niemanden zwingen frommen Worten auch fromme Taten folgen zu lassen. Man konnte andere dazu ermutigen, das ja. Aber der Wille war frei. So wie der ihre. Eine Entscheidung hatte sie bereits getroffen, denn das Ironische, das wirklich aberwitzig Komische an all' dem war, dass all' diese Erlebnisse, all' dieses Wissen ihr nicht weiter helfen konnten. Sie wollte vergeben, aber das Wissen darum, dass die anderen keine Vergebung wollten, sondern einzig Straffreiheit, dass sie das was es zu vergeben galt wieder und immer wieder tun würden ohne den Hauch eines schlechten Gewissens hinderte sie daran vergeben zu können. Wenn Vergebung als Waffe wider die Viere benutzt wird, wenn Recht zu Unrecht wird und Gerechtigkeit zu Ungerechtigkeit, dann war dies nicht der Weg der Viere. Zumindest nicht der Viere an die sie glauben wollte, die Viere, die einander nicht Messer in den Rücken rammten und ihre Diener dazu an stachelten es ihnen gleich zu tun. Deswegen war sie hier. An einem Ort an dem man lernte los zu lassen. Von allem das einen belastete, allem das einem im Wege stand.
Bisher war sie direkt vor gegangen. Gegen Unrecht ging sie mit Recht vor, gegen Ungerechtigkeit mit Gerechtigkeit. Aber man konnte beidem auch mit Güte begegnen, denn letztendlich galt es sich die eine Frage zu stellen: Welches Ergebnis wollte sie erzielen? Vitama war keine strafende Gottheit. Und sie selbst? Eine Strafe die nichts veränderte, die das Recht nicht schützte, die Gerechtigkeit nicht mehrte, die niemandem Frieden oder Vergebung schenkte war nicht das was sie wollte. Niemand brauchte eine solche Strafe. Wenn nun aber schon der bloße Hinweis auf Missstände als Strafe empfunden wurde, als etwas, gegen das man sich mit aller Gewalt stemmte, weil nicht wahr sein konnte was nicht wahr sein durfte, was dann? Ihr Ansatz war gescheitert. Es war überfällig sich dies ein zu gestehen und los zu lassen. Vor allem von allem was sie davon ab hielt los zu lassen. Die weltlichen Dinge zuerst.
Sie drehte die einzelne Perle zwischen ihren Fingern hin und her, betrachtete die Reflektion des Lichts auf der weißlich schimmernden Oberfläche. Das war es also, alles was blieb von etwas, das sie als Geschenk empfunden hatte, das sie genau deswegen sah wie sie es sah auch wenn sie damit alleine stand. Sie erinnerte sich an die Worte. Die Perle als Symbol für das Schöne, das vergangen ist, das Süsse, das man nicht mehr miteinander teilt. Der Essig, umgeschlagener Wein, als Symbol wie das was einst war bitter geworden war, so bitter, dass keiner mehr davon kosten wollte.
Seinerzeit hätte sie es gerne gemeinsam durch geführt, aber er hatte mehr als deutlich klar gemacht, dass sie beide die Dinge mit völlig anderen Augen sahen. Sei es darum, die Erfahrung war wertvoll für sie und das es ihr half wieder auf Kurs zu kommen machte es zu etwas Gutem, auch wenn es sich nicht so an fühlte. Aber auch das musste wohl so sein, es zeigte, dass es Bedeutung hatte.
Sie ließ die Perle in den Essig fallen. Ein leises Zischen während sich rund um diese herum weißlicher Schaum bildete, als die Perle auch schon begann sich in dem Essig auf zu lösen.
"Herrin Vitama, Schenkerin des Lebens und der Liebe,
Wir danken Dir für das Geschenk der Liebe das Du uns überbracht,
Das Geschenk das wir geteilt und genossen.
Doch wie die Blüte zur Frucht reift,
Das Schöne dem Zweckmäßigen weicht,
Wie für jeden Reisenden die Zeit des Abschieds kommt,
So ist es auch für uns an der Zeit weiter zu ziehen
Uns anderen Gefährten zu zu wenden
Uns in ihnen zu finden so wie sie sich in uns wieder finden.
So bitten wir Dich um die Auflösung des Alten,
Auf dass eine neue Liebe erblühen kann,
Wo die alte welk geworden ist,
Auf dass das Alte dem Neuen fruchtbaren Grund biete,
Dass es stark werde und rein und gut
So wie Du. Ael."
Sie schlug einen Halbkreis über dem Kelch mit dem Essig, dessen Oberfläche mittlerweile wieder glatt geworden war. Kurz horchte sie in sich hinein. Sie hatte Traurigkeit erwartet aber da war nichts außer Erleichterung. Eine Hürde genommen. Die erste.
Sie setzte den Kelch an und trank den Inhalt aus. Brr. Widerlich. Sie griff nach einem Apfel und verschlang ihn in Rekordzeit, ehe sie den Kelch im Wasser aus wusch und behutsam ab trocknete und in dessen Kästchen einbettete.
Einer der Qwns näherte sich ihr langsam erneut. Sie griff zur Laute. Wäre doch gelacht wenn wir keine gemeinsame Basis fänden.