Erneut landet eine Antwort, auf frischem Pergament gar, auf dem Arbeitstisch des Priesters. Die Schrift wirkt dieses Mal etwas wacklig und unsauber.
Brand,
Du entschuldigst hoffentlich, wenn ich mich etwas wirr ausdrücken mag. Wie Dir anscheinend entgangen ist, gab es gestern einen kleinen Trollangriff auf Brandenstein. Nur ein paar Hundert Trolle, nicht mehr, dazu Goblinge und Wolfshunde aller Art. Die Verteidigung war für mich recht erschöpfend, die Hilfe für die Verletzten hinterher umso mehr. Ich verfluche erneut jene untote Missgeburt, die mir den Arm brach, wieviel einfacher wäre es mit zwei gesunden Händen gewesen... So oder so, als ich einen armen Mann aufgriff der kaum stehen konnte und in den Vorhof der Ecclesia verfrachtete, erschienen drei der ekligen Grünhäute plötzlich in der Stadt und überfielen uns. Als ich sie von dem Verletzten weglocken wollte, bekam ich einen Schlag auf den Kopf - und deswegen tut er mir heute weh. Schlecht wird mir auch, wenn ich zu schnell aufstehe. Um hier zum Punkt zu kommen: wenn ich mich wirr ausdrücken sollte, rührt es (hoffentlich) daher.
Natürlich mag Dein Argument des guten Leumunds nicht von der Hand zu weisen sein, in manch einem Fall. Doch habe ich jene, die uns an Dunkeltief halfen, noch nicht als gefeierte Helden gesehen. Noch weniger Fräulein Brijt, obwohl sie zwei andere vor den Dämonen schützen wollte - und würde ihr noch Ruhm zuteil werden, wäre es ihr auch gleich. Sie ist ja nämlich tot. In all solchen Fällen riskieren Menschen ihr Leben, Brand. Es ist viel mehr, als eine huldvolle Gabe an einen Straßenbettler. Denkst Du, die Gier nach Ruhm mag bei den Meisten so ausgeprägt sein, dass sie dafür Leib und Leben riskieren? Sind es nicht vielmehr ganz andere Motive, nämlich Aufopferung, Mitgefühl, Ehre, die viel schwerer wiegen als alles glitzernder Ruhmestand der Welt, schwerer, als das eigene Leben womöglich?
In ähnlicher Weise stellt sich mir auch der Einfluss des Namenlosen dar. Natürlich ist dieser Einfluss da, und er bringt Verderbliches mit sich - wie auch nicht. Doch allein eine einfache Rechnung dürfte doch aussagen, wieviel Einfluss da überhaupt sein kann: er ist einer gegen Vier. Nun zähle noch den Einfluss der Elementarherren dazu.Wir sind aus ihrer Materie geschaffen, wir tragen sie mit uns - auch in unseren Herzen. Es ist Ventus, der sogar Ada tanzen und Musik erspüren lässt, als wäre sie nie eine trampelige Magd gewesen, und es ist Ignis, der uns in Zeiten der Verzweiflung neue Kraft schenkt, ob in Form reinen Zorns oder glühender Hoffnung. Damit sind es also Acht in meinen Augen, denen gegenüber der Eine steht. Und da soll sein Einfluss so fatal, so bestimmend sein? Hälst Du den Einen für so stark oder die Acht für so schwach, Brand?
So sehe ich auch das Verhalten der Menschen nicht als bösartig an - zumindest nicht als grundsätzlich bösartig. Der Holzfäller weiß es vielleicht einfach nicht besser, der Jäger hat eine Familie zu ernähren. Und könnte man sich nicht auch fragen, weshalb uns Rien so Vieles an Gaben schenkt, wenn man sie nur anschauen solle? Weshalb Äpfel aber verderben, wenn man sie nur anschaut, Getreide fault, wenn man es nicht von den Feldern räumt? Die Dwarschim oder die Elfen nehmen sich ebenso der Gaben Riens an, ganz ohne dass der Namenlose sie je berührt hätte, vergiss das nicht. Mehr noch: hast Du je gesehen, wie ein Haufen Tauben eine einzige zu Tode hacken? Sind diese Tauben auch ein Werk des Namenlosen, oder aber bloß dumm? Ja sogar die seelenlosen Gewächse töten einander, und manch prächtige Ranke mag einen Baum ersticken und ausdörren. Du siehst also Dinge bei uns Menschen, die eine jede Art mit sich trägt, mal mehr, mal weniger. Sicherlich sind wir jene von den sprechenden Geschöpfen Tares, die sich am schnellsten und ausuferndsten verbreitet haben. Wir haben ja aber auch das kürzeste Leben. Stell Dir vor, die Elfen mit ihren...die sterben gar nicht, oder? Also stell Dir vor, die vermehren sich so. Da könntest Du ja heute keinen Fuß mehr irgendwohin setzen, ohne einen Elfen umzuschubsen. Sie haben ein unendliches Leben, wir leben in unseren Nachkommen weiter - es ist nur eine andere Form.
Ich will mit alledem nicht all unsere Verfehlen schön reden. Ja, der Schmutz in den Städten ist grässlich, und wir neigen zu sinnloser Zerstörung, zu Gier und Gewalt. Ich sehe darin jedoch nicht stets den Einfluss des Namenlosen, sondern viel öfter, wie bei den Tauben: Dummheit. Oder Unwissenheit, dies ist wohl häufiger. Wer macht sich denn auch die Mühe, eine jede Magd in Draconis aufzuklären, warum sie ihr Schmutzwasser nicht aus dem Fenster schütten sollte? Lehrt jemand den Sohn eines Jägers, auf dass dieser besser als sein Vater weiß, was er anrichtet? Erklärst jemand einem Straßenbettler, dass auch der Körper eines Menschen als Teil der Elemente in Ehren, in Sauberkeit und Ordnung gehalten werden soll? Du kannst doch nicht Wissen und Verstehen als angeboren erachten. Und wären sie es, wären zumindest wir einer großen Aufgabe beraubt. Ist es schließlich nicht an uns, die Irrenden von Frevel wieder die Elemente abzuhalten? Ist es nicht an uns, von ihnen doch begangene Fehler zu bereinigen? Wir können nicht alle lehren, aber wir können aufpassen - und ist nicht diese Aufgabe als Wächter unsere vorrangigste?
Was lügen angeht...nun ja. Dies ist tatsächlich keiner Unwissenheit anzukreiden.Wer lügt aus Angst um sich, aus Angst vor Konsequenzen, aus Angst, den Anderen sein wahres Gesicht zu zeigen oder gar sich selbst ins Gesicht blicken zu müssen - dem mag man keine Duldung entgegenbringen. Noch weniger einem, der lügt um sich Vorteile zu verschaffen, der Intrigen spinnt, sich dessen schlimmstenfalls auch noch rühmend. Willensschwäche und Ehrlosigkeit sind Laster, die Verachtung verdienen, und sich in solchen Motiven wiederspiegeln. Aber sie sind lange nicht die einzigen Gründe, die zum Lügen verleiten können. Ich habe beispielsweise meine Tante darob belogen, woher meine Verbrühung kommt, und ich werde jeden anderen deswegen belügen, dem es auffallen sollte. Tu ich es aus Angst, um mir Vorteile zu verschaffen? Kaum. Ich tue es einerseits, um eine alte Frau nicht unnötig aufzuregen. Ich werde es andererseits tun, um Dir und der Ecclesia Schwierigkeiten zu ersparen. Das hätte hier ja gerade noch gefehlt. Eine Mutter lügt ihr Kind an, um ihm Ängste zu nehmen, derer es im Leben noch genügend haben wird. Ein Freund mag lügen, um nicht unnötig zu verletzen. Was ich also sagen will: die Frage ist stets, warum man lügt. Und vor wem - lügt man andere an, oder sich selbst? Ein Mancher lügt sich vor, er wäre ehrenvoll oder gerecht, ohne es zu sein. Ein anderer stürzt sich selbst ins Verderben indem er sich vorlügt, er wäre weder gebraucht noch erwünscht. Was will man bezwecken, wenn man sich selbst anlügt, Brand?
Das Wasser schließlich - Du hast nicht geantwortet wie ich darum bat. Kannst Du beschwören, es wäre kein Zorn, keine Wut dahinter gewesen, oder kannst Du es nicht? Denn zumindest einer Deiner Beweggründe ist so nicht richtig in der Annahme. Ich mag einmal unverletzt im Lavasee baden (übrigens wurde er doch kaputt gemacht, von dem Namenlosen...ich sitze nicht nur untätig da, wertester Brand), aber heißes Wasser ist, trotz aller Hitze, noch immer das Element Xans. Und vor jenem habe ich wenig Schutz zu erwarten.
Ancabeth
P.S.: Gestern wurde Dein Semaphor benutzt.... P.P.S.: Wie kommst Du dazu zu denken, mir wäre nicht klar, dass ich noch zu lernen habe? Ich komme mir oft genug dumm wie ein Stein vor...
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Die Idee der "freien Entfaltung der Persönlichkeit" scheint ausgezeichnet, solange man nicht auf Individuen stößt, deren Persönlichkeit sich frei entfaltet hat.
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