Nachdenklich überflog Selina die Zeilen, nachdem sie den Brief bei der Hafenmeisterei abgeholt hatte und zog sich in die Kaserne zurück. Nachdem sie einen Bericht hastig abgeschrieben hatte fand sie noch etwas Zeit für ein Antwortschreiben. Kurz dachte sie nach, nachdem sie das Schreiben in den Umschlag gesteckt hatte. Nein, Vorsicht war besser als Nachsicht, durchfuhr es sie, ehe sie von der Kerze etwas Wachs auf den Umschlag tropfen ließ, in das sie anschließend den Knauf ihres Dolches drückte. Danach erhob sie sich und begab sich zur Hafenmeisterei, in der sie den Brief aufgab. Am Steg überflog sie noch mal die Zeilen von Neseiras Brief und warf diesen ins Meer, in dem die Tinte schnell verwusch.
Liebe Neseira.
Zuerst möchte ich Dir für Deinen Brief danken. Bitte verzeih mir, daß ich ihn nicht aufbewahren kann, denn sollte ich aufgeriffen werden möchte ich Dich dort nicht hinein ziehen. Dies ist die Sorge, mit der wir alle leben, unser Schicksal ist so oder so unabwendbar, aber wenn ich schon falle, so möchte ich niemanden mit mir reißen. Zwar gesteht mir meine jetzige Stelle eine Menge Privilegien und Schutz zu, wirklich sicher können wir aber nie sein, solange wir noch gejagt werden. Sorge Dich trotzdem nicht um mich, auch wenn jeder Brief der letzte sein kann, meine Brüder und Schwestern halten ihre Hände schützend über mich, so wie ich die meinen über sie. Ich kann Dir versichern, daß Hauptmann Brandner nicht mehr weiß, als er wissen muß. Er hält mich für eine Gläubige Riens und ich sehe keinen Anlaß, dies richtig zu stellen, ist die Haltung ihrer Geweihten, die nicht zuerst an sich sondern auch an das Wohl anderer denken doch etwas, das ich gutheißen und unterstützen kann. Deine Bedenken über den Krieg teile ich, auch wenn ich fürchte, daß die Hoffnung auf ein schnelles Ende sich nicht erfüllen wird, zu zerstritten sind die einzelnen Organisationen, zu wenig der Halt. Auf dem Schlachtfeld mögen sie zusammen kämpfen, außerhalb aber streiten sie sich um Nichtigkeiten und keiner ist gewillt, seinen Stolz zu schlucken und dem anderen seine Hilfe an zu bieten. Jeder will herrschen, jeder will die Macht und jeder will den Ruhm. Dies ist wohl der einzige Vorteil des Lehensbanners, uns steht weder das eine, noch das andere zu und wir scheren uns auch nicht darum. Wir leisten unseren Beitrag in diesem Krieg, auch, um ihn anderen zu ersparen und sind zufrieden damit, auch wenn wir zum Dank dafür von den Bewohnern Brandensteins gehaßt werden, aber Undank ist der Welt Lohn. Ich hoffe, Dir bleiben die Zustände hier erspart. Manchmal denke ich, alle sind wirr im Kopf, wie sie sich in kleinen, nichtigen Streitigkeiten gegenseitig zerfetzen. Die Fronten der einzelnen Völker und Gilden gegeneinander sind verhärteter als die dem Einen gegenüber. Angesichts solcher Machtspiele und dem ewigen Ränkegeschmiede frage ich mich manchmal, ob wir hier gegen die richtigen kämpfen. Zum Glück kann ich diesen Gedanken immer schnell abschütteln. Ich bin jedenfalls sehr dankbar, daß es in dem Hornissennest des sogenannten freien Siebenwinds noch Männer und Frauen wie Dich gibt, die zu beschützen und vor all dem Elend an der Front zu behüten sich lohnt und bei denen der Gedanke an sie allein ausreicht, einem Halt zu geben in einer wankenden Welt der Falschheit und der Lügen. Einer von ihnen ist Lorien Arden, ich weiß nicht, ob Du ihn kennst. Ich hatte das Vergnügen, ihn auf dem Erntedankfest kennen zu lernen, auch wenn ich fürchte, keinen sonderlich guten Eindruck hinterlassen zu haben. Auf dem Erntedankfest wurde lediglich dafür gedankt, daß wir vor Hunger verschont blieben, aber ich kam nicht umhin, auch ein paar Worte über den Schutz vor Krieg, Seuche und Tod zu verlieren. Ich kann nicht einschätzen, wie er es aufgefaßt hat. Wie ist es eigentlich um die Ernte auf Etriska bestellt? Hier auf Siebenwind sieht es düster aus. In den Wirren des Krieges, in denen fast jeder zu den Waffen griff, wurde die Saat vernachlässigt und die Wälder leiden noch immer, Wild ist kaum an zu treffen und wenn, dann wird es meist schnell geschossen. Vor einigen Tagen kam ein Schiff vom Festland, beladen mit Getreide, Hopfen und dergleichen, aber es wurde alles von den Zwergen aufgekauft und wohl ausnahmslos zu Bier, Schnaps und dergleichen verarbeitet werden. Alle anderen Völker haben im Moment kaum mehr als das Nötigste, vielleicht nicht einmal das. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich daran denke, wie Getreide, das zu Brot hätte werden können, zu Bier wird, nur damit die Zwerge wieder, verzeih' den Ausdruck, wie die Ketzer saufen können. Dana habe ich schon länger nicht mehr gesehen. Sie wollte Rekrutin der Akademie werden aber ich sah sie nie in Uniform. Auch glaube ich Du verkennst ihre Person. Sie ist keine Gläubige wie ich, sondern lediglich eine Frau, die tugendhaft sein will und zu spüren beginnt, daß sie Götzen folgt, deren Diener Tugenden predigen an die sie sich selbst nicht halten, aber diese von anderen einfordern, vor allem, wenn es ihnen zum Vorteil gereicht. Ihre Rolle in Tares Geflecht kann ich noch nicht einschätzen. Vielleicht wird sie einst eine erbitterte Gegnerin sein. Vielleicht eine Schwester. Dies mag die Zeit zeigen. Zeit ist leider, was mir im Moment davon läuft, das Schiff läuft gleich aus und ich muß zurück zum Feldlager, darum verzeih dieses harsche Ende. Grüß Agranox lieb von mir und richte ihm aus, daß wenn er sich nicht ordentlich benimmt ich vorbei komme und ihm die Ohren so lang ziehe, daß darüber jeder Waldelf vor Neid erblaßt.
Deine Selina
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