... Khjelben ist mir immer noch ein Rätsel. Der alte Mann redet nicht viel, seine Handlungen verwundern mich meist immer noch, und ständig stelle ich mir die Frage, wie alt er denn wirklich sein mochte. Ich hörte schon öfters Gerüchte, er zähle nun fast 80 Winter. Doch wundere ich mich immer wieder, wie ein so alter Mann waffenlos mit einem Wolf ringt und auch zurückbeißt, ohne größere Blessuren davonzutragen, und sich dabei verhält, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Wie er es immer wieder schafft, reißende Gebirgsbäche zu durchschwimmen, im Winter allein mit einer leichten Wolldecke beschützt draußen zu übernachten oder eine angreifende Bärenmutter nur mit einem Blick in deren Augen zu einem friedlichen Haustier werden zu lassen. Genau kann ich beim besten Willen nicht sagen, wie alt er ist, doch er ist auf jeden Fall lebendiger als die meisten jungen Krieger, die ich bisher gesehen habe.
Heute kamen wir in Iskel Fjord an, ein kleines Dörfchen am Ende einer Bucht und Schauplatz einer der blutigsten Gemetzel des Krieges gegen das Königreich. Auch jetzt war Iskel Fjord noch immer das kleine und unbedeutende Nest, wenn man mal von der Trutzburg des Königreiches absah, die hier an der Grenzlinie zwischen den südlicheren Gebieten und den freieren nördlicheren Territorien errichtet wurde. Aufgrund der hiesigen Schwefelquellen maß das Königreich diesem Ort einen hohen Stellenwert zu und so war es kein Wunder, dass die Bewohner von Iskel Fjord der königlichen Besatzertruppe zahlenmäßig unterlegen waren. Die Art, wie Khjelben die Burg ansah, ließ mich für einen kurzen Moment erschaudern. Ich hatte gewiss schon Wut in seinen Augen zu sehen geglaubt, so dachte ich jedenfalls, aber das, was ich nun erkannte, musste etwas sein, das bloßen Hass bei weitem überstieg. Es war die Art, wie eine Mutter den Mörder ihres Kindes betrachtet, oder aber auch ein zu Unrecht Verurteilter seinen Folterknecht. Zu diesem Zeitpunkt wünschte ich mir, Khjelben würde lieber umkehren, doch er schien eher etwas anderes im Sinn zu haben.
Wir gingen den steinigen Pfad zum Dorfplatz hinunter, an dessen einer Ecke das Burgtor lag. Gerade als wir den Platz erreichten, wurde das Burgtor geöffnet und eine kleine Schar bewaffneter Soldaten, angeführt von einem Hauptmann in polierter Plattenrüstung, betrat den Platz. Nach ein paar Kommandos des Hauptmanns, dessen Spitzbart von den meisten Bewohnern und auch mir als ziemlich lächerlich empfunden wurde, stellte sich die Schar in einer Reihe auf und präsentierte ihre unhandlichen Hellebarden. Mir fiel sofort auf, dass die unbehände Art, wie einige ihre Waffen hielten, und die Tatsache, dass einige jämmerlich zu frieren schienen, wohl darauf hindeutete, dass sie erst seit kurzem im Norland stationiert waren. Der Platz war schnell bevölkert von allerhand Nortraven des Dorfes und einigen Königreichlern. Als genügend Volk anwesend war, ließ der Hauptmann einen kleineren Soldaten mit besticktem Lederwams vortreten. Dann folgte ein „Aaaachtung“, wobei das Ende in einen halben Nieser überging, sich der Hauptmann danach die Nase rieb und den lustigen Spitzbart zwirbelte. Das jedoch veranlasste viele der umstehenden Nortraven zu einem fröhlichen Gelächter und Witzeleien. Im Gegenzug aber den Hauptmann zu abfälligen Blicken auf seine Spötter. Der kleinere Soldat räusperte sich kurz, holte tief Luft, entrollte ein Schriftstück und begann dann laut vorzulesen: „Hört! Hört! Seine Durchlaucht, der Baron Creon McTennan, gibt bekannt, dass sich das Volk von Iskel Fjord am morgigen Tage zur Feier seines Geburtstages im Burghof einfinden wolle. Als Zeichen seiner Gutmütigkeit und Großzügigkeit,“ – in diesem Moment flogen ein paar alte Fische aus den hinteren Reihen auf die Soldaten, zwei trafen den Vorlesenden. Der Hauptmann winkte vier seiner Männer in die Richtung, die sich dann im Laufschritt aufmachten, die Fischwerfer zu finden. Mit einem weiteren Zeichen wies er den kleinen Soldaten an weiterzulesen. - „Als Zeichen seiner Gutmütigkeit und Großzügigkeit„ – Missfallensrufe kamen jetzt von der anderen Seite des Platzes – „wird dem Volk gestattet, bei Wein, Gesang und einem gebratenen Ochsen dieser Feierlichkeit beizuwohnen.“ Danach rollte er das Pergament wieder zusammen und trat in seine Reihe zurück. Der Hauptmann ließ die Soldaten wieder durch das Burgtor marschieren, allerdings legten sie das letzte Drittel des Weges etwas zügiger zurück, da sie von faulendem Gemüse und noch weiteren Fischen eingedeckt wurden, begleitet von allerhand wüsten Beschimpfungen. Als sich das Burgtor langsam wieder schloss, begann auch die Menge den Platz zu räumen. Wir folgten dem größten Haufen der Menge, der sich in Richtung Hafen und wohl in Richtung der nächsten Taverne bewegte. Zumindest war das meine Hoffnung, welche auch prompt bestätigt wurde. Nach den letzten Strapazen unserer Wanderung sehnte ich mich mal wieder nach einem richtigen Bier - oder mehreren.
Die Taverne war recht groß für so ein kleines Dorf, aber schnell waren alle Tische besetzt. Khjelben schien jemanden im hinteren Bereich der Taverne entdeckt zu haben, ging geradlinig auf einen Tisch mit drei alten Männern zu und blieb davor vorerst stehen. Sie sahen heruntergekommen und ärmlich gekleidet aus, dennoch ließ ihre Art sich zu bewegen, die Axt, die der eine mit sich trug, oder die Goldkette, die bei dem anderen am Hals herauslugte, erahnen, dass die drei schon bessere Zeiten erlebt hatten. Als wir ankamen, redeten sie wohl über die Feierlichkeiten, wobei einer der Alten - er saß direkt am Kopfende des Tisches, gegenüber der Position, an der Khjelben stand - ziemlich aufgeregt war und gerade laut lachte, um uns sein fast zahnloses Maul zu präsentieren. Außerdem bemerkte ich etwas später, dass er auch nur einen Arm zu haben schien. Als er uns sah, musterte er mich kurz und schweifte dann mit seinem Blick zu Khjelben. Ein kurzes Funkeln schien in seinen Augen aufzukeimen, dann eine Art Ungläubigkeit. Er kniff die Augen zusammen und brach plötzlich mit einem Satz hervor, den ich mir in meinem ganzen Leben nicht zu Khjelben zu sagen gewagt hätte: „Khjelben du alter Mistbock, sag bloß, die Würmer haben dich immer noch nicht gefressen? Wie lange willst du deinen alten Körper den Viechern denn noch vorenthalten? Thjarek müsste doch wohl schon genug von dir haben. Soll er sich doch mal Jüngere für diesen Dienst aussuchen.“ Ein breites Grinsen brachte die wenigen Zähne des Einarmigen zum Vorschein. Ich hätte in diesem Moment fast jede Reaktion von Khjelben erwartet, aber nicht, dass er dem Alten um den Hals fiel und ihn wie einen Bruder begrüßte. Naja, fast wie einen Bruder: „Tjalf, du alter Hurensohn. Wenn du weiter so eine große Klappe hast, werden dir wohl auch noch die letzten Zähne ausgeschlagen werden oder ich werde dir auch noch deinen anderen Arm abschlagen müssen. Jetzt mach aber erst mal Platz, du verlauster Seeräuber, und lass den Jungen hier und mich dazusetzen.“
Der Abend wurde dann noch recht vergnüglich und ich lauschte gespannt den Erzählungen, die der Alte so zu erzählen wusste. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Tjalf den Schwarzen, Anführer des Blutwolf-Clans. Einer der berüchtigsten Piraten, den diese Gegend hier gesehen hatte. Bis zu dem Tag, als ein junger Berserker namens Khjelben ihm seinen rechten Arm abschlug. Danach atmete die Region hier auf und man sah nur selten wieder eines der Blutwolfschiffe; bis zu dem Tag, als die Armee der Menschen ins Norland einfiel. Damals kämpfte der Blutwolf-Clan Seite an Seite mit den Mannen des Hetmanns um einen Gebirgspass hier ganz in der Nähe. Und es gelang ihnen, wochenlang diesen Pass gegen eine große Übermacht zu halten, bis sie schließlich nach zahllosen Angriffswellen das Feld räumen mussten. Kurz danach wurde auch Iskel Fjord von den Königreichlern besetzt. Irgendwann später am Abend machte ich dann wohl einen Fehler, indem ich die Frage stellte, ob die drei denn auch morgen zum Geburtstag des Barons erscheinen würden. Als ich die Frage fertig gestellt hatte, sah es auf den ersten Blick so aus, als würden mich alle auf der Stelle zu Mus verarbeiten wollen. Tjalf war der erste, der wieder mit mir sprach, und das auch nur, um mir eine Rede zu halten, die ich nicht so schnell vergessen sollte: „Das war doch jetzt hoffentlich ein Witz, oder? Sag mal, bist du noch bei Trost? Hat Dir Khjelben denn nichts beigebracht? Diese Leute sind Abschaum. Selbstgerechte und herrschsüchtige Lackaffen, die von Schweinen in bunten geschmacklosen Kleidern regiert werden, die nichts besseres zu tun haben, als sich für die Krone der zivilisierten Welt zu halten und alle anderen als minderwertig zu betrachten, und deshalb alle unterdrücken dürfen. Kaum einer von denen hat den Stolz und die Ehre, wie sie selbst jeder nortravische Bauer hat. Die Orks mögen zwar hier eingefallen sein und auch gegen uns Krieg geführt haben, aber gegen das, was die Königreichler hier anrichteten, sind die Orks noch ein anständiges und ehrenvolles Volk. Jaja, die Königreichler reden immer vom Guten, das sie uns bringen wollen, und dass sie nur friedliche Absichten haben. Aber jedes Mal, wenn sie etwas Gutes tun wollen, muss unser Volk darunter leiden und büßt einen Teil seiner Freiheit ein: Im Namen des Guten wurden unsere Dörfer verbrannt; im Namen des Guten wurden unsere Frauen geschändet; im Namen des Guten wurden Eltern die Kinder weggenommen und verschleppt; und im Namen des Guten wurden unsere Männer getötet oder zum Bau solcher Burgen wie der da draußen gezwungen. Und in all diesem Leiden müssen wir stets das Wappen des Königs sehen, das immer unserem Unheil beiwohnt. Und wenn du denkst, dass dieser Baron uns einlädt, um uns etwas Gutes zu tun, dann bist du falsch gewickelt. Das tut der nur, um uns in seiner überheblichen Art zu zeigen wie toll er doch ist und um uns in all seiner Pracht vorzuführen, dass seine Hunde das Jahr über etwas besseres zu Fressen bekommen als wir auf seinem Fest - dieser fettwanstige Drecksack. Aber dieses Jahr wird er ein unvergessliches Geburtstagsgeschenk erhalten. Die Spielereien haben jetzt ein Ende. So was macht er nicht mehr mit uns und nicht hier. Nicht im Lager der BLUTWÖLFE!“ Beim letzten Wort, das er in den Raum brüllte, stiegen plötzlich alle in der Taverne mit ein, und ein unheimliches lautes Wolfsheulen setzte in der Taverne an. Auch andererorts in Iskel Fjord fand das Heulen auf Erwiderung. Das erste Mal seit vielen Jahren fand dieses Heulen wieder an die nortravischen Küsten zurück, und es hatte nichts an seiner einschüchternden Wirkung verloren. Auch als es wieder still in der Taverne geworden war, hörte man vereinzelt draußen immer wieder Gruppen, die lauthals bekanntgaben, dass die Blutwölfe wieder mit ihrer Hatz begonnen hatten. Ich war teilweise eingeschüchtert und verwundert und wusste nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Aber schließlich fiel mein Blick auf Khjelben. Als ich ihn leicht schmunzelnd und zufrieden vor seinem Bierkrug sitzen sah, wusste ich, dass uns hier nichts passieren würde - uns nicht.
Der folgende Abend verlief dann noch recht lustig. Wir verbrachten einige Zeit damit, Karten zu spielen und weitere Bierkrüge zu leeren, während den ganzen Abend lang immer wieder kleinere Gruppen von Nortraven die Taverne betraten, ihre Anwesenheit mit einem leichten Nicken zu einem der drei alten Männer an unserem Tisch bekanntgaben und auf die selbe Weise auch von den Dreien zurückgegrüßt wurden. Bei einigen der Neuankömmlinge war ich mir ziemlich sicher, dass es sich um erfahrene Krieger handeln musste. Die Art, wie sie sich bewegten, ihre vernarbten Arme und die Weise, sich in dem Raum umzublicken und die Lage zu sondieren, waren eindeutig.
Der Tag des großes Festes war gekommen. Die ersten schwachen Strahlen der Sonne bahnten sich mühsam durch die grau-tristen Nebelschwaden des kleinen Dorfes, die neben dem immer wieder ansetzenden Wolfheulen die Nacht beherrscht hatten. Der Nebel verzog sich langsam und machte einigen kleinen Grüppchen von Nortraven Platz, die in ihrer nicht gerade prunkvollen Kleidung aus grobem Leinen und Fellen in Richtung Burg zogen. Das Burgtor war geöffnet und drei Doppelwachen kontrollierten alle, die zum Geburtstag des Barons erschienen. Gruppe für Gruppe des ankommenden Volkes wurde durchsucht und in den Burghof weitergeschickt, wo einfache Holztische und Bänke aufgebaut worden waren. In der Mitte war ein großes Feuer errichtet und darüber brutzelte ein ganzer Ochse an einem Spieß. Diener des Barons waren damit beschäftigt, den Leuten im Hof billiges Bier auszuschenken oder immer wieder etwas vom Ochsen zu bringen. Es war schließlich von allem genügend da; nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung schien der Einladung des Barons gefolgt zu sein und so waren viele der aufgebauten Tische unbesetzt. Den Wachen schien das Ganze nur recht zu sein. Sie waren es gewohnt, dass das Volk von Iskel Fjord sie nicht mochte, und jedes Mal, wenn zu viele Nortraven auf einem Haufen beisammen waren, mussten die Wachen darauf vorbereitet sein, dass es Ausschreitungen gab. Dass an diesem Tage nicht damit zu rechnen war, stimmte auch die Wachen vergnüglicher, und ihre Anspannung sank. Einige ließen sich in der Folge auch dazu hinreißen, sich selbst ein Bier zu gönnen oder ein Schwätzchen mit der holden Weiblichkeit, den Töchtern von galadonischen Händlern oder den beschäftigten Mägden, zu führen. Auch der Baron selbst schien sich auf seinem Balkon, über dem ganzen Innenhof thronend, mit zwei Mätressen, seinem Berater, drei Junkern und dem Hauptmann der Wachen in seiner Begleitung, köstlich zu amüsieren - bis zu einem gewissen Vorfall.
Ein Heulen im Dorf setzte an, das dann auf vielfache Erwiderung stieß, und auch einige Nortraven im Burghof setzten mit ein. Furcht zeichnete sich im Gesicht des Barons ab, der dieses Heulen wohl noch aus dem Krieg sehr gut zu kennen schien. Auch einem der Junker und dem Hauptmann merkte man an, dass sie wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Auf einen Wink des Hauptmanns hin rannten zwei Gardisten in Richtung der Wachbrücke, um das Tor zu schließen. Kurz, nachdem sie die Torbrücke betreten hatten, wurden ihre blutigen Körper aus den Fenstern der Wachbrücke zwischen die Bänke und Tische des Innenhofs geworfen. Drei große vermummte Gestalten lösten sich aus den Schatten der Wachbrücke und zeigten sich an den Fenstern, blutige Äxte in ihren Händen. Die drei legten ihre Umhänge ab, sodass jeder sie erkennen konnte. Es waren die drei Patrone des Blutwolf-Clans mit Tjalf dem Schwarzen in ihrer Mitte. Langsam erhob er seine Axt und deutete auf den Baron, der ihm direkt gegenüber auf dem Balkon saß. Der Innenhof und die umherstehenden Soldaten wirkten wie angefroren, keiner war zu irgendeiner Aktion fähig. „Duuu!! Du hast zum letzten Mal deinen fetten Körper auf unsere Kosten vollgestopft. Das ist unser Land hier und kein Königreichler wird das jemals ändern können.“ Langsam wie geworfene Äxte verließen diese Worte Tjalfs Mund, die blutige Kampfaxt immer noch erhoben und auf den Baron gerichtet. Jedes dieser Worte traf den Baron und ließ ihn fester in seinen gepolsterten Stuhl sinken. Tjalf blickte noch eine Weile zornig auf den Baron und auf den Balkon mit den restlichen namhaften Königreichlern, bevor er wieder zu einem Heulen ansetzte, das nun etwas einleitete, was der Baron wohl in seinen schrecklichsten Träumen nicht zu sehen gewagt hatte. Bei diesem Heulen stiegen die anderen zwei Patrone mit ein, die Nortraven im Burghof heulten mit, und eine große Meute von Nortraven stürmte wild heulend und brüllend aus mehreren Richtungen auf das Burgtor zu. Die wenigen Nortraven im Burghof hatten sich inzwischen schon provisorisch bewaffnet und begannen auf die noch etwas erschreckten Wachen einzustürmen, während Tjalf und seine zwei Begleiter die Wachbrücke hielten und das Schließen des Tores verhinderten. Lange mussten sie dort auch nicht ausharren, denn die wenigen Wachen am Tor wurden schnell erschlagen und eine gut bewaffnete und kampferprobte Schar Nortraven - zumeist Blutwolf-Piraten - kontrollierte den Burghof, hatte bald sämtliche Wachen dort mit gezielten wuchtigen Hieben niedergemäht und jagte laut grölend Königreichler durch die Burg.
Bald war die gesamte Burg in nortravischer Hand, bis auf die letzten paar Räume unten im Verlies, in die sich der Baron und einige wenige seiner Leute verkrochen hatten. Immer wieder krachte ein dicker Balken, der als Rammbock diente, von außen gegen die schwere Eichentür, bis sie schließlich nachgab und den Blick auf den kümmerlichen Rest der galadonischen Obrigkeit freigab. Ein Junker, der Hauptmann und der Baron, aneinandergekauert wie Ratten in der hintersten Ecke des Verlieses. An dem Ort, an dem zahllose Nortraven hatten leiden müssen und gefoltert wurden, weil sie den Namen Thjareks aussprachen oder vor dem Baron nicht niederknien wollten. Bedrohlich schoben sich immer mehr nortravische Männer in den Raum, ihre Gesichter bespritzt mit dem Blut galadonischer Wachen, Schweißperlen auf der Stirn, und schwer atmend ihre Waffen haltend. Jeder von ihnen wirkte, als wolle er dem jämmerlichen Haufen Königreichler jeden Moment das Leben nehmen. Tjalf schob sich langsam durch seine schnaubenden Männer, bis er vor dem Baron stand, welchen jetzt anscheinend wieder ein Funke des Mutes überkam. „Denkst du Verbrecher, du kommt damit durch? Das Königreich wird Verstärkung schicken und euch alle töten lassen. Wenn euch Barbaren soviel daran liegt, uns zu schaden, dann tötet uns doch, aber das Königreich wird zurückschlagen und jeden eurer Hiebe dreifach vergelten.“ Tjalf begann bei den Worten des Barons langsam finster zu lächeln. „Soso, wird es das, das Königreich. Wir fürchten uns ja schon schrecklich“ – Gelächter erfüllte den düsteren Raum – „bedauerlicherweise hat ein Erdrutsch den Pass unpassierbar gemacht und im letzten Sturm gingen die beiden großen Schiffe deines Grafen plötzlich unter - Blubb, Blubb. Wenn also irgendwer überhaupt mitbekommen wird, was hier vor sich ging, dann nicht vor dem kommenden Frühjahr. Und keine Angst, töten werden wir euch nicht. Ihr habt den Tod nicht verdient. Eure Männer da draußen haben gekämpft, haben sich uns in den Weg gestellt. Die hatten den ehrenhaften Tod verdient. Ihr aber werdet das gleiche Ende finden wie viele Nortraven und auch mein Sohn, den ihr zum Bau dieser Burg gezwungen habt. Ihr werdet so lange schuften, bis eure Körper nur noch schmerzende, wunde Klumpen sind, und bis ihr euren Bellum verflucht, dass er eure Füße jemals hierhergelenkt hat. Willkommen an Bord, meine RUDERSKLAVEN!“ Wieder setzte ein lautes Gelächter an, das aber in das Heulen der Blutwölfe überging und bald schon das ganze Tal erfüllte.
Khjelben und ich waren schon wieder am Aufstieg und setzten unsere Reise fort, als jenes Heulen unsere Blicke wieder auf das Dorf und die Burg lenkte. Laute Gesänge waren aus dem Tal zu vernehmen und einige dunkle Rauchsäulen stiegen aus der Burg empor. Hinter der Landzunge im Nordwesten tauchten fünf große Weise Segel auf, in deren Mitte jeweils ein roter Wolfskopf prangte. Majestätisch schwammen die fünf großen Drachenboote in den Hafen, den sie wohl seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen hatten. Iskel Fjord gehörte wieder den Blutwölfen. Dann fiel mein Blick wieder auf Khjelben, wie er die Burg betrachtete. Diesmal jedoch lag Zufriedenheit und Wohlwollen in seiner Miene. Mit einem leichten Nicken wandte er sich ab und gab mir ein Stück von dem gebratenen Ochsen, die andere Hälfte behielt er für sich. Er biss einmal herzhaft ab und sagte dann noch mit halbvollem Mund: „Ragnar, langsam kommt wieder etwas Leben in den alten Norddrachen.“ Khjelben hielt kurz inne und mampfte, bevor er weiter sprach „Bald wird es an der Zeit sein, dass wir ihn wecken ... aber das wird dann nicht mehr meine Aufgabe sein. Thjarek wird das einen anderen machen lassen. Und er hat seine Wahl schon getroffen.“ Ich nahm das Stück Fleisch und aß. Khjelbens Worte schwirrten noch die ganze Nacht in meinem Kopf, ergaben aber so gut wie keinen Sinn ... genauso wenig, wie es Sinn gehabt hätte, ihn zu fragen. Er hätte sich nur noch komplizierter und umständlicher ausgedrückt, wenn es um Thjarek und seine Vorsehungen ging. Irgendwann würde er mir schon zeigen, was er damit meinte; das hatte er bisher auch immer getan.
Quelle: Ragnars Tagebücher