Einsiedler |
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Registriert: 27.03.11, 21:34 Beiträge: 19
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Es war eigentlich ein Tag wieder jeder andere auch. Zumindest wie jeder andere in der letzten Zeit. Vom Aufstehen am Morgen bis zum Schlafengehen am Abend. Haus, Stall, Garten, Taverne und überall dabei und zwischendrin - Mira. Beim Streifzug über die Insel um das Fallobst auf den Wiesen aufzusammeln, beim Verarbeiten der Früchte für das nächste Fass frischen Apfelmost, beim Füttern der Hühner, bei der Ernte auf dem Feld und natürlich auch am Abend beim Ausschank. Nun saß sie neben dem Bettchen mit dem Holzgeländer und betrachtete den kleinen Krümel beim Schlafen. Sie sah so friedlich aus und zart strich sie ihr noch eine schwarzgelockte Strähne aus der Stirn. „Sternchen“ flüsterte sie zärtlich dazu. Wie konnte so ein Wirbelwind, der den ganzen Tag mit Leben füllte und ihr manchmal einiges an Geduld abrang, so friedlich aussehen?
Noch eine ganze Weile sah sie dem kleinen Mädchen beim Träumen zu, hing dabei ihren Gedanken nach und fragte sich immerwieder wie es weitergehen würde. Auf eine irritierende Weise hatte dieses Leben etwas von dem, was ihre Eltern stets für sie gewollt hatten, und doch ganz anders. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, wäre sie nun Vorstand einer ganzen Armee von Dienstboten. Hausdame. Stets gut gekleidet und zurecht gemacht, die Zügel fest in der Hand und gleichzeitig eine zärtlich, liebevolle Ehefrau. Um ihre Kinder hätte sie sich auch nie kümmern müssen, dafür gab es Ammen und Kindermädchen. So wie ihre Mutter es gehandhabt hatte. Jeder Tag wäre wie der andere gewesen und irgendwann hätte sie sich damit wahrscheinlich arrangiert. Ja, wenn nicht alles anders gekommen wäre. Nun war sie von ihrer Familie getrennt, und das wahrscheinlich für alle Zeiten. Ihre Brüder, ihr Vater, ihre Mutter. Keinen von ihnen würde sie je wiedersehen. Sie ahnten nichts von dem, was geschehen war und in ihren Köpfen war sicher sie es, die all das Unglück verursacht hatte. Womöglich hatte der Skandal die Familie einiges an Ruf einbüßen lassen – das würden sie ihr nie verzeihen. Sie hatte schon so viele Briefe angefangen und nie zum Ende gebracht. So oft hatte sie den Drang verspürt „aufzuräumen“. Doch stets hatte sie der Mut verlassen. Ein einziger Brief nach Hause konnte bedeuten, dass ihr Leben hier zerstört werden würde. Die Hand ihrer Eltern reichte weit. Womöglich gar bis Siebenwind. Wenn sie einen ihrer Brüder schicken würden um sie zurück zu holen, oder Vater gar selbst kommen würde. Sie würde als Mörderin vor ihnen stehen. Wer würde ihr schon glauben? Und selbst wenn sie es glaubten - eine Frau hatte zu ertragen. Die Gründe wären nie triftig genug gewesen. Manchmal glaubte sie das sogar selbst, doch diese Momente wurden zum Glück immer seltener.
Ein tiefer Atemzug entrang sich ihrer Brust und sie stützte den Kopf auf die Hände. Sie hatte so viel verloren. So vieles. Selbst hier auf der Insel gab es kaum jemanden, der ihr nahe stand. Lange hatte sie niemanden wirklich an sich heran gelassen, und jetzt schien niemand mehr ein Interesse daran zu haben. Sie war Wirtin. Sie hatte ein Kind. Genug um abzuschrecken. Ob sie es zugeben wollte oder nicht, oft fühlte sie sich einsam. Der Blick wanderte zum Fenster und stumm betrachtete sie die kleine Burgsiedlung, die im tiefen Schlaf zu liegen schien. Es musste doch etwas geben, was sie tun konnte. Irgendetwas abseits des Alltäglichen. Sie sehnte sich nach etwas Neuem.
Wäre er nicht, hätte sie wahrscheinlich inzwischen alles hingeschmissen und wäre irgendwohin gereist um einen neuen Anfang zu wagen. Auch wenn sie die Insel inzwischen eigentlich gern hatte. Auch die Menschen hier. Doch oft kam sie sich vor, als würde sie das alles von außen betrachten, kein Teil von all dem sein. Nur er durchbrach manchmal die Seifenblase, die um sie herum zu bestehen schien. Er schaffte es immerwieder sie entweder zu beruhigen oder sie aufzuregen. Stets das was sie brauchte, auch wenn sie es in dem Moment vielleicht nicht wusste. Er brachte sie dazu nachzudenken, aus dem Alltag auszubrechen und einige Momente Luft zu holen um neue Kraft zu sammeln. Und doch entwand er sich ihr, ließ sie nie wirklich hinter die sorgsam gepflegte Fassade blicken. Nur ab und zu ein kleiner Blick, gerade genug um die Sehnsucht nach mehr zu schüren. Aber vielleicht war es gerade das, was es so faszinierend machte, was sie herausforderte und sie verlässlich aus dem Alltagstritt brachte. Ob zum Guten oder zum Schlechten. Heute aber war er nicht da. Und sie saß alleine am Bett der Kleinen. Der Kopf sank ihr auf die verschränkten Arme und beinahe Übergangslos verwoben sich ihre Gedanken mit ihren Träumen. Ein weiterer Tag war vorbei.
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