"... man muss sich gänzlich auf einen Standpunkt zurückziehen, der außerhalb aller Ideologien steht. Dies ist die erste große Hürde auf dem Weg zu wahrer Rationalität. Und ohne klaren Verstand sind alle weiteren Schritte zum Scheitern verurteilt. ..."
Tendarion könnte diesen Satz, und all die weiteren Sätze, die in dem Buch, das er immerzu bei sich trug, standen, aus dem Schlaf gerissen zitieren, ohne auch nur einen vergewissenden Blick in das Buch werfen zu müssen. Ihm war bewusst, dass es das Werk eines Ketzers war. Dass es eine Kritik am Glauben als solches war. Aber dennoch konnte der Elf aus dieser Schrift so manches mehr über Rationalität erfahren, als im Umgang mit anderen. War im Umgang mit anderen überhaupt wahre Rationalität zu erfahren? Er dachte an den vorgestrigen Tageslauf und zweifelte sehr vehement an dieser Tatsache.
Der halb so alte Mensch warf ihm vor invasiv und störend zu sein. Der fünfmal so alte Elf wurde laut, maßregelte und tadelte ihn.
Tendarion stand tränenüberströmt und verloren vor dem Elfen, der außer sich - nach elfischem Maßstab - war, und konnte nur mit größer Mühe das Schniefen und Schluchzen unterdrücken. Er hatte immerzu das Gefühl den Kopf einziehen zu müssen, doch er wich nicht zurück. Er ergab sich zwischen Tischkante und dem anderen Elfen, um seine eigene Unzulänglichkeit ungeschönt ein weiteres Mal an jebem Abend zu erfahren.
Seine Gedanken glitten zu seinen Vater zurück. Wie oft der so viel größere Elf, der Tendarion einen Kopf überragte, selbst als Tendarion vollends ausgewachsen war, vor ihm stand und ihm erläuterte, wie Tendarion ein Fey mit großem Potenzial wäre, aber sich selbst mit seinen eigenen Taten in eine Position brachte, die ihn deutlich herabsetzten. Er sollte sichtbare Fortschritte erlangen. Und sei es nur die Erkenntnis, dass er zu mehr bestimmt sei, als nur eine kerzensparende Option in den Dunkelzyklen und Nachtzyklen im Hospital.
So begann Tendarion sich auch im Waisenhaus stark zu machen. Er war dort vorrangig als Heiler und als Spielgefährte vorgesehen. Der junge beliebte Fey, der alles mit sich machen ließ und nie seine Geduld und sein Lächeln verlor. Doch drehte sich sein Leben nur um das Hospital in Draconis und das bessere Waisenhaus, das in der Nähe der Kirche zu finden war und repräsentativ und provokant zwischen den Häusern der reicheren Bürger und in der Nähe des Adelsviertel errichtet wurde. Der Ordo Vitamae war für seinen sanften Druck um Missstände aufzuzeigen bekannt. In keinem anderen Waisenhaus wurden mehr Kinder adoptiert, als dort. Der Adel und die Bürger die mehr Dukaten in der Tasche hatten, als sie wirklich benötigten, fühlten sich verpflichtet zu helfen. Und sie konnten sich in ihrem Egoismus mit den elternlosen oder von den Eltern weggegebenen Kindern brüsten. So waren sie Gutmenschen geworden, ohne dass sie sich darum kümmern mussten, da sie eine Kinderfrau einstellten. Und dennoch hatte der Ordo Vitamae jedesmal einen Triumph zu verzeichnen.
Aber der Druck seines Vaters und die Vorwürfe hielten an. Tendarion war immerzu nur ein Helfer. Keine Triumphe, nichts nachweisbares, was seine Kompetenzen in den Vordergrund drängten. Reine manuelle Arbeiten die weder hohen Intellekt noch besonderen Respekt erforderten. Und Tendarion war immer mehr davon überzeugt, dass er unzulänglich war. Dass sein Streben nach Einfachheit und wenig Überraschung in seinem Leben etwas Schlechtes geworden war. Seine Mutter merkte seine aufkeimende Melancholie und emotionale Verwirrtheit und drängte ihn eine Lehre zu machen. Gab ihm Arbeit um Arbeit. Und Tendarion fühlte sich anerkannt und respektiert, da sie ihm vertraute. Sie kontrollierte ihn nie. Förderte ihn mit konkreten Aufgaben.
Doch hatte er in all der Arbeit keine Freunde gewinnen können. Nie gelernt aufzubegehren, wenn ihn etwas wirklich störte. Er war das Produkt eines nie zufriedenen Vaters und einer immer zufriedenen Mutter. Und seine Schwestern waren da um seine verwirrten Tränen zu trocknen und ihm den Rücken zu stärken, damit er am nächsten Tageslauf wieder aus dem Bett kam und weitertat was getan werden musste.
Und hier auf der Insel wurde er in soziale Konstrukte gedrängt, gezwungen und gehalten. Er begann Aspekte davon zu lieben. Manche Aspekte trieben ihn in den Wahnsinn. Doch er konnte aussieben, nach und nach, was ihm wirklich widerstrebte und was ihm Wohlgefühl bereitete. Sein Umfeld wurde geordneter, vorhersehbar und berechenbar. Und er konnte sich auf seinen Dienst fokussieren und die privaten Aspekte seines Umfeldes immerzu aus der Kirche und der Politik lassen. Das war schlagartig vorbei.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal weinte. Er hatte, bis auf den sporadischen Zornesausbruch, keine emotionalen Höhenflüge. Was sich auch auf seine Fröhlichkeit niederschlug. Neben den versiegten Tränen, verging auch jedes herzensgute Lachen. Er war konstant und berechenbar. Und zufrieden damit - selbst dann wenn sein eigener Zorn ihn störte.
Als er weinend vor dem anderen Elfen stand, durchzogen von Schuldgefühlen, gegenüber allen - den lauten Tadel über sich ergehen lassend - fühlte er sich, als hätte er vor Astrael versagt. Er wusste, dass sein Herr ihn an schmerzhafte Grenzen bringen wollte. Er wusste, dass er ihn nicht als hilflose heulende Masse unter sich in seinem Dienst wollte. Tendarion schämte sich für die Tatsache, dass er Gefühle hatte. Dass er schwach war. Er durfte nicht schwach sein. Also musste er alles von sich abstreifen, das ihm diese Schwäche einbrachte. Es wurde immer offensichtlicher, dass Tendarion nicht fühlen durfte und sollte. Sein Herr machte es ihm von Mond zu Mond in seinem Dienst immer deutlicher. Jede Inspiration die Tendarion erhielt war nur in der kalten und harten Rationalität zu finden. Jede Emotionalität hingegen drückte ihn auf die Knie und erfüllte ihn mit Scham.
Er schluckte trocken. Ein Schwur wurde in seinem Innersten ausgesprochen, dass keine weiteren Tränen folgen würden.
Wie immer jedoch bedurfte es den Zwang, damit Streit bereinigt wurde, unausgesprochene Worte nicht mehr ungesagt und ungehört schwelten. Man ermahnte ihn keinen Druck auszuüben. Doch immerzu dann, wenn er Druck ausübte, begannen sich die Dinge zu lösen und zu klären. Sein Umfeld verstand nicht, dass sie ihn Durchweg bestätigten. Im Negativen, wie im Positiven, und dass er erneut das Produkt dieses Verhaltens anderer wurde.
Tendarion wollte nicht mehr manipulieren. Aber, Astrael wusste es, sein Umfeld gierte förmlich danach.