„Hier, die habe ich vorhin auf der Straße gefunden...“
Mit diesen Worten reichte eine endophalische Frau ihr am Hafen Brandensteins eine Kette voran, verdreckt vom regenaufgeweichten Boden der Wege und Straßen. Eine kleine Sanduhr baumelte in der Mitte, der Verschluss war geöffnet.
Auf die Frage hin, wer sie denn verloren habe, bekam sie nur die Beschreibung eines Mannes, der zumindest am Fundort verweilt hatte. Ihres Mannes. Sie hatte es geahnt.
Und obgleich die Wolkendecke sich zu einem dunklen Teppich zusammenraffte, um mit Regenschauern ein baldiges Gewitter vorzubereiten, eilte Awa ohne zu zögern an der freigiebigen Frau vorbei. Laufen war ihr nicht möglich, denn wie Barius, Fardo und Litizia bereits als erste erfahren hatten, quälten die junge Frau seit Tagen schon die Schmerzen im Unterleib, die sie sich bei jeder Anstrengung oder Hektik krümmen ließen.
Er musste in Richtung Falkensee reiten... bestimmt wusste er nicht, dass Barius sie nach Brandenstein gebracht hatte, als er von dem misslungenen Putschversuch gehört hatte, auf dem, wie sie erfuhr, die Todesstrafe stand.
Völlig übermüdet von der kummervollen, durchgemachten Nacht stampfte sie selbst an so manchen Reiter vorbei, ohne nach links oder rechts zu sehen, ohne den Blick zu den kahlen Ästen zu heben, die gefährlich über ihrem Kopf knarrten und sich im stürmischen Wind ächzend wanden.
Und auch niemand hatte ein Auge für die vor Angst bleiche, bis auf die Knochen vom Regen durchnässte Frau, die auch der dicke Pelz des Umhanges nicht mehr recht wärmte.
Nur einmal machte sie halt, nachdem sie rutschend und schliddernd am Orkenpass zum Aussichtspunkt hinaufgestiefelt war.
Ihr Platz.
Der Platz ihres ersten Abends. Der Platz, an dem er ihr den Ring ansteckte. Der Platz, an dem sie sich treffen wollten, wenn sie verloren gingen und sich wiederfinden wollten.
Aber Simon war nicht hier.
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Am Westtor Falkensees war ihr vom eilenden Weg und den Schmerzen so schwindelig, war sie vor Sorge, es könne doch nicht Simon gewesen sein, der Brandenstein verlassen hatte, so blind für ihr Umfeld, dass sie als erstes beinahe den Waibel Delarie angerempelt hätte.
Ein „Ehre dem Bund“ hatte er der sogleich erkannten Schneiderin noch fröhlich hinterher gewünscht. Aber er bekam nur ein gehetztes „Ja ja“ zugesprochen.
An ihrer Schneiderei angekommen, waren ihre Hände bereits so erkaltet, dass sie kaum den richtigen Schlüssel am Bund finden konnte... immer nur das stumme Flehen, Simon möge nichts passiert sein, dass er Zuhause ist, im Warmen... dass er in Falkensee Zuflucht gesucht hat.
Und er war da. Wie immer in seiner grauen Reiserobe gekleidet, ein Kopftuch um den blonden Zopf geschlungen... mit dem Rücken zu ihr an der Theke. Er war da...ja... aber sie sah sofort, dass er nicht nach Hause gekommen war.
Natürlich musste er gehört haben, wie die Tür aufging, aber er ließ sich nicht ablenken, das Schriftstück in aller Seelenruhe zuende zu verfassen, die Feder noch ordentlich neben den beiden Schlüsseln abzulegen. Die Schlüssel ihres Hauses.
Sie erntete nur ein kühles „Grüß Dich“, auf ihr Klagen ob der Suche nach ihm. Sie habe Sorge gehabt, die Malthuster hielten ihn fest und erhielt nur ein bedrücktes Schmunzeln daraufhin als Antwort.
„Fahnenflüchtige werden nun mal gesucht.“
Kühl, abrechnend wirkt seine Stimme, als er ihr erklärt, dass er nun die Insel verlassen und wieder nach Malthust gehen würde.
„Du hattest auch nicht vor, mich mitzunehmen, oder?“, stellte sie zittriger Stimme fest, wieder der Blick auf das Schreiben gelenkt. Nein, natürlich hatte er das nicht. Da beruhigte sie auch nicht, dass er nur seiner Familie nicht zumuten wollte, das Leben eines Meuterers, das auf ihn zukommen würde, mit zu ertragen. Hätte er nicht wissen können, dass sie alles mit ihm durchgestanden hätte? Aber die Frage nach dem Warum, dem Warum des Putschversuches, brachte ihr die Erkenntnis, weswegen sie nicht mit ihm kommen sollte. Der weitere Grund.
Er war Soldat. Sein Leben war das Militär. Er hatte gar nicht daran gedacht, dass dieser Putsch scheitern könnte, was dann mit seiner Familie passieren könnte. Dieser Putsch wäre auch nicht wichtig für Awa gewesen, sie wohnte im Ersonter Lehen. Ja, er hatte sich für die Zukunft der und in der Malthuster Armee entschieden. All diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf.
Wie in Trance öffnete sie die Tür, wahrscheinlich hatte ihr Simon noch mitgeteilt, dass jemand rein wolle. Barius.
Auch er durchlöcherte Simon sogleich mit Fragen und forderte auch, dass er sich ja nun um seine Familie kümmern sollte, er hätte dieser schon zu genüge Sorgen bereitet. Aber auch ihm teilte Simon voller Ruhe mit, dass er nun gehen würde. Fassungslosigkeit musste bei diesen Worten über den Magier gekommen sein.
„Lass ihn gehen...“, bat Awa leise und kummervoll. Wenn es Simon das Leben rettet... wenn es ihn glücklicher macht, wenn er wieder ohne sie ein besserer Soldat sein kann... dann, dann musste es ohne sie sein.
Nur einmal noch suchte er ihre Nähe, ohne Berührung, ohne zärtliche Verabschiedung, als er ihr das Schreiben voran reichte.
„Ich liebe dich... nun geh einfach... geh...“, bat sie leise.
Und auch er wisperte ihr etwas zu, Worte, die sie sich zum ersten und letzten Mal sagen sollten:
„Sei Dir gewiss, dass ich Dich liebe, als Erste und Einzigste.“