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"Tiefenwald?"
Leise schniefte der Alte und rieb hörbar über seinen Dreitagebart, während er aus seiner Tasche eine Lederrolle hervorkramte und aus dieser eine alte, vergilbte und mit allerhand verschiedenfarbige Flecken übersähte Karte zog, diese ausrollte und auf dem groben Kneipentisch vor sich hinlegte.
Der Blick der ihm gegenüber sitzenden blondhaarigen Frau, deren markantestes Merkmal in dieser Umgebung wohl ihre Erscheinung war, die eher in einen Wald passen würde sowie gezeichnet durch Narben von Tierbissen und -kratzern, glitt hinab auf die Karte und folgte dem dreckigen Finger ihres Gegenübers, der auf ein Stück am Rande der Karte hinwies.
Er hob den Blick aus seinen leicht zusammengekniffenen Augen und musterte ihr ruhiges und doch ernstes Gesicht, während sie sich anhand der Karte scheinbar den ungefähren Weg einzuprägen versuchte.
"Was wollt ihr da überhaupt?"
"Jagen." antwortete sie mit ihrer recht leisen Stimme, die in den Geräuschen der Kaschemme fast unterzugehen drohte.
"Ich kann euch auch hinführ'n.. auf schöne Frau'n pass ich gern mal auf."
Sie winkte ab und erhob sich dann, leise erklangen dazu noch ihre Worte, während sie sich dem Ausgang zuwandte: "Eher habt ihr eine Klinge in eurem Hals stecken, als dass ich mich von euch begleiten lasse. Gehabt euch wohl."
Es goss in Strömen, als eine einsame Gestalt den Weg aus der Stadt lenkte, die Hufe des Pferdes klapperten dabei gleichmässig auf dem groben und nassen Pflaster. Sie liess die Zügel des Rosses eher locker durchhängen, achtete nur dann und wann aufblickend auf den Weg, während sie ihren Gedanken nachhing.
Viel lieber wäre sie auf der Insel geblieben - bei ihm - aber es war zu gefährlich geworden. Seltsam schon, wie ihr vollkommen fremde Personen sie erkannten und sie um Geld anbettelten, nur weil sie... sie verzog ihr Gesicht etwas und ihre in lederne Handschuhe gehüllten Hände krallten sich fester in die Zügel, wobei der kleine Finger des linken Handschuhs schlaff hinabhing. Bittere Gedanken durchzogen sie, dann und wann sogar Wellen von Hass, auch wenn eine leise, sehr leise Stimme sie ermahnte, den Hass abzulegen.
Habe ich überhaupt noch eine Familie, fragte sie sich mit nachdenklicher Miene und verzog abermals ihr Gesicht etwas. Die Antwort schmerzte, aber in ihrer momentanen Situation konnte sie kaum mehr von einer "Familie" sprechen. Keiner würde sie mehr verstehen wollen. Sie selber verstand sich kaum mehr - ihr Zaudern und Zagen auf diesem Weg tat ihr leid und sie wünschte sich, sie hätte nie gezweifelt.
Ihre Gedanken schweiften nur flüchtig und mit einer Spur Verunsicherung zurück zu ihm - wie sie in der Höhle im Ödland aufeinander trafen, seine Erscheinung, seine Worte, wie sie allmählich das Gefühl hatte zu zerbrechen und doch glaubte sie im Fall tiefer in den Schatten hinein ein schwaches Licht zu erkennen. Sie erschauderte unangenehm bei der Erinnerung daran und doch mischte sich noch immer eine seltsame Faszination darin ein - Schmerz, Erniedrigung, Pein, doch etwas in ihr hatte sich damals dennoch aufgerichtet. Sie wollte Stärke beweisen und doch hatte sie sie wieder aus den Augen verloren, als sie ihren Weg wieder zurücknahm - zurück in das blendende Licht, zurück in eine Welt des Scheins.
Sie fühlte sich verloren, so gefangen zwischen diesen beiden Welten, ohne jeglichen Begleiter, nur auf sich gestellt.
Ihr Blick aus den graugrünen Augen ging hinauf zum Himmel, Regentropfen prasselten in ihr Gesicht, doch sie liess es über sich ergehen, die Augen halb geschlossen, während sie leise in den grauen Himmel hinaufsprach: "Ich habe keine Familie mehr... ich habe niemanden mehr. Ich habe nur noch mich."
Zuletzt geändert von Kikia: 7.09.06, 00:44, insgesamt 1-mal geändert.
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