„Träumen bedeutet vom Tod zu kosten.“
‚Ein Kind von gerade einmal 4 Jahren sitzt auf einem kalten wie eisigen Marmorboden in einer gewaltigen, schier unendlich erscheinenden Halle, deren Decke so unerreichbar auf einen hinabblickt wie es der weite Himmel bei Nacht pflegt, wenn seine Sterne gleichgültig auf schlaflose Wanderer hinuntersehen.
Ein Dolch, dessen Länge eine Elle misst, liegt vor dem Schoß des Kindes, dessen Haut so weiß wie der Marmor und Haar so finster wie die gähnende Weite der Halle ist. Dennoch kann man die Gesichtszüge des Kleinkindes nicht deuten. Sie verschwimmen in einem nebeligen Schleier, der das Kind umgibt. Es lacht nicht, jedoch scheint es zufrieden mit sich und dem Rest seiner eigenen Welt. Es spielt mit dem Dolch. Etwas unbeholfen legt es den Dolch von einer Hand in die andere. Nichts geschieht. Kein Schnitt, kein unschuldiges Blut.
Im Hintergrund werden die Umrisse einer bizarren Gestalt deutlich. Es muss ein Thron sein. Erst ist ein Raunen aus der Ferne zu vernehmen. Je deutlicher die Konturen werden, desto näher kommt das Raunen und die Kakophonie der Stimmen greift mit einer klammen Hand um das eigene Herz, in welches Kälte zu fließen beginnt. Auf dem Thron sitzt das personifizierte Schweigen - die Ruhe und der Frieden. Es ist eine in völliges Schwarz gehüllte Gestalt, dessen Antlitz die Unendliche Wahrheit ist. Klopfend stößt der Verhüllte mit der Linken seinen Stab auf den Marmorboden, dessen Erklingen einem ins Mark kriecht und wie ein Gong, das etwas einläuten will, ruft es einen zunehmenden Nebel hervor, der aus den Fugen des Bodens entweicht.
Man blickt ruckartig nach oben. Das Krächzen eines Raben macht auf sich aufmerksam, der sich kreisend über dem Kind in den Nebel begibt. Alles verschwimmt. Es wird düster und einsam. Die Kälte ergreift vom Herzen Besitz. Es folgt ein langes Seufzen und die freundliche Erkenntnis, dass nichts umsonst gewesen sei und dass nun endlich die herbeigesehnte Ruhe folge.
Das Seufzen kehrt ein in die unendliche Dunkelheit der Halle.’
„Was vermag das Leben zu bieten, wenn ein gewisser Hauch ausbliebe?“
Vor 23 Jahren starb in einem Dorf vor den Toren Andaras eine junge Frau namens Eolor noch bevor sie ihren neugeborenen Sohn erblicken konnte. Zusammen mit ihrem Mann Varg war sie Monate zuvor vor einem Aufstand geflohen, dessen Ort und Gründe für diese Geschichte so unbedeutend sind wie die Vorgeschichte des Paares für die Geschichte des Jungen ist, der kurz nach Mitternacht die Kälte des Lebens empfing.
Die Hebamme stellte keine Fragen, als der Vater, vom Leid gezeichnet, noch in der gleichen Nacht mit der Morsanhülle seiner geliebten Frau verschwand. Sie nahm an, er würde schon heimkehren, um sich seinen Sohn anzunehmen und so nahm sie vorerst den Jungen an sich, wusch ihn und wickelte ihn warm ein. Der Säugling war gesund zur Welt gekommen und hatte die helle Haut seiner Mutter und das schwarze Haar seines Vaters, der es versäumt hatte, ihm einen Namen zu geben.
Die Hebamme schlief in dem kleinen Raum so friedlich bis zum Morgen wie schon lang nicht mehr. Sie erklärte es sich durch die Anstrengungen der vorigen Nacht und der Tatsache, dass der Säugling nach dem anfänglichen Schreien ins Leben sich schnell beruhigte und tief einschlief und ihr so eine geruhsame Nacht gönnte.
Der Vater war nicht zurückgekommen und sollte er dies auch nie wieder, womit sich die Hebamme, die sich vornahm, sich vorläufig um das Kind zu kümmern, abfand.
„Wir bedauern die Toten, als fühlten sie den Tod, und die Toten haben doch Frieden.“
Monate später in dem Waisenhaus, gestiftet von der Viergöttlichen Kirche in Andara, hatte man sich vor wenigen Wochen einem Säugling angenommen, das vor ihrer Türe ausgesetzt worden war.
Andara war eine prachtvolle Stadt, die einst durch ein schweres Erdbeben zerstört, mit viel Blut und Schweiß wieder aufgebaut wurde. Berühmt war sie in ganz Galadon auf Grund des größten und wundervollsten Morsanackers Falandriens inmitten der Stadt.
Dem Kind hatte man ein kleines Zimmer eingerichtet, in welchem es in einer notdürftigen Wiege schlief bis man endlich Pflegeeltern für ihn finden würde. Eine Novizin Vitamas kümmerte sich hingebungsvoll um ihn, von dem man nichts wusste, außer dass er keine Vergangenheit haben durfte.
Eines Morgens begab sich die Novizin auf dem Weg in das Stübchen, bei dessen Eintreten sie plötzlich zu schreien begann, die Milch fallen ließ und das singende zerspringende Glas die Krähe ebenso so misstönend krächzen ließ, der auf der Wiege saß und zuvor neugierig in das schlafende Gesicht des Jungen blickte. Die Krähe blickte auf das Geschrei hin zu der Novizin und sie sah, dass der schwarze Vogel, einen Skorpion, dessen eigener Stachel im eigenen Rumpf steckte, im Schnabel hielt. Die Krähe krächzte sie auf eine feindselige Weise an, wobei ihm der Skorpion aus dem Schnabel auf das Bettchen des Jungen fiel. Dann breitete die Krähe seine Schwingen aus, flog über die sich duckende Novizin aus dem Stübchen und über den freien Hof in den seine Arme öffnenden Himmel.
Die Novizin blickte mit halbgeöffneten Mund und noch starr im Leibe der Krähe nach ehe sie sich fasste, sofort an die Wiege eilte und den toten Skorpion von dem weißen Laken fort stieß.
Der Junge sah mit seinen dünnen hoch angezogenen Brauen zu ihr auf und sein naives Lächeln erschien ihr in dem Moment eher wie ein Schmunzeln.
Fortan nannte man ihn in Anlehnung an die beiden Zeichen des Schweigenden „Scorvus“, aber die Frommgläubigen sahen nur das was sie sehen wollten in ihrem Dogmatismus. Denn war es doch kein Rabe, was wahre Wappentier des Schweigenden, sondern der Bote eines anderen vor ewigen Zeiten ausgestoßenen Kindes…
„Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen über dieselben beunruhigen die Menschen.“
5 n.H. Das Waisenhaus Andaras unweit des Stadtrates.
Eine Frau mittleren Alters eilte, während sie mit beiden Händen bemüht war, das Kleid anzuzupfen damit dieser nicht den Boden wischte, durch die Korridore des zweistöckigen Gebäudes. Das Waisenhaus war 15 Jahre zuvor von den wohlhabenderen Bürgern der Stadt gespendet und erbaut worden, vornehmlich waren es Handwerker und Händler gewesen und die Frau, die es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht hatte, mehrmals in der Woche hysterisch durch das Haus zu laufen, um den berüchtigten Ausreißer des Hauses zu suchen, war wieder einmal in ihrem Element. Es war bereits kurz vor Mittag und wieder einmal hatte er sich doch vor dem Unterricht drücken können. „Scorvus?! Verlauster Bengel. Wo treibst du dich wieder herum?“ rief sie als sie den Hof des Hauses betrat, der von dem Gebäude ringförmig umgeben wurde. Sie seufzte, sich wohl bewusst, dass sie dies immer fragte, aber noch nie zum Erfolg geführt hatte, denn Scorvus hatte sich in den 12 Jahren seines Lebens zu einem eigensinnigen, manchmal auch frechen, aber vor allem sehr verschlossenen Jungen entwickelt, der den Umgang mit den anderen Kindern scheute oder die Kinder den Umgang mit ihm.
So ging die suchende Frau wachsamen Auges durch den Hof, der mehr Gemeinsamkeiten mit einem Garten oder Park hatte. Es war die Jahreszeit der Vitama und die Rosen waren seit langem aufgeblüht. Sie selbst machte sich keine Mühe, zu schleichen, denn was es erfahrungsgemäß nie die Absicht Scorvus’ gewesen, sich vor ihr zu verstecken oder wegzulaufen. Die Prozedur war immer die gleiche gewesen in den letzten Jahren. Zur sechsten Stunde aufstehen, noch vor der siebenten folgte das gemeinsame Frühstück und die Aufteilung der Kinder in die Klassen. Das war dann der Zeitpunkt, in welchem sich Scorvus unbemerkt ausgliederte und wie vom Erdboden verschluckt wurde. Er war nicht faul oder desinteressiert. Im Gegenteil...
Oft sah man ihn brüten über Bücher, Erzählungen und Botenblätter von Siebenwind, der entlegenen Insel, und er studierte intensiv die Vorkommnisse der angeblichen Reiter des abtrünnigen Fürsten und immer wieder war von einem Namen die Rede, der zu ihm zu sprechen schien, ihm einflüsterte, dass es mehr geben müsse als die Mauern des Ordens.
„Da bist du ja!“ rief sie als sie sich zu dem Dornenbusch niederkniete und durch die Zweige lugte. Scorvus saß in seinen dunklen Gewändern, die er von der Geweihten Vitamas, die ihn vor 7 Jahren hierher gebracht hatte, bekam, inmitten eines Dornenbusches, der ihn von außen mit Rosenblättern vor oberflächlichen Blicken zu schützen versuchte.
Er drehte ihr langsam sein Gesicht zu, man hatte ihn auf seinen Wunsch hin sein rabenschwarzes Haar lang wachsen lassen, dessen Spitzen die Frau ihn regelmäßig schnitt. Sie brauchte nicht zu fragen, warum er fort gegangen sei und was er denn so lang getan hätte. Das erste konnte oder wollte er nicht beantworten. Das zweite… er saß stundenlang einfach nur da, in sich gekehrt und mit sich allein.
Seine grünen Augen blickten sie aus seinem gleichgültigen Gesicht strahlend an. Dann schmunzelte er plötzlich und es schien ihr immer als ginge die Sonne auf. Sie liebte dieses Lächeln.
„Scorvus, warum kannst du „dies“ nicht nach dem Unterricht machen? Sieh doch ein, dass es eine Bürde ist, die du dir durch die zusätzliche Arbeit antust.“ Er rappelte sich auf und kroch aus dem Busch. Sie putzte ihm den feinen Schmutz von seinem Gewand und nahm ihn an der linken Hand während sie sich in Richtung Waschküche begaben. Ihre Schritte waren gewollt klein und langsam und selbst nachdenklich wirkend, schien sie auf seine Frage zu warten. Er antwortete nicht, denn empfand er ihre Frage keiner Antwort mehr wert. Er hatte diese schon einmal beantwortet und waren seine Antworten doch absolut. „Niemand außer _IHM_ hat zu entscheiden, wann ich mich ihm hingebe.“
Sie seufzte.
„Ich werde überhaupt nicht für mich sterben, sondern nur für andere - für die Zurückbleibenden, aus deren Verbindung ich gerissen werde; für mich selbst ist die Todesstunde Stunde der Geburt zu einem neuen herrlicheren Leben.“
Weitere vier Jahre vergingen und man trat im Waisenhaus an Scorvus heran und legte ihm offen dar, dass er nun gehen könne und die Freiheit habe zu tun und zu lassen wie es ihm beliebe, wenn es im Einvernehmen mit der Viergöttlichkeit und der weltlichen Ordnung sei. Eine stille Weile sah Scorvus mit seinen grünen musternden Augen die beiden alten Frauen an, die diese Sätze soeben zu ihm gesprochen hatte. Es wirkte fast andächtig wie er nur dastand und sie ansah als hätte er nicht ganz verstanden. Sein Schweigen wirkte auf die beiden Frauen zunehmend beklemmend und als sie dann fragen wollten, ob er denn verstanden hätte und was er denn machen wolle, drehte er sich um. Mit einer einfachen halben Drehung wandte er dem Waisenhaus den Rücken zu und ohne ein Wort an die Frauen und Kinder trat er vor die Tür, denn seine Stimme galt nun allein dem, dessen Anwesenheit er so oft spürte aber niemand zu sprechen wagte, und wurde hier nicht bedurft. Ja, sie waren gut zu ihm und er war dankbar. So segnete er sie im Stillen.
- - - Eine unbestimmte Zeit zuvor, Monate, vielleicht auch ein Jahr, erreichte ein Schiff von Siebenwind den Hafen von Vandris. Es war Milena, die nach einer ihr scheinbar nicht mehr fassbaren Zeit wieder den Heimatboden ihres Herren und den ihres Schülers betrat.
Obwohl sie schon seit den Anfängen auf der Schicksalsinsel, wie Milena die Insel gern nannte, für ihren Fürsten und ihre verlorenen Brüder und Schwestern gestritten hatte, erprobt war im manchmal hoffnungslos erscheinenden Kampf gegen das Übel, das ihren Herren bedrohte, war sie nun doch gezeichnet von einem Kummer, der von innen heraus ihre Erscheinung wie gesprungenes Glas gleichsetzen wollte.
Es war schon lang her als sie auf ihren späteren ersten und bis heute letzten Schüler traf als hätte der Wind sie an die Hand genommen und sie zu ihm geführt. Er war alles andere als ein Krieger wie Milena es schon immer gewesen war. Er war ein Stallbediensteter, ehemals am Hofe in Vandrien, der vor Schmerz des Verlustes seiner Frau wegen einen Weg suchte, Gerechtigkeit an denen zu üben, die es verdienten im Namen der Bruderschaft. Der Name des einstigen Schülers war Varg und sie war eine Tardukai.
Sie lehrte ihm das was er bis dahin versäumt hatte zu lernen und das was er einmal als gleichgestellter Bruder benötigen würde. Auf ihrer gemeinsamen Reise des Pilgern und nach der spirituellen Suche nach dem Band mit dem Herren lernte sie ihn besser kennen und erfuhr von seiner Frau und dem Kind, dass in vom Trauer geleiteten Irrglauben, der seine Sinne betäubte, er in Stich gelassen hatte. Dies war seine große Schuld und die Bürde die er bis zu seinem Tode mit sich führen sollte.
Das Leid und seine Sünden, die er sich täglich in Erinnerung rief, waren sein Antrieb und so wurde er schließlich einer von denen, die sich in alter vandrischer Zunge die Krieger der Wahrheit nannten.
Varg wuchs mit seinen Aufgaben und schließlich gipfelte sein Dienst am Herren mit der Ausarbeitung der Pläne zur Eroberung der damaligen Hauptstadt Siebenwinds Rohehafen, was ihm in einer Vision in Finsterwangen aufgetragen wurde. Ein Unterfangen, das bedauerlicherweise die vollständige Zerstörung der Stadt nach sich zog.
Dies war der Beginn des Abstieges Milenas einstigen Schülers. Durch die vielen direkten Verbindungen mit dem Fürsten aus der Kriegsdomäne kam er vom Weg des Kodex ab, wurde hochmütig und einzelgängerisch. Seine Todessucht gepaart mit dem Glauben, man könne ihm kein Leid mehr anfügen und seiner endlich gestillten Rachsucht wurde er zur Gefahr für seine Brüder und Schwestern. Letztlich führte dies zu seiner Verbannung nach Vandrien vom Fürsten selbst. Gequält von der Tatsache, in Ungnade gefallen zu sein, wählte er schließlich den Freitod, was den Verrat an den Fürsten bedeutete.
Milena traf diese Nachricht wie ein Dolchstoß zwischen ihre Schulterblätter. Was hatte sie falsch gemacht? Hatte sie ihn nicht genügend auf die zahlreichen Prüfungen des Glaubens vorbereitet? Er war dem Hochmut erlegen und musste dafür büßen, aber Milenas Überzeugung nach wie sie gleichermaßen an dem Unheil beteiligt. Sie war schuldig. Sich war dem Fürsten, ihrem Schüler und sich selbst etwas schuldig. Es war ihre eigene Pflicht, den Kreis nun zu schließen. Sie musste den Kreis schließen, was bedeutete, den Sohn zu finden, wenn er noch lebte… - - -
„Der Tod gleicht dem Untergange der Sonne, die nur scheinbar von der Nacht verschlungen wird, wirklich aber, selbst Quelle alles Lichtes, ohne Unterlass brennt, neuen Welten neue Tage bringt, allezeit im Aufgange und allezeit im Niedergange.“
Somit begann Scorvus seine Reise in ein anderes Leben, das von den einengenden Mauern eines Waisenhauses befreit war, auch wenn ihm diese nie ein Hindernis gewesen waren, war er seiner Meinung nach jetzt erst in der Lage zu erfahren wer er sei und wo sein Platz in dieser Sphäre sei. Soweit er sich zurückerinnern konnte, liebte er nichts mehr als das Lied der Stille und die Kraft, die aus dieser Stille resultierte. Seine Besonnenheit war wie die Farbe Schwarz des Obsidians und seine Eloquenz das reinste Schweigen. Er wandelte nun über die erste Sphäre, durch Galadon, um zu sehen was das Leben war und was er diesem geben und abverlangen konnte. Scorvus sah Aufstände, Scharmützel, Kriege und das Elend und Leid was die Überlebenden und Hinterbliebenen befiel, aber nicht den Trost und den Frieden, den der Tod mit sich bringen sollte wie es die Ordensschwestern immer gepredigt hatten. Das Flüstern und das Schweigen in ihm wurden stärker. Wer war er wirklich? Welchen Platz hielte das Schicksal für ihn bereit?
Das korrumpierende Flüstern wurde stärker mit jeder Grenze der Provinzen, die er überschritt, mit jeder Stadt, in die er einzog und die Heuchelei der edlen Viergöttlichkeit lag wie ein schmieriger Film über das Leben, das ihn umgab.
Scorvus verstand sich immer mehr als ein Diener des Ziellosen, der von Heuchelei und Lüge gerufen wurde wie die Krähe von der Perle, um zu sehen, um zu erkennen.
Er liebte es, heimlich in Tavernen zu sitzen oder auf Märkten im Hintergrund zu lauschen. Er sinnierte über die Worte, Sorgen und Nöte wie ein Genießer über Rotwein, allerdings ambitioniert zu lernen, indem er ihnen zuhörte. Und wenn er den Menschen lauschte und ihnen als Gesprächspartner diente ohne ein einziges Wort gesagt zu haben so fühlte er sich wie gestorben und kurz darauf wiedergeboren, in einer Welt, die ihn krank zu machen drohte bis er schließlich durch die Tore Wetekas schreiten sollte… die Stadt in die er durch einen geheimnisvollen Verfolger gerufen wurde.
- - - Lang und intensiv verfolgte sie die Spur des Jungen, angefangen am Grabe Eolors in einem Dorfe Malthus’. Von dort aus trieb es sie schließlich nach Andaras, eine Stadt, die sie als jene Morsans in Erinnerung hatte. Dort wurde wie fündig als man ihr Einblick in die Dokumente des Waisenhauses gestattete. „Scorvus…“ hallte es in ihrem Geiste wider. Ein wahrlich zynischer Name, dachte sie sich. Nun wusste sie, dass er noch lebte, da sie nur wenige Monate nach Scorvus’ Entsendung dort eingetroffen war. Vor ihrem geistigen Auge zeichnete sich das Bildnis des Knaben und sie nahm die Spur wieder auf.
Durch zahllose Befragungen und Sichtungen folgte sie ihm auf Schritt und Tritt, wenn auch um Monate verzögert. Aber aufgeben konnte sie nicht. Sie wurde besessen von der Idee, die Schuld, die sie sich einredete, dadurch zu begleichen indem sie es mit Scorvus besser anstellen würde.
Schließlich kam sie ihm an der südlichen Grenze Vandriens so nahe wie noch nie zuvor. Sie erkannte ihn sofort als Milena ihn in einer Taverne sitzen sah, allein ohne Trank und Speis und sie fühlte sich wie in alte Zeiten zurückversetzt. Es war wie ein Traum, den es noch zu deuten galt.
Nun konnte sie sich ihm noch nicht offenbaren. Sie war unsicher, unschlüssig und noch nicht mutig genug. So schrieb sie einen Brief, indem sie ihn aufforderte nach Weteka zu kommen, die Stadt, in welcher sein Vater so oft gereist war, um ins Reine mit sich und seinem Glauben zu kommen. Sie legte ihn diesem Brief ihm offen, dass sie wüsste, wer er sei, wo er herkam und vor allem, dass sie ihm viel über seinen Vater berichten könnte, den sie lange Zeit sehr gut gekannt hatte. Außerdem wollte sie ihm etwas verheißen. Sie werde ihm etwas anbieten, was niemand zuvor ihm hätte anbieten können und es auch niemand mehr tun würde, wenn er denn nicht käme. So vertraute Milena ganz der Neugierde Scorvus’, die sie schon ihn seinem Vater einst ausgemacht hatte und verließ die Taverne Richtung Nordosten. - - -
Nasskalte Haarsträhnen hafteten auf seiner ihm fast glühend heiß erscheinenden Haut seiner hohen Wangenknochen und bevor er das große ovalförmige Stadttor durchschreiten wollte, drehte er sich leicht zurück, um in die sich verdunkelnden Straßen, die sich eng durch die ganze Stadt zogen, zurückzublicken. Ein wehmütiges Seufzen.
Stadt aus Fels... Weteka. Scorvus konnte sich nicht erklären, wer ihn sehen wolle. Ein Jemand, der etwas über ihn und seine Herkunft erzählen könne. Andernfalls hätte es wohl nichts gegeben was ihn dort hätte halten können und das kalte, karge Vandrien war wahrlich der letzte Ort, wo er sich hätte aufhalten wollen, denn von einem kurzen Tag zum kürzeren darauf folgenden Tag wurde der Wind eisiger, der flüsternd um die Stadthausecken kroch. Das sanfte Platschen in den Pfützen, an denen er vorbei trat, kündigte den einsetzenden Regen an und er stellte sich den Kragen des Mantels auf, um seinen Hals vor der unangenehmen Nässe zu schützen, die es ihm kalt über den Rücken laufen ließ.
So ging er durch die Straßen dieser kalten Stadt, in der große Kohlebecken und zahlreiche Laternen Wärme und Licht zu spenden hatten, damit man in dieser belebten Einöde aus Stein und Dunkelheit überleben konnte. Dicht drängten sich die Menschen an ihm vorbei. Gesichter ohne Namen, überall – sie rempelten, waren in Unterhaltungen vertieft, in Gedanken verloren oder nach ihrem täglichen Handwerk körperlich erschöpft und suchten nur noch ihr Heim. Es schien fast so als wäre Scorvus der einzige auf seinem eingeschlagenen Weg. Wie ein Lachs, der sich entgegen dem Strom eine halbe Unendlichkeit zum Laichplatz vorkämpft, schritt er unerbittlich voran bis die lang gezogene Masse sich lichtete und zu verschwinden schien. Er hörte etwas rhythmisch Quietschendes über sich.
Scorvus blickte auf und er sah ein Gasthausschild, dass rostig in den Angeln hing. Das von ihm herrührende Geräusch war grässlich, dachte er sich bis er es schließlich so hinnahm als er das Bildnis darauf erblickte.
Seine Pupillen weiteten sich in Ungläubigkeit. Dies musste es sein, wovon in der Nachricht, die ihm der Wirt einer Taverne nahe der südlichen Grenze Vandriens überreicht hatte, die Rede war! Er blickte prüfend hinter sich, ehe er das Pergament aus dem linken Ärmel zog, und die Beschreibung des Fremden mit dem Bildnis verglich. Von der Neugierde ergriffen, drückte er schließlich die Tür zu dem Gasthaus auf, aus welchem ihm ein Dunst verrauchten Krauts und der Geruch von Absinth sowie Rum entgegenkam. Die Luft war von Braten und sonstigen fettigen Gerichten warm und bedrückend stickig.
Scorvus ging nur wenige Schritte zur Mitte des Gasthauses hin. Die Menschen um ihn herum ignorierten sein Eindringen und ließen sich von einem unbedeutenden neuen Gast nicht stören. Er blickte über die Gesichter, der an den Tischen Sitzenden. Alles Unbekannte. Bis er im Dunkel einer Ecke die Umrisse einer ihm Gestalt zu erblickten glaubte, die ihn zu sich winkte. So trat er auf diesen Tisch und je näher kam, desto klarer wurde das Bild von dem Sitzenden als sei Scorvus das Licht selbst.
Es war Milena, eine große, drahtige Frau, die an ihn herangetreten war. Sie schob den Dunst, der hier vorherrschte mit einer bedächtigen Handbewegung beiseite und erklärte ihm mit einer Stimme, die Widerworte nicht zu akzeptieren schien, dass sie wisse wo er herkäme und dass sie ihm dies noch zu gegebenen Anlass eröffnen wolle, wenn er nur mit ihr käme, denn sie sei es, welche die Antworten auf seine Fragen hätte. Hätte Scorvus dazu „Nein“ sagen können?
So nahm sie ihn schließlich mit sich als einen Khetai, der zu unterrichten war, aber anders als Scorvus es aus Andara kannte. Als erstes unterwies sie ihn im Festigen seines Wesens durch absolute Abstinenz und den Regeln eines Kodex, der ihm in Fleisch und Blut überging. Niemals die Sinne vernebeln zu lassen! Stets die Wahrheit zu sprechen, selbst wenn es den Tod nach sich ziehen würde! Die fehlgeleiteten Brüder zu ehren als seien sie die eigenen und vor allem niemals den zu leugnen, der das Heil aller war. Der Fürst, der weltliche Statthalter und Gebieter seines Vaters, der den Tod wählte als dieser vom Weg abgekommen war und seinen Herren enttäuscht hatte.
Dies zu erfahren, war wie eine Erlösung für Scorvus, wenn auch eine schreckensreiche und fortan war der Zweifel und die Angst, die Fehler seines Vaters zu begehen die alltägliche Bürde, die er sich selbst auflastete.
Zudem lernte er wie er mit den Täuschungen der Kirche umzugehen hatte, deren Lehren er auf Grund der Erziehung im Orden auswendig kannte. So kam es, dass er die Prüfungen und Listen seiner Schwester und Mentorin Milena bestand und von ihr in den Stand des Morotai erhoben.
„Sterben! Was heißt das? Siehe, wir träumen, wenn wir vom Tode reden.“
‚Es heißt, dass das, was die Vernunft und der Scharfsinn nicht mächtig sind uns zu zeigen, offenbart der Herr in unseren Träumen. Vieles was unsere Sinne nur unbewusst wahrnehmen, zwischen den Zeilen geschrieben steht und die Wahrheit hinter falschen und giftigen Worten verborgen bleibt, dreht sich in einem Traum. Plötzlich liest sich alles auf dem Kopf und von rechts nach links. Was wir noch nie kannten, ist uns längst vertraut. Das was wir erst seit kurzem kennen, wird uns in der Ferne verblassen sehen. So ist es mit den Träumen. Manchmal redet man sich ein, man könne sie deuten, aber auch dies ist eine Illusion.
Jene, die sich nach dem Tode sehnten, wollten nie mehr als Einsamkeit mit sich selbst und tot stellen sie dann fest, dass ihnen der Zutritt zu den Hallen verwehrt ist und die absolute Einsamkeit nach dem Freitod ihr Frevel war und sie in alle Ewigkeit verdammt sind.
Was soll dies nun bedeuten?
[color=darkred]Es bedeutet, dass der Tod groß ist und die Seinen lachenden Mundes sind. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns. Das ist Tod wie Traum.’
Mit einem stummen Aufschrei reißt Scorvus seine Augenlider auf. Wieder war es einer dieser Träume, die ihm in letzter Zeit keine Ruhe gönnen wollten. Flach atmend verbleibt er eine zeitlose Weile in dem Bett seiner Kajüte. Das Schiff, auf welches er sich einige Wochen zuvor in Rothenbucht begab, will ebenfalls nicht zur Ruhe kommen. Der Sturm, der seit Tagen andauert, trägt für das unstete Wippen des alten, knarrenden, hölzernen Monstrums Sorge. Scorvus’ Blick hat sich auf das pendelnde Licht der Öllampe gerichtet, das an der Decke aufgehängt ist. Rhythmisch bewegt es sich mit einem missklingenden Quietschen hin und her und lässt den Eindruck erwecken, dass über dem Gesicht des jungen Mannes heller Haut von links nach rechts und rechts nach links Schatten huschen und stellvertretend bizarre Gesichtszüge bilden, die der Nachdenklichkeit Scorvus’ wegen nicht real sind.
So setzt er sich auf und greift nach dem schwarzen ledernden Band, den er hinter sich unter dem Kopfkissen hervorzieht. Seine grünen Augen betrachten das einleitende Symbol, das Wappen des Fürsten, einen Moment ehe er es aufschlägt und sofort muss er das Buch fester greifen, weil ein scharfer Luftzug es ihm zu entreißen versucht. Die Seiten werden von Ventus’ Schergen peinigend geblättert während weitere triviale Aufzeichnungen vom Tisch der Kajüte zu Boden wehen. Die unsichtbaren Hände lassen von dem Buch ab und Scorvus’ wird die nächste zu beschreibende Seite seines Tagebuches offenbart, dessen Datum „15. Onar 16 n. H.“ schon notiert war. Er schlägt das Buch wieder zu und hinterlegt es dort, wo er es hergenommen hatte.
Zu unentschlossen und seiner Gedanken nicht ganz Herr machen ihn die Träume. Träume, die ihn ursprünglich dazu brachten, den Weg einzuschlagen, den er nun eingeschlagen hatte. Immer und immer wieder hatte er von dem Eiland fern des Kontinents geträumt, auf dem ein Krieg tobte, der die viergöttliche Ordnung von Tare fegen und ein Zeitalter der Gerechtigkeit und Wahrheit einleiten sollte.
‚Nacht. Sturm. Regen. Heeren marschieren aufeinander zu, unter deren metallen scheppernden Rüstungen verliert sich das Antlitz der Natur. Sie stürmen aufeinander zu und aus der Ferne beobachtet fließen sie ineinander über, um dann wie zwei Männer auszusehen, die miteinander ringen und den Ausgang der Schlacht ungewiss gestalten. Die Diener der Dunkelheit – die Treuesten der Treuen schicken sich an, in die Schlacht einzugreifen. Scorvus ist als würde er schweben. Er will laufen und handeln, kann aber nicht. Hilflosigkeit lässt seine Lunge brennen.’
Scorvus’ Glauben nach sind Träume mehr als die Verarbeitung des unbewusst aufgenommenen. Sie sind Normen, die lehren wollen. Bilder, die manchmal trügen, aber auch vor allem fordern. Jeder eine Prüfung für sich.
Dieser Traum fordert. Scorvus entschied sich für die Reise nach Siebenwind als in Galadon das achte Jahr seines Auszuges aus Andara angebrochen war und die Bilder des Schlafes ihn lang genug getrieben hatten. Es war nun an der Zeit, sich der Lüge zu stellen, dem es auf Siebenwind zu entgegnen galt und den zu vergelten, dem er sein Leben verdankte.
Blitz und Donner zirpen über den Horizont, der das Meer ist, als Scorvus das Deck betritt. Die Mannschaft sind Sklaven des Unwetters und lassen sich von ihm peitschen weil sie seiner Ansicht nach sich widerstandslos ihrem Schicksal hingeben. Mit den schlanken, dürren Fingern zieht er sich die Kapuze in das nun finstere Gesicht, damit die Peitsche ihn nicht allzu sehr plage. Er sieht zum Ende der Welt. Ein erneuter Blitz hüllt Land in einen schummerigen Schein, der im Angesicht der aufblitzenden grünen Augen unter der Kapuze „Siebenwind“ gerufen wird.
Nun ist Scorvus seiner Erfüllung näher gekommen. Dem Dienst seinem neuen Herren, dem er sich noch zu beweisen hatte…
Zuletzt geändert von Varg: 22.06.06, 10:52, insgesamt 1-mal geändert.
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