Der Schulalltag war schon irgendwie anders als es der Privatunterricht war. Schon allein, dass um einen herum noch mehr Kinder saßen, war am Anfang für Henry und Ina sehr seltsam. Das schlimmste an allem, zumindest für Henry, war auf jeden Fall dieser Schleimbeutel von Fernando de Turlin. Er war schon 13 und immer noch in der Klasse der Beiden, was er seiner grenzenlosen Dummheit verdankte. Er war so dumm, dass er schon zum dritten Mal in der Klasse sitzen und sich das Gerede der Lehrer anhören musste. Wären seine Eltern nicht so Emporkömmlinge aus Endophal, die durch mehr Glück als Können, an viel Geld und damit auch Einfluss gekommen wären, dann hätte man ihn sicherlich schon längst der Schule verwiesen und das nicht nur aufgrund seiner Dummheit, sondern auch seinem Hang dazu, anderen auf der Schule das Leben zur Hölle zu machen. Interessanter weise, so musste wenigstens Ina feststellen, störte die „Damenwelt“ der Schule seine Dummheit so gar nicht, denn er konnte sich kaum vor anschmachtenden Blicken der Mädchen retten. Wenn man es genau nahm, so musste selbst Ina, die sich nicht einmal in dem Sinne für Jungen interessierte, weil sie einfach noch zu jung war, sich eingestehen, dass er schon ein recht ansehnlicher Junge war. Er war groß, hatte dichte schwarzes Haar, einen schelmenhaftes bis charmanes Grinsen und man konnte schon jetzt bei ihm die ersten Ansätze davon sehen, dass er einmal ein mehr als stattlicher Mann werden würde und seine Augen erst. Wer als Nachkomme eines Endophalies und einer Galadonierin so blaue Augen hatte, und dazu noch die etwas dunklere Haut, der hatte einfach von Natur aus etwas unglaublich anziehendes und faszinierendes und sein Ruf als „böser Bube“ tat dann den Rest.
Eigentlich hatten weder Ina noch Henry viel mit ihm zu tun, was sie auch nicht weiter tragisch fanden, wäre dann da nicht dieses kleine Missgeschick gewesen, was Ina widerfahren war. Es war Pause gewesen und alle tummelten sich auf den Schulhof. Kinderlachen mischte sich mit Rufen und Spielgesängen und mittendrin standen unsere Beiden. Sie waren jetzt schon eine Woche an der Schule gewesen und hatten sich so langsam eingelebt. Sie hatten herausgefunden, wer hier das sagen hatte und einfach nur da war und hoffte nicht auffällig zu werden. Zu letzteren gehörte Quint, den man so herrlich manipulieren konnte und zu dem sie gerade wollten, als Ina stolperte. An und für sich wäre da ja nicht weiter schlimm gewesen, wenn da nicht gerade Fernando ihren Weg gekreuzt hätte und sie mitten in ihn reingestolpert wäre. Es war nicht mehr als ein anrempeln, aber als Ina zu ihm aufsah, sah sie die Wut in seinem Blick und wich vor ihm zurück. „Du willst wohl auch ärger, was? Glaubst du ich hab Probleme damit, dass du ein Mädchen bist? Denkst du, dass ich dich deshalb nicht anpacken würde?“ Die Kälte in seiner Stimme schreckte Ina noch mehr ab und sie verkrümelte sich hinter Henry. Sie hatte wirklich angst vor diesem großen Jungen, der ihr gerade deutlich gedroht hatte. Fast schon gelassen schob Henry die Hände in seine Hosentaschen und sah Fernando hinüber. „Denk nicht einmal daran.“ Da sich standen nun Henry und Fernando gegenüber, Fernando anderthalb Köpfe größer als Henry und doch schien Henry irgendwie keine Angst vor dem Großen zu haben. Das ganze passte nicht in Fernandos Weltbild, bisher hatten immer alle vor ihm gekuscht, selbst noch Kinder in den höheren Klassen, er hatte einfach das gewisse etwas und das wusste er. Die Beiden standen einfach nur da und starrten sich in die Augen. Ein Kräftemessen auf einer anderen Ebene, als es Fernando zu viel wurde ging er auf ihn zu und schubste ihn so fest, dass Henry glatt von den Füßen gerissen wurde und auf dem Boden landete, direkt vor Inas Füße. Jetzt passte das Bild wieder in Fernandos Welt, oder doch nicht? Irgendetwas war noch immer anders, nur was war es? Er brauchte einige Momente, bis er sich im Klaren wurde, dass Henry ihn gerade zu triumphierend anlächelte. Er, Fernando hatte doch gewonnen, aber Henry saß da und lächelte als hätte er gerade eine Schlacht siegreich hinter sich gebracht. Der erste Reflex war, dass er Henry einfach schlagen wollte, aber dieses Lächeln, es hielt ihn mitten in der Bewegung davon ab. Mit einer wegwischenden Handbewegung, mit der er über seine eigene Unsicherheit hinwegtäuschen wollte, drehte er sich von den Beiden weg und ließ sie allein zurück. „Siehst du Ina, so etwas nennt man einen Dummkopf sondergleichen. Er denkt, dass nur weil er stark und größer ist, dass alle vor ihm angst haben müssen und dabei kann man ihn so leicht verunsichern.“
Nach dieser Sache vergingen wieder einige Wochen, Wochen in denen Ina und Henry sich intensiv Quint widmeten. Dieser blasse, unscheinbare Junge hatte Qualitäten, die man ihm gar nicht so ansah. Er kuschte, wenn man ihn nur ansprach und er schien eine Schwäche für Ina zu haben. Henry hatte schon des Öfteren beobachtet, wie er ihr nachgesehen hatte, er verfolgte sie gerade zu mit seinen Blicken, aber er traute sich von selbst niemals näher an sie heran, was auch besser für ihn war, sonst hätte Henry ihn schon längst auf die passende Größe zurück gestutzt. Quint oder auch „liebevoll“ Storchenhals genannt, wurde von den Beiden immer mehr eingespannt, hier mal eine Hausaufgabe, auf die weder Ina noch Henry Lust hatten, da ein Botengang um ihnen etwas zu trinken zu besorgen und jede „Bitte“ der Beiden wurde anstandslos sofort erledigt. So ein Handlanger war schon praktisch.
Der Schulhof war auf gewisse Art und Weise ein Abklatsch der Wirklichkeit außerhalb der Umzäunung. Es gab den, der das sagen hatte, die die einfach nur still kuschten, die Mitläufer eben und die dazwischen, die nichts besseres zu tun hatten als über den Rest zu lästern und sich über sie auszulassen. Da blieb niemand verschont, natürlich alles nur hinter vorgehaltener Hand, aber anders war es im „wirklichen Leben“ ja auch nicht. Wenn man es recht betrachtete, dann hatten die Beiden sich gut in die Hierarchie des Schulhofes eingegliedert und hatten es, ohne große Mühen auch gleich nach weiter oben geschafft, irgendwie hatte das „Pärchen“ eine Ausstrahlung, der man sich nicht wirklich entziehen konnte. Wirklich gemocht wurden sie nicht, aber sie waren akzeptiert und viel wichtiger respektiert von den anderen und hätte Fernando nicht so langsam Anstoß an dem schnellen Aufstieg der Beiden genommen, hätte es auch so weiter laufen können, aber es kam eben doch anders. Irgendwann wurde es Fernando zu viel, er sah sich gerade zu bedroht von Henry und Ina, dabei hatten sie eigentlich anstallten gemacht ihn von seinem Thron zu schubsen, aber schon allein der Gedanke daran, machte ihn rasend. Er musste einfach wieder einmal klar stellen, wer hier auf dem Schulhof das Sagen hatte. Eine passende Gelegenheit bot sich ihm, als eine kleine Ausstellung geplant wurde. Jeder der Schüler sollte sich etwas zum Thema „Magie und Alchemie“ ausdenken und seine Thesen anhand von kleinen Schaustücken darstellen. Henry hatte sich dazu entschieden etwas mehr auf die Alchemie einzugehen, auf die Möglichkeiten, Dinge mittels alchemistischer Untersuchungen herauszufinden und Ina hatte ein wirklich hübsches Schaustück erstellt, in dem sie Alchemie und Magie verglich, anhand von einem Stärkungstrank und einem Stärkungszauber. Es war gar nicht so leicht gewesen, an die passenden Informationen zu kommen, schließlich waren Magier ja so eine eigene abgeschlossene Gruppe, die auch durchaus, auf die „normalen“ mit Hochmut hinab sahen, aber sie hatte es geschafft und war sehr Stolz auf das Schaustück und ihre Aufzeichnungen.
Als der Tag der Ausstellung gekommen war und alle Eltern zur Schule kamen um die geistigen Ergüsse ihrer Kinder zu Gehör und zu Gesicht zu bekommen, schlich sich Fernando zuvor in die große Schulaula in der alles schön aufgebaut war und nur darauf wartete von Menschenmassen durchschritten zu werden. Er betrachtete sich eine Weile lang Inas Ausstellungsstück, sie hatte kleine Pappfigürchen gebastelt, erst vier normale, dann zwei, die Muskeln aufzeigten. An kleinen Pfeilen, die an einer einfach aufgebauten Holzkonstruktion hinab baumelten, klebten Hinweisschildchen auf denen in kindlicher Präzision erklärt war, wie sich der Zauber, oder auch der Trank auf einen Menschen wirkten und nach den Muskelmännchen standen wieder zwei normale, mit den Hinweisen, wie lang in etwa sich das ganze auf den Menschen auswirkte und so weiter und sofort. Fernando musste zugeben, dass da wohl eine Menge Arbeit hinter gesteckt hatte, schon allein die Vorarbeiten, aber es war ihm egal. Er war der Herr der Schule und das würde er jetzt wieder beweisen. Er machte sich also daran, das kleine Meisterwerk auseinander zu nehmen. Er zerbrach Holz, zerriss Pappe und wischte das ganze zum Schluss noch vom Tisch hinunter um darauf herum zu trampeln. Für dieses Schaustück sollte es keine Rettung mehr geben.
Als sich die großen Türen der Aula öffneten und die Leute hineinströmten, war er bereits wieder fort, nur sein Werk war zu begutachten. Ina stiegen Tränen in die Augen, als sie das ganze sah. Die Kleine konnte es einfach nicht fassen, dass jemand so etwas getan hatte und das obwohl sie doch gar nichts getan hatte. Sie konnte nicht anders, als sich leise schluchzend an Henrys Schulter zu vergraben. Das war doch nicht fair. Henry spannte sich deutlich an, als er Ina tröstend im Arm hielt. Seine Gedanken machten gerade zu Sprünge. Wer hatte das wohl getan, und warum? Immer wieder strich er Ina beruhigend über den Rücken, während sein Blick über die Anwesenden ging. Wer hätte einen Grund dazu? Dann blieb sein Blick an Fernando hängen, der weit hinten, lässig an der Wand lehnte und mit einem derart breiten Grinsen hinüber sah, dass es für Henry nicht einmal mehr eine Spur eines Zweifels gab. Er war es gewesen. Er und niemand anderes. Henry verengte die Augen und starrte Fernando an, wobei sein Blick gerade zu düster wurde unter den geballten Gefühlen von Wut und Hass. Langsam verblasste Fernandos Grinsen, dieser Blick, so etwas hatte er noch nie bei einem Kind gesehen. Eiskalte Schauer liefen über seinen Rücken hinweg und er machte sich schnellst möglich aus der Aula davon.
„Storchenhals“ rief Henry schon, als er noch einige Schritte von dem blassen Jungen entfernt war. Es war der Tag nach der Ausstellung und Henry hatte einen Entschluss gefasst. „Dein Vater ist doch Apotheker, nicht wahr?! Er hat Ahnung von den Dingen der Alchemie.“ Quint nickte recht schnell und brachte stotternd ein „Ja“ hervor. Du wirst Ina und mir einen Gefallen tun und wirst es gern tun.“ Die Stimme des Jungen war ungewöhnlich fest und nachdrücklich für ein Kind. „W.. w.. was?“ „Du wirst bei deinem Vater ein wenig Gift entwenden und es mir geben.“ Quint starrte Henry mit großen Augen an, als würde er gerade dem Tod selber ins Antlitz blicken. „D..d..das g.g..geht doch nicht. D..d.d.das kann i..i..ich.. nicht.“ „Und ob du kannst.“ Reflexartig ging Henrys Hand nach vorn vor und erwischte Quint an der Kehle. Du kannst und du wirst es mir besorgen. Hast du mich verstanden? Ansonsten…“ Henry lies den Satz offen stehen und lies den noch blasser gewordenen Quint los, welcher sich erst einmal gegen die Wand lehnen musste, als ihm die Beine zu versagen drohten. Er nickte nur noch hastig und brachte keinen Ton mehr hervor. „Gut, dann haben wir uns ja verstanden. Morgen wirst du es mitbringen, nicht wahr?“ Quint nickte erneut einige Male und Henry lies ihn schließlich einfach stehen und ging seinem geregelten Schulalltag nach.
Am nächsten Morgen, noch vor Schulbeginn fing Henry Quint vor der Schule ab. „Und? Hast du das, was ich wollte?“ „B..b..bist d..d..du dir..s..s..sicher?“ Der starre Blick von Henry, welcher auf ihm lastete, lies ihn aber nur leicht nicken und schon griffelte er aus seiner Schultasche ein kleines Fläschchen hervor, fast schon unscheinbar wirkte es auf Henry, als er es an sich nahm. Eine Weile lang betrachtete er die fast durchsichtige, hellgrüne Flüssigkeit in dem Fläschchen, ehe er es absinken lies. „Sollte es nicht das sein, was ich wollte, werden wir uns widersprechen.“ Mit den Worten verschwand Henry durch das große Tor ohne Quint auch nur noch eines Blickes zu würdigen. Die Zeit bis zur Pause zog langsam dahin, doch endlich war es soweit, nur eine kleine Ablenkung noch und es würde alles seinen richtigen Gang nehmen.
Jetzt war es an Ina und die Kleine spielte ihre Rolle so gut, dass selbst Henry es ihr fast abgenommen hätte. Sie ging auf Fernando zu und senkte verschüchtert die Augenlider hinab. „Fernando, ich… bitte, bitte.. lass mich in Ruh, ich habe dir doch nichts getan. Ich tu auch alles was du willst, du musst mir nur sagen, was.“ Ein siegessicheres Lächeln lag auf den Zügen des großen Jungen, als er sich Ina zuwandte und damit seiner Tasche mit dem Pausenbrot darin, den Rücken zu drehte. Er ließ sich so von Inas treuherzig verängstigtem Blick in den Bann ziehen, dass es für Henry ein leichtes war, Fernandos Pausenbrot mit einigen Tropfen Gift zu versetzen. Erst waren es nur zwei Tropfen, aber Henry wusste nicht, ob es ausreichen würde und so träufelte er gleich noch 5 weitere darauf. Das sollte wohl reichen. Als Henry an der Tür stand, gab er Ina ein Zeichen und sie zog sich, gekonnt zitternd von Fernando zurück. „Du musst es nur sagen… und ich werde es tun.“ Schon war sie aus dem Raum verschwunden. Henry und Ina setzten sich auf eine der Bänke, welche mitten auf dem Schulhof standen und ihnen so den Blick gestatteten auf alles, was dort so vorging und schon kam auch Fernando auf den Hof. Großkotzig wie immer, pöbelte er hier und da jemanden an, ehe er sich selbst gestatte sein Pausenbrot zu essen. Nach dem ersten Bissen hielt er inne und saß auf dieses hinab, als wäre da etwas nicht ganz so wie es sein sollte. Die Beiden hielten den Atem an, würde er nicht weiter essen, so hätte das alles keinen Sinn, aber der Hunger schien größer zu sein, als der Fremdgeschmack, der ihn zuvor gestört hatte und so verdrückte er das ganze Brot mit wenigen Bissen, er schlang es gerade zu hinab. Jetzt wurde es interessant. Fernando ging noch einige Schritte voran, dann fasste er sich an den Magen und verdrehte die Augen, nach und nach wurde er erst grünlich im Gesicht, dann bleich und schließlich kippte er einfach nach vorn um und blieb reglos liegen. Der gesamte Schulhof war in Aufruhr, Lehrer und Schüler eilten hin und her, Schreie, Gekreische und doch konnte niemand mehr etwas an der Lage ändern. Fernando war tot.
Es gab Ermittlungen, als man feststellte, dass es sich um eine Vergiftung handelte, aber niemand konnte es den Beiden zu ordnen und selbst als man Quint befragte, hielt er die Klappe, denn er wusste, dass er auch so enden würde, wenn er jetzt auch nur einen Piep machen würde, soweit hatte er Henry schon durchschaut und Ina, ja, Ina hätte er so etwas niemals antun wollen. Nicht ihr, nicht dieser wunderschönen Rose inmitten der Disteln. So kam es, dass man den Fall Fernando de Turlin einfach zu den Akten legte und vergaß.
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