Iomine lag auf ihrem Bauch und begutachtete im schummrigen Licht ihrer Wohnung die Decke ihrer kleinen Hütte. Sie war schon vor einigen Momenten aufgewacht, doch rührte sie sich nicht, sondern verharrte fast bewegungslos. Grund war ihr weißer Mischling Wurzel, der die Nacht in ihrem Bett verbrachte und derzeit mit seinem etwas klobigen Kopf ihren Bauch beschwerte, ein Schlappohr über diesen gelegt. Würde sie aufstehen, würde ihr Hund sofort wach werden, und dann würde die morgendliche Ruhe fröhlichem Bellen und einem viel zu kalten Morgenspaziergang weichen. Nicht dass sie diese Spaziergänge störten. Nur ein paar Minuten länger.
Sie dachte zurück an den gestrigen Abend, an ihr Gespräch mit der Seherin des nun nicht mehr existenten Zirkus. Sie hatte ihr eine neue Aufgabe angetragen. Nicht, dass sie dieser nicht sowieso gefolgt wäre, alleine schon um ihr eigenes Heim zu schützen. Zu sagen, dass auf solchen Dingen wie Drachen zähmen kein Segen lag war eine ziemliche Untertreibung. Außerdem würde so ein Lindwurm garnicht in ihre Wohnung passen.
Als Dank für diese neue Lebensaufgabe hatte sie eine Kartenlesung bekommen. Sechs Karten, sechs Deutungen. Vergangenheit, Gegenwart, Beruf, Gesundheit, Liebe und Todesursache. Optimisten würden dies als Rundumpaket bezeichnen, Herr Mümmel bezeichnete es etwas abfällig als Touristenmuster. Sie wollte sich nicht beschweren und hatte sich die Deutungen der anderen Frau geduldig und aufnahmebereit angehört, aber wenn sie daran zurückdachte, musste sie ihrem Stofftier zustimmen. Die Karten waren gut gelegt, doch schlecht gedeutet.
Ihre Vergangenheit...
Eine Vergangenheit der Krankheit. Sie kam aus Morthum, also war das schonmal selbstverständlich. Dass ihre Mutter verstarb und sie selbst häufig krank war machte diese Karte noch genauer. Und zuletzt war nicht nur ihr Körper, sondern auch ihr Geist erkrankt. Nicht, dass sie dies störte, auf Siebenwind lebten genug Verrückte, dass sie sich sehr wohl fühlte. Die meisten grüßen sogar ihr Stofftier.
Ihre Gegenwart...
Eine Frau, die am Ufer stand und aufs Meer hinausblickte. Die Kartenlegerin hatte dies als Nachdenklichkeit und Unentschlossenheit interpretiert, doch es bedeutete so viel mehr. Sie stand fest auf dem Boden ihrer eigenen Magie, ihres eigenen Glaubens und Könnens und blickte hinaus in die weite, fremde Welt der akademischen Magier. Sie konnte in das Wasser waten, einige Schwimmzüge machen, vielleicht sogar weit hinausschwimmen und tief darin eintauchen, aber sie würde doch stets eine Kreatur dessen sein, was sie war. Das bedeutete nicht, dass sie Irrwege ging. Wie eine Perlentaucherin würde sie die Wellen durchdringen, in die Tiefen eintauchen und alles, was für sie wertvoll war einsammeln und mit sich an Land bringen, wo es ihr nützlich war. Sie würde nicht das Meer für ihre Heimat halten, denn dies konnte nur damit enden, dass sie in ihm ertrank.
Ihr Beruf...
Die Kartenlegerin meinte, dass ihr närrisches Verhalten ihr im Wege stehen würde und andere deshalb auf sie herabblicken würden. Doch der Narr bedeutete mehr als dies. Er stand für den Beginn einer Reise und für grenzenloses Potential, und viel mehr noch stand er für den Narr im eigentlichen Sinn. Der Narr war ein wichtiges Mitglied jedes Fürstenhofes, denn dank seiner Narrenfreiheit konnte er unangenehme Wahrheiten aussprechen und sich fern von höfischem Gezanke darum kümmern, klare Einblicke zu verschaffen. Solange der Narr diese Rolle meisterte, würde er mächtig sein, doch würde ein Narr sich zum Fürsten aufschwingen wollen, so wäre er ein Narr im anderen Sinne. So stand er dann auch dafür, seinen eigenen Platz in der Welt zu erkennen und diesem gerecht zu werden.
Ihre Gesundheit...
Die Eiche stand für beständiges Wachstum und ausdauernde Kraft. Tatsächlich war Iomine in den bald anderthalb Jahren ihres Aufenthalts auf Siebenwind auch körperlich robuster geworden. War sie früher schon bei längerem Treppensteigen außer Atem geraten, bewältigte sie nun die Mühen ihres Alltags spielend und ohne magische Hilfe, dank guter Ernährung, sicherer Behausung und regelmäßiger Bewegung.
Ihr Liebesleben...
Würde sie einen Koch heiraten? Oder jemanden, der seine Arbeit liebte? Iomine verwarf den Gedanken mit einem sachten Schulterzucken. Für Liebe und Partnerschaft fehlte ihr der rechte Antrieb. Vielleicht eine weitere Folge ihrer Verrücktheit, oder einfach nur ihrer körperlichen Verfassung. Diese Dinge gingen einfach an ihr vorbei und sie vermisste sie nicht wirklich. Doch was war ein Koch, wenn nicht jemand sehr ähnliches wie eine Hexe, die auch mit den unterschiedlichsten Dingen an einem Kessel die erstaunlichsten Ergebnisse erzielte? Vielleicht war ihre Liebe einfach ihre Magie? Das, oder ein Hexer wäre ihr zugedacht. Da hatte sie ja sogar Auswahl auf dieser seltsamen Insel.
Und ihr Tod...
Ein gewaltsamer Tod im Kampf um das, woran sie glaubte und was ihr wichtig war prophezeite ihr die Kartenlegerin. Iomine empfand dies als sehr beruhigend. Mit ihrer eigenen Sterblichkeit hatte sie trotz, oder vielleicht dank ihrer jungen Jahre schon länger Frieden geschlossen, doch der Gedanke, als alte, schwächliche Frau in einem Bett zu sterben schreckte sie ebenso sehr ab wie ein Tod ähnlich ihrer Mutter, bei der Geburt eines Kindes das sie niemals kennenlernen würde. Was konnte sie sich mehr wünschen als einen Tod, der etwas bedeutete, und was könnte sie mehr motivieren, noch mehr zu lernen und noch mächtiger zu werden? Wenn sie schon beim Kampf um etwas wichtiges sterben wollte, so sollte ihr Gegner würdig sein und sie war fest entschlossen, ihn zu bezwingen, wer oder was auch immer es war.
Sie hatte für die Seherin ebenfalls die Karten gelegte, ihre eigenen, am heimischen Tisch. Das Blatt hatte von einer schweren Vergangenheit erzählt, geprägt von Unsicherheit und frisch verdorben durch Verrat, doch ihre Zukunft sah gut aus, mit neuen Freunden, alten Erinnerungen und dem Dienst an der Mutter. Sie freute sich über diese Vorhersage und wünschte ihr alles Gutes.
Genug gegrübelt, beschloss Iomine. Es war Zeit, aufzustehen und sich dem neuen Tag zu stellen, der mit neuem Wissen und Abenteuern lockte. Und außerdem wurde der Hundekopf langsam schwer und drückte ihr auf die ziemlich volle Blase.