Einen Brief zu bekommen war für Tendarion Alltag. In den meisten Fällen waren es Berichte und Anfragen für ein Treffen, wenn es um etwas mehr als nur einen freien Tee und eine warme Mahlzeit ging. So war auch der Brief mit dem einfachen Siegel nicht weiter verwunderlich und Tendarion öffnete ihn sofort. Je nach Inhalt könnten sich die Prioritäten seines Tages nachhaltig ändern, deswegen schob Tendarion das Lesen sämtlicher Korrespondenz nur selten auf. Die ersten Zeilen waren gewohnte Rhetorik, die Tendarion stets anwandte, wenn er das Wissen einem ihm wenig bekannten erlangen wollte und direkt auf den Punkt kommen wollte. Das was danach folgte hatte jedoch seine gesamte Aufmerksamkeit erlangt. Sein Blick schweifte zum Unterzeichner des Pergaments. Kein Name den er mit dem Magistrat verbinden konnte. So wurde aus mildem Interesse eine deutliche Neugier. Tendarion erinnerte sich an zwei oder drei Begegnungen mit diesem alten Mann. Nichts davon ist ihm im Gedächtnis geblieben, außer die Tatsache, dass ein gewisser Erzmagier ihn an mehreren Stellen lobte, als wäre Ignatius von Astrael selbst gelehrt worden. Dadurch hatte Tendarion das kollegiale Interesse an dem alten Mann gänzlich verloren. Lediglich erhaschte er als Heiler ab und an aus dem Augenwinkel einen Blick auf ihn. Auch ein Magier in diesem fortgeschrittenen Alter hatte ein Problem damit den körperlichen Verfall auszugleichen. Und Galtor stand in dem Schatten des Mannes ohne jeden Zweifel. Tendarion dachte an ein Gespräch das er vor kurzem führte: Verzweiflung und Wahn ist es, der Menschen dazu treibt diesen Weg gehen zu wollen.
Seine Verwunderung über den Inhalt und den Autor wandelte sich in Resignation. Er ahnte warum gerade seine Magisterarbeit diesen alten Mann animierte mit ihm reden zu wollen.
Tendarion verfasste eine kurze Antwort und ging den kurzen Weg über den Markt. Es dauerte nur wenige Zyklen, als Tendarion gerade im Begriff war sich aus dem Vitamaschrein etwas zu trinken zu holen, da hörte er das leise fluchen, ob der Treppen die in die Bibliothek in der Kathedrale führten. Kurzerhand zwei Becher und Apfelkuchen holend lud er ihn in das Büro der Bibliothek ein. Es war beim besten Willen nicht das erste Gespräch das Tendarion in dieser Art führte. Mittlerweile fühlte er sich sicherer mit Widersachern gegen das wofür die Sahor stehen zu sprechen, als mit seinen eigenen Verbündeten.
Kurz schweiften Tendarions Gedanken zu all den verlorenen Freundschaften, weil er das Seelenleben über das eines sanften Herzens stellte. Die persönlichen Anfeindungen und Kränkungen, die nur daraus geboren wurden, dass Tendarion keine Geduld mehr für jene aufwies, die in allem nur eine Kränkung und Beleidigung sehen wollten, wenn es über Worte der Liebe und Zufriedenheit hinaus gingen. Tendarion spürte wieder diesen bellumsberührten Zorn in sich aufwallen. Er drängte sich nicht als Lehrer auf, für jene die der Meinung waren persönliche Bindungen waren höher einzuschätzen als das Große Ganze. Wer den Sahor nicht folgen wollte, der musste nicht nach seinem Rat fragen. Wer den Sahor nicht folgen wollte, der musste nicht auf seinen Sanftmut hoffen. Wer den Sahor nicht folgen wollte, erlangte Tendarions Desinteresse.
Beherrsche deinen Zorn, du dummer, ungehaltener Fey.
Tendarion griff nach einem Kuchenstück, während er den Mann mit sanften Worten von dem vorgeschobenem Thema weglotste um den Inhalt des eigentlichen Gespräch stattfinden zu lassen. Das Kauen hatte den gewünschten Effekt und er lenkte seinen Zorn in den mechanischen Vorgangs der Verzehrung der Speise und fokussierte seinen Geist auf den alten Mann. Wenn er nur eine Feinheit überhörte oder nicht beachtete, hatte er die Seele eines Sterblichen dazu verdammt sich Morsan zu entziehen. Keine Verantwortung die Tendarion tragen wollte.
Irgendwann fiel die Maske des anderen und alle Indizen zuvor wurden zu einer Wahrheit, die Tendarion sich bis dahin dachte und schließlich in den Worten des Alten Bestätigung fand. Der Zorn war vergangen und die Gedanken an die eigenen querolantischen Verbündeten schwanden - es ging hier um einen Mann der Hilfe benötigte. Dessen Seele sich bereits jetzt schon den Sahor entzog und letztenendes ganz entschwinden würde, wenn Tendarion seine Worte und sein Handeln nicht weise wählte. Tendarion erkannte, dass er genügend Vertrauen aufbauen konnte, dass er wusste, dass dieser Mann sich wieder an ihn wenden würde. Und er würde es nicht ausnutzen, denn es war ihm mehr als bewusst, dass die Hürde, die sich der alte Mann selbst auferlegte, eine sehr Große war. So hatte Tendarion einen sehr schwachen Trumpf in der Hand, auf den er nun alles setzte.
Kein Druck. Keine Vorwürfe. Dieser Mann suchte einen Helfer, keinen Richter.
Astrael zu dienen war keine Schlacht die er gewinnen musste. Er war der Späher, der vor jeder Schlacht ausgeschickt wurde um Informationen vom Feind zu erlangen um mit diesem Wissen den Krieg am Ende gewinnen zu können. Tendarion schmunzelte zu sich selbst.
Maichellis hatte Recht. Bellum scheint mir mittlerweile näher als Vitama. Der Kampf scheint mir mehr Ruhe zu bescheren als dieses elende gefühlsbetonte Theater, in dem sich die Menschen ständig suhlen, als wäre es der einzige Lebensinhalt.
Das Schmunzeln verging. Leere in seinem Herzen stellte sich ein. Er hatte keine Zeit sich um diesen Unfug zu kümmern, der ihm von jenen auferlegt wurden, die ihn einst gebeten haben sie zu lehren und nun diese Bitte gegen ihn verwendeten. Tendarions Bußerobe war mittlerweile am Saum schon verdreckt. Er fragte sich wie lange er sie tragen musste. Aber er hatte die Vermutung, dass die Erkenntnis nie eintreten würde, denn die Schuld wurde - wie stets - nur bei dem Elfen selbst gesucht. Er hatte genug davon als das Problem gesehen zu werden, nur weil er nicht mehr ausnahmslos Köpfe streichelte, sondern auch sanfte Schläge auf den Hinterkopf verteilte. So setzte er ein Zeichen, auch wenn er nicht darauf hoffte, dass die Personen, an die sich das Zeichen richtete verstehen würden.
Der alte Mann hingegen benötigte seine Unterstützung und war dankbar dafür, dass er auf Tendarions Aufrichtigkeit setzen konnte - und das obwohl sie alles andere als sanft war.
Tendarion war auch ihm dankbar dafür. Denn für jene Momente diente und lebte er.