Einige Wochen waren nun seit der Belagerung des Tempels vergangen, seit einer Zeit, in der Jasper einen neuen Sinn in seinem Dasein gehabt hatte.
Die Tage im Tempel, in der Gesellschaft der Gläubigen, die von Ketzern und Geschöpfen aus den Niederhöllen umzingelt waren, hatten ihn zurück zum Glauben geführt. Über Jahre hinweg waren die Viere seine Begleiter gewesen, doch nie zuvor waren sie ihm so präsent gewesen. Seine mittlerweile fast agnostische Haltung hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst.
Dann kam die Schlacht. Der Ausbruch aus dem Tempel glich einem glühenden Fanal in der tiefschwarzen Nacht, ein Zeichen, auf das er so lange gewartet hatte. Schon vorher hatte er im Geheimen seinen Frieden gemacht, vor den Vieren sein letztes Bekenntnis abgelegt und dem Moment entgegengeblickt, der ihn entweder zurück ins Leben oder in die Hallen Morsans bringen würde...
...und hier stand er nun, auf der obersten Stufe des Tempelportals zu Falkensee. Andächtig blickte er auf die Marmorierung der glatten Stiege. Der Dreck war entfernt worden, das Blut weggewaschen. Die Barrikaden waren verschwunden; Geröll, Schutt und Asche beiseitegeräumt. Vitama hielt Einzug in der siebenwindschen Hauptstadt. Seit einigen Tagen schon wanderte er immer wieder durch die Gassen, grübelnd, in sich versunken, gelegentlich auch betend. Ein Veteran auf Suche nach einem neuen Sinn, einer Perspektive.
Der Blick seiner stahlgrauen Augen schweifte über den Marktplatz, erfasste Menschen, die wieder lachten, tranken, feilschten und das Leben lebten, als wäre es nie anders gewesen. Nachdenklich rieb er sich über den Nasenrücken. Weitermachen wie zuvor... das würde bedeuten, in die alte Mark im Lehen Herder zurückzukehren. Den monotonen Posten des Leibwächters der Freiherren von Niebenau zu Herder einzunehmen und tagein, tagaus die paranoiden Eskapaden der hohen Herrschaften abzuwehren. Nein, so schnell wollte er dies nicht mehr durchmachen.
"Durchmachen" war das Stichwort. Die Angebote Torans, Williams, Leopolds als auch Myrandhirs waren Möglichkeiten, aber keine wahren Alternativen. Dankend hatte er sie ausgeschlagen und gleichzeitig gesagt, dass er es sich überlegen wolle. Doch je mehr er überlegte, umso weniger erschienen sie ihm erstrebenswert. Jasper war nicht zu stolz, im Gegenteil... um in die Dienste der Orden der Viere zu treten, empfand er andere besser geeignet. Weder Garde noch Wache erschienen für ihn selbst sinnstiftend genug. Fast 50 Götterläufe zählte Jasper bereits, und gewiss wollte er nicht noch einmal mit "He, Rekrut!" angebrüllt werden, um von jungen Schnöseln, die gerade von der Militärakademie gekommen waren, herumkommandiert zu werden. Dann erblickte er kurz darauf, bei seiner Wanderung durch das "neue" Falkensee den kleinen Aushang mit dem Ersonter Siegel darauf.
Wenig später erkundigte er sich bereits bei Awa nach der Uhrzeit, zu der die Ratssitzung stattfinden sollte, ebenso sprach er mit Toran über sein Anliegen. Das Toran dabei seine unverhohlene Neugier kaum zügeln konnte, amüsierte ihn ein wenig. Auch, wenn er selbst noch ein paar kleine Zweifel an seiner eigenen Idee hatte - er würde am morgigen Abend im Schloss anwesend sein, um einen neuen Sinn für sich zu finden und dabei Gutes zu tun. Er wollte Richter des Lehens Ersont auf Siebenwind werden.
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