Er hatte es schon länger kommen sehen. Irgendwann nahm eben alles mal ein Ende, selbst Tare, wenn man nach den Prophezeiungen gehen würde. Gerade wenn eine Sache mehr und mehr über sich hinauswuchs, war die Gefahr am größten. Das hatte die Geschichte des Reiches Ma'ahn laut den alten Überlieferungen auf den Tontafeln von Ras'phar nur zu deutlich gezeigt und auch Galadon stand vor gut einem Götterlauf am Rande einer solchen Katastrophe.
Dass auch er so etwas am eigenen Leib erfahren werden würde, war ihm seit dem Tag klar, als er nur knapp einer Vergiftung entgangen war. Von da an trug er stets kleine Phiolen mit allerlei Gegengiften in seinen Gewändern verborgen mit sich. Sein Gehstock war nichts weiter als ein getarntes Florett und das ein oder andere kleine, feine Wurfmesser trug er ebenso in seinen schlicht-eleganten Stiefeln bei sich. Illusionen machte er sich schon länger keine mehr und all diese Vorsichtsmaßnahmen waren letztlich auch nur Mittel, um den Zeitpunkt des Umsturzes hinauszuzögern. Das Schattenkontor war weiter gewachsen und mit der Größe kam auch die Schwierigkeit der Kontrolle hinzu. Sicher, er war ein alter Mann, seine Frau schon lange verstorben und seine Kinder weit fort, teils im Norland, teils in Endophal, um sich dort um die Geschäfte zu kümmern - nichts, was ihn ablenken könnte und wenn er Freundschaften pflegte, dann nur im Sinne des Kontors. Von morgens bis abends, teilweise bis tief in die Nacht hinein, gab es für ihn nichts anderes, worum er sich kümmerte. Manches Mal spürte er ein besorgniserregendes Ziehen in der linken Brust, wenn er irgendwann in den frühen Zyklen, wenn jeder andere Bürger Draconis' schon lange schlief, seine Korrespondenzen endlich abschloss. Manches Mal hatte er sich schon selber gewundert, wie alt er geworden war und mit dem Alter kam eine gewisse gelassene Gleichgültigkeit. Zwar wäre es ihm lieber gewesen, seine älteste Tochter hätte seinen Platz eingenommen, doch die Entscheidung hatte sein einstmals engster Vertrauter in die Hand genommen.

Müde lächelnd sah der Alte auf zu ihm, während er seine faltige, dünne, rechte Hand an seine Brust presste. Er fühlte, wie sein warmes Blut aus der Wunde sickerte, viel zu schnell für seinen Geschmack, denn wenn dieser Jungspund schon seine Geschäfte an sich riss, dann sollte er doch wenigstens noch ein paar gute Ratschläge mit auf den Weg bekommen. Aber das würde zu lange dauern, das spürte der Alte nur zu gut und allmählich überkam ihn sogar ein eigenwilliger Frieden. Nein, böse war er ihm nicht, hatte er doch damals, vor so vielen Jahrzehnten genauso gehandelt, als er seinen Platz einzunehmen gedachte.

"Wir hatten gehofft, dass Er es wagt und schafft", flüsterte der Alte zu dem Magus mittleren Alters, ehe sein Blick brach und jegliche Regung und Spannung des vom Alter gezeichneten Körpers erschlaffte.

***

"Siebenwind." Eine mit einem Siegelring versehene Hand tippte mehrmals auf eine Karte, die grob die Umrisse der bekannten Welt zeigte. Er wusste selber, dass mancher Küstenstreifen nicht korrekt gezeichnet worden war und auch diese ominöse Insel lag auf der Karte näher an Falandrien dran, als sie es eigentlich war.
"Seid ihr euch sicher? Immerhin wurde der König..."
"Schweigt!"
Er hasste das. Er war noch nicht lange genug in seinem Amt und so manche Entscheidung wurde für seinen Geschmack zu oft in Frage gestellt. Vom Norland und Endophal hatte er sich verabschiedet, nachdem er die Nachfahren des ehemaligen ehrwürdigen Wissenden... nunja... entsorgt hatte. Er wollte das Schattenkontor verkleinern, hatte er doch gesehen, welche Schwierigkeiten dieses riesige Gebilde gemacht hatte und er kannte seine Grenzen gut genug, um zu wissen, dass er es nie schaffen würde, das Kontor auf diese Weise gänzlich zu kontrollieren. Es war zwar schade um manch' wertvolle Ware aus dem Süden, nach dem die Reichen der Hauptstadt ganz verrückt waren, aber mit seinen guten Kontakten zu den ein oder anderen Gazetten der Stadt würde er schon dafür sorgen können, dass die einstige Mode "Endophal" wieder abflauen würde. Patriotismus, das war das Stichwort und warum sollte man Kameltreiber aus dem Süden mit dem Kauf ihrer überteuerten, überdimensionalen Nüsse fördern? Das Roosschildtkontor würde auch ohne diese Waren weiterhin bestehen, dessen war er sich sicher und somit würde es auch weiterhin eine ideale Tarnung für das eigentliche Kontor, welches unter anderem mit den wenig fassbaren Waren wie "Wissen" handelte, abgeben.
Doch neben dem Norland und Endophal gab es da noch diese Insel, wo sich das "Sorgenkind" des Kontors aufhielt. Erfolge sah er nicht wirklich und wer weiss, was sie dort treiben würde, fernab seiner Agenten, die ihm ungefälschte Berichte von ihr geben könnten? Irgendwann würde sie selbst merken, dass die Drohung, das Kontor hätte seine Augen und Ohren überall, für die Katz war. Zwar bezweifelte er, dass ihm eine einzelne Frau Ärger machen könnte, aber lieber hätte er sie wieder in seiner Nähe und damit unter seiner vollständigen Kontrolle. Einen guten Posten könnte er ihr anbieten, damit sie die Klappe hält. Einen, mittels dem sie nicht viel falsch machen könnte und noch dazu eine gute Tarnidentität innerhalb Draconis'. Ein neuer Name, ein neues Leben musste her und vor allem einige Männer, die sie notfalls mit Gewalt herschleppen würden.

***

Irgendwo, auf der Insel Siebenwind, erlischt in einem Haus ein Licht. Stille kehrt ein. Einzig ein Schlüssel eines Briefkasten bleibt auf einem Sandsteintisch liegen und der flüchtige Duft von Rosen.