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 Betreff des Beitrags: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 26.07.10, 17:39 
Festlandbewohner
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Felis hob die leichte Decke an, blinzelte müde. Es war fast still draußen, sah man vom Vogelgezwitscher und ein paar wenigen, entfernten Stadtgeräuschen ab. Aber das versoffene Gegröhle, dieses beängstigende Rufen nach ihr und wo sie wohnen möge, war nicht zu hören.
Säufer - wie sie sie hasste!
Gähnend und sich reckend erhob sie sich, schlurfte zu ihrer Kommode mit der Kleidung, sah beiseite in den großen Spiegel mit seinem vergoldeten, reich verzierten Rahmen an der Wand und seufzte. Oh, natürlich, sie war ja noch immer blond. Es wurde Zeit, dass es sich änderte.

Diese verfluchte Farbe... !
Mit verbissener Miene hockte Felis nur wenig später am Rande ihres Badebeckens im Keller ihres Hauses, bar jeglicher Kleidung und rubbelte an ihren Haaren entlang, bemüht, endlich die blonde Haarfarbe aus diesen zu bekommen. Sie hielt jedenfalls hervorragend, das musste man diesem seltsamen Panscher lassen und ihre restliche Verkleidung war auch offenbar gut genug gewesen, so dass sie in Brandenstein keinen Ärger bekam, wobei sie es auch vermied, den Leuten großartig in die Arme zu laufen. Als sie ausgerechnet Erin am Tor gesehen hatte, entschied sie sich dafür, doch zu verschwinden. Das, was sie wissen wollte, hatte sie eh bekommen.
Allerdings traten seit wenigen Tagen ein paar Fragen auf, doch es fehlte ihr an Mumm, diesen nachzugehen und damit Emanuel wieder zu treffen. Sie wollte nicht wieder Blicke kassieren, die ihr die Knie schwanken ließen, bei denen sie das Gefühl vermittelt bekam, sie hätte all die Misere zu verschulden. Immerhin war sie erst seit kurzem aus diesem ganzen Unsinn, diese Schuldgefühle, halbwegs rausgekommen und bemühte sich redlich, sich nicht mehr allzu viele Gedanken zu machen.
Bemühte, ja.
Das hatte auch der Astraeli ihr früher auf einen Zettel für ihre Mutter geschrieben (welcher im übrigen in ihrer Anfangszeit am Tempel oft zerrissen den Weg ins Hafenbecken fand). "Shareen bemühte sich dem Unterricht still zu folgen." Das hieß soviel wie - sie hatte die Klappe nicht gehalten, obwohl sie es doch besser wusste.
Das Bemühen ließ auch wieder zu wünschen übrig, als sie mit Adrian gesprochen hatte. Verrückt. Was trieb sie bloß dazu, sich mit so einem jungen Kerl einzulassen? Oder war sie nun wirklich in einem Alter, wo das einfach sein musste, um sich jung zu fühlen?
Blinzelnd wandte sie ihren Blick herum zum mannshohen Spiegel, der dem im Schlafzimmer glich, und betrachtete die dunkelhäutige, am Beckenrand hockende Person, der der Seifenschaum in die Augen zu laufen drohte, während auf ihrem Kopf ein Gewirr aus blonden Haar und Schaum wie ein Turban saß. Leicht kopfschüttelnd senkte sie ihn hinab und tauchte ihn ins Becken rein, sich am Rand abstützend.
Quatsch. So alt war sie ja nun auch wieder nicht.
Noch nicht, flüsterte ein kleiner, fies grinsender Dämon auf ihrer Schulter - so schien es ihr zumindest. Felis erhob sich, wischte sich mit einem Tuch noch den Rest Schaum und das Wasser aus dem Gesicht und strich über das weiterhin blonde, aber immerhin einen Tick dunklere Haar, als sie zum Spiegel herantrat und sich eingehender betrachtete, dabei halb drehend. Es war doch alles in bester Ordnung.
Allein auf ihre Statur musste sie etwas achtgeben. Sie hatte nach der Sache in Brandenstein und den Ärger mit Johan ohne Zweifel abgenommen. Sie wollte aber nicht, dass ihre Knochen aus der Haut hervortraten oder ihre weiblichen Rundungen schwanden. Der Gedanke an diese 'Gefahr' weckte unangenehme Erinnerungen.

***

"Haltet den Burschen!"
"Hundsfott! Ich bin'n Mädch'n!"
"Auch noch frech werden!"

Es hagelte matschige Tomaten. Das taten die Erwachsenen vom Markt immer, wenn sie nicht mehr hinterher kamen. Manchmal traf sie eine, oft genug wich sie aber noch schnell genug aus. So wie jetzt. Ein siegessicheres, verschlagenes Grinsen lag auf den Zügen des... nunja, äußerlich war es ein junger Bursche. Eine Bohnenstange mit Dreck im Gesicht, kurzen (den Läusen geschuldet), wild durcheinander liegenden, dunklen und schmuddeligen Haaren und dreckiger Kleidung am dürren Leib. Der Magen knurrte vernehmlich, aber das, was dieser vermeindliche Straßenjunge da in seinen Armen hielt - ein Bündel Möhren und zwei glänzende, rote Äpfel - würden bald schon den Hunger stillen. Bald, bald... nur noch um die Ecke, ab in die dunkle Gasse und dann ins Versteck!
Ruppig wurde sie herumgerissen, die Äpfel kullerten aus den Armen und fast wäre ihr noch das Bündel Möhren entwischt, wenn sie die nicht noch fest an sich gepresst hätte. Der eh schon teils fadenscheinige, ergraute Stoff des Hemdes, an dem sie festgehalten wurde, riss ein und offenbarte einen Moment lang die Rippen an dem dürren Leib, doch dann sah sie sich schon Auge im Auge mit einem schmutzigen Kerl, der ihr seinen von Schnaps und Nachtschatten stinkenden Atem ins Gesicht schlug, als er sprach.
"Her mit dem Zeugs oder dir geht es wirklich dreckig!"
Wild strampelte sie herum, doch hatte er sie schon fest und schraubstockartig an einem Arm gepackt. Wildes Gefluche, wahlweise auf Endophalisch oder Galadonisch, durchsetzt vom örtlichen und teils platten Dialekt der einfachen Leute aus Venturia, versuchte sie nach ihm zu treten. Immerhin hatte Marje ihr mal gezeigt, wo es Jungs und Kerlen wirklich wehtat. Piet hatte ihr zwar leid getan, aber dafür war sie nun klüger. Doch diese stinkende Ungezieferhochburg vor ihr wusste wohl, was sie wissen könnte und wich entsprechend aus, langte ihr sogar noch eine für diese Unverschämtheiten, was sie jedoch zum Anlass nahm, um herzhaft in die entsprechende Hand zu beißen. Nun endlich ließ er locker und eilig gab sie wieder Fersengeld. Wenigstens hatte sie die Möhren noch...

***

Einen Moment blinzelte Felis und schüttelte den Kopf, die Nase rümpfend. Nein, sie verstand da Vela beim besten Willen nicht, wenn diese auf köstliche Speisen verzichtete, nur aus Angst, dick zu werden. Dick werden doch eh meist nur Adelige und Faulpelze... gut, und Köche wie Pitter. Aber wozu die Sorge? Felis wollte nie wieder so leben wie damals. Nie wieder hungern, nie wieder frieren, nie wieder ihre Haare wegen Ungeziefer verlieren und am Ende dann den Ruf "Bursche" hören.
Stattdessen genoss sie lieber die Blicke, die auf ihrem Leib lagen und von denen sie zumindest momentan kaum genug bekam. Es bestätigte sie, dass sie nun das besaß, was sie sich früher gewünscht hatte. Und es vertrieb erfolgreich die dunklen Schatten der letzten Wochen.


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 Betreff des Beitrags: Re: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 31.07.10, 13:03 
Festlandbewohner
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Es waren bloß Fragmente, winzige Bruchstücke von Erinnerungen, die zusammengenommen kein Ganzes mehr ergaben. Über all diesen lag, so schien es, zudem ein dünner, alles verblassender Schleier, der sie noch diffuser wirken ließ. Manches Mal hatte sie das Gefühl, es wären auch bloß nur Träume. Als gehörten die Erinnerungen gar nicht zu ihrer Wirklichkeit oder zu ihrem Leben.

... die warm klingende Stimme ihrer Mutter, welche auf endophalisch mit ihr sprach...
... lachende Straßenkinder, weil sie etwas gesagt hatte und verzweifelt versuchte, sich ihnen mitzuteilen, aber es nicht schaffte...
... ihre tanzende Mutter, schön wie eine endophalische Prinzessin aus den Märchen...
... ein scharf schmeckendes Gericht, welches sich den Hals hinab förmlich in ihren Körper brannte, sie von ihnen her regelrecht erhitzte...
... goldener, fremdartig wirkender Schmuck, verziert mit Edelsteinen und Halbedelsteinen, leise und verheißungsvoll klimpernd, während Kinderhände in dem Schmuckkasten wühlten...
... Erzählungen aus Endophal, blumig vorgetragende Sagen und Legenden...


***

Felis hatte sich förmlich dafür geschämt, dass sie nicht in der Lage war ein ähnlich gutes Endophalisch wie Vela zu sprechen. Sie verfiel allzu schnell wieder ins gewohnte Galad, was keinen Hinweis auf ihre Herkunft mütterlichseits aufwies. Die wenigen Worte, die sie gegenüber Zahid aussprach, kamen ihr einfach zu schlecht vorgetragen vor. Besser wurde es auch nicht durch seine Haltung. Distanziert erschien er ihr, abweisend vielleicht sogar. Direkt anblicken vermochte sie ihn nur kurz, zu groß war die Scham für das, was sie war - ein Halbblut. Für ihn war sie gewiss eher eine Galadonierin, als irgendwas anderes.
Dennoch war die Neugierde in ihr stark genug. Sie wollte ihr Erbe mütterlichseits endlich wieder kennenlernen. Nur dunkel erinnerte sich Felis daran, dass sie als Kleinkind die Sprache besser beherrscht hatte und auch sonst wohl mehr einer Endophali glich - vor allem für die Galadonier um sie herum -, ehe sie anfing, sich mehr und mehr anzupassen, um nicht mehr ausgelacht oder abgewiesen zu werden.
Doch hier auf Siebenwind war eh alles etwas anders. Diese Insel glich einem gewaltigen Schmelztiegel der Völker und wer würde sie schon auslachen, würde sie diese Kultur wieder etwas pflegen? Zumindest soweit man es ihr näher bringen konnte. Eben jenen Endophali, Zahid, wollte sie darum bitten. Allein es fehlte ihr am Mumm, was wohl seiner distanzierten Haltung geschuldet war. Darüber hinaus war es sicher sinnvoller, mit ihm unter vier Augen darüber zu sprechen, um ihre Unwissenheit bezüglich einem Teil ihrer Herkunft nicht noch weiter zu entblößen. Es reichte schon, wenn sie es ihm gegenüber tun würde, wenn er sie wieder so eindringlich von oben bis unten mustern würde, als würde er sie messen, wiegen und bewerten.
Blieb nur die Frage offen, welchen Preis er dafür verlangen würde, würde er ihr, Shareen, wirklich helfen wollen.


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 Betreff des Beitrags: Re: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 23.09.10, 01:58 
Festlandbewohner
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Raus. Der Fluchtinstinkt, der sich schon zuvor gemeldet hatte und bloß von ihrem Trotz übertroffen wurde, meldete sich nun stärker denn je. Verletzt fühlte sie sich und doch auch innerlich aufgewühlt. Irgendwo war da doch etwas Wahres in Velas Worten? Doch mehr noch wühlten all die Worte etwas tief in ihr auf, was sie für begraben hielt. Oder einfach für vergessen. Felis.. nein, sie konnte es jedoch einfach nicht benennen. Adrian öffnete ihr, flüsterte ihr etwas zu, sie nickte nur, betrat den Garten, derweil in ihr ein kleiner Strudel entstand.
Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich?
Und, verdammt, will ich das überhaupt wissen?

Das Tor aufgerissen, hinausgeschritten und ihr Blick fiel auf die Häuser des teuersten Viertel Falkensees, wenn nicht gar der ganzen Insel. Verschwamm sogleich, als sich Erinnerungen an ein Ich hochkämpften.

***

Die Mauer war schmal, doch Felis spürte sie unter den dünnen Sohlen. Eng lag die nachtblaue Kleidung an ihrem Leib an, der gespannt und beherrscht verharrte. Der Blick aus den dunklen Augen, die aus dem schmalen Sichtschlitz ihrer Kopf- und Gesichtsbedeckung hervorlugten, war starr auf das Gebäude vor ihr gerichtet. Nur ein dunkler Garten trennte sie noch davon.
Da, das letzte Licht erlosch flackernd. Nun würde er, einer der einflussreichsten Kaufmänner der Stadt Draconis, einschlummern. Friedlich, selig, denn finanzielle Sorgen hatte er keine und seine Leichen im Keller waren wohl verwahrt - dachte er.
Ein Lächeln huschte über ihre Züge. Der Jagdinstinkt erwachte.
Sie tastete nach ihrem Gürtel, über die Beutel und Taschen. Kletterhaken für die Mauer. Diamantschneider für die Scheiben. Dietriche für die Schlösser. Eine mit einem Schlafgift versetzte Wurst, falls er doch einen Wachhund haben sollte.
Nur noch einen Moment warten. Geduld war eine Tugend in diesem Beruf, brütete der Kopf der Wissenssammlerin im Stillen.


***

Kein Garten. Ein Brunnen und Bänke lagen vor ihr. Ringsherum die Häuser des Felaviertels. Sie war gar nicht auf der Jagd, sondern eher auf der Flucht. Sie wollte nach Hause.
Ja, nach Hause klang gut... oder?
Noch verwirrt anmutend nahm sie den Weg aus dem Viertel raus, bog bereits ab nach Osten in Richtung Nordviertel, als sie stockte. Ihre Gedanken drehten sich in einer Tour weiter. Reichte nicht allein diese vermaledeite Frage nach dem eigenen Ich, die sie sich nicht zu beantworten traute, kreiste eine hämische Stimme (ihre eigene?) in ihrem Geist herum. Zu Hause wartet ein leeres Bett auf dich. Zu Hause wartet ein leeres Kinderzimmer auf dich. Zu Hause warte ich auf dich.
Nein. Etwas taumelnd machte sie sogleich kehrt. Sie brauchte einen anderen Ort. Einen, wo sie nicht zwangsläufig alleine war. Zerstreuung war immer gut.
Vorbei am Hospital, keinen Blick wagend zum Schrein des Astraels. Sie spürte die Blicke des allwissenden Vaters, wie er streng zu ihr schaute, auch so im Rücken. Dann der Marktplatz. Doch dieser lag recht ruhig da. Einzig am Brunnen war eine Bewegung...

***

... und zwar eine junge Frau, ähnlich auffällig gekleidet wie die leichten Mädchen im Vergnügungsviertel, welche hier jedoch lediglich mit Tellern auf langen, dünnen Stäben jonglierte, derweil sie über den schmalen Brunnenrand balancierte.
Ein Zirkus hatte Draconis aufgesucht und wurde sogar von der Stadt bezahlt. Es war bald der Geburtstag seiner Majestät - da tut man dem Volk doch gerne etwas Gutes.
Und wie gut! Für Shareen und den ein oder anderen Taschendieb dieser Stadt bedeutete eine abgelenkt gaffende Menge immer besonders leichte Einnahmen. Doch nun starrte sie ebenso hinüber zu der Frau. Schön war sie, befand die 15jährige mit einem gewissen Neid und war doch gefangen von dem Anblick, den sie bot. Nicht lange dauerte es, als der Mann neben ihr, ein zwar nicht reich gekleideter Bürger, aber doch zumindest sauberer als sie, sie davon scheuchte mit angewiderter Miene.
Shareen drehte sich herum, wischte die langen, dunklen Zotteln aus ihrem Gesicht und streckte ihm noch keck die Zunge raus, ehe sie eilig in der Menge verschwand, um sich nur wenig später ihrem "Broterwerb" halbwegs erfolgreich hinzugeben.


***

Aber da am Brunnen war keine junge Frau, die mit Tellern jonglierte.
Blinzelnd richtete sie ihr Augenmerk auf das Paar, welches dort eng umschlungen saß, in einem Kuss vertieft. Herr Drachenirgendwas, dachte sie sich im Stillen, bemüht kühl analysierend, doch fühlte sie schon, wie sich andere Gedanken vordrängten. Und sie? Erinnere dich an ihren Namen. So trieb sie sich innerlich an, denn sie musste tatsächlich überlegen, doch hielt es sie halbwegs davon ab, sich dem anderen Gedanken hinzugeben. Diesem Gefühl, was er mit sich zu bringen drohte.
Doch ehe sie den Namen im Geiste wieder vor sich hatte, eilte sie auch schon wieder weiter. Der Kessel? Nein. Er erinnerte zu sehr an Vela. Etwas, was sie jetzt nicht wollte.
Am Kessel vorüber, an den Häusern, hier und da Erinnerungen wachrufend, doch rasch wieder wegdrängend, als würde sie sich durch einen Dschungel von Erinnerungen weiter vorwagen, bis sich vor ihr das Gebäude des Tänzers erhob.
Rascher, so glaubte sie, drehte sich nun der Strudel. Beständig und unbeantwortet die Fragen in ihrem Inneren.
Wer bin ich also?
Endlich hielt sie inne und sah für einen Augenblick an dem Gebäude hinauf. Ein Teil von ihr war damit untrennbar verbunden. Nein, eigentlich zwei. Nicht nur, dass sie hier einst gelebt, geliebt und gefeiert hatte. Ein Teil von ihr war eine Endophali. Oder war sie es sogar? Nur kurz glitt die Erinnerung Shareens zurück an das letzte Treffen mit Zahid und seine Worte.
Prüfe, wem du vertraust.
Schaffe dir deine eigene Heimat.

Hier hatte sie eine gehabt und rasch umrundete sie das Gemäuer, erreichte den sandsteinernen Innenhof. Eigenwillig, wie die Angst wich und stattdessen eine eigentümliche Vorfreude aufkeimte. Mit einem Ruck zog Shareen die Türen auf und ihr schlug der schwache Duft von Tee, Wein und teils stärkerer Getränken entgegen.
Jeder Schritt auf dem Teppich wurde gedämpft, während sie sich umsah. Erinnerungen blühten auf und sie nahm Platz auf einem der dicken Bodenkissen vorm Kamin...

***

... und lachte auf Sharinas Worte hin auf. Nenariyron spielte auf seiner Laute. Brand unterhielt sich mit einem Novizen der Xan. Leopold Weiden und Solice - sie könnten doch auch ein Paar sein, oder? Und neben Sharina, zwar nicht direkt neben Felis, aber auch nicht von ihr getrennt, saß der Mann, der ihr auf dieser Insel am meisten am Herzen lag - Emanuel.
Sie fühlte sich wohl. Freunde und Liebe. Musik von einem Elfen. Guter Wein und anregende Gespräche.
Was brauchte man schon mehr im Leben? Was kümmerte sie noch die Vergangenheit? Simon war größtenteils aus ihrem Leben verschwunden. Sollte er doch machen, was er wollte und mit wem er es wollte. Johan? Kroch wohl wieder durch irgendeinen Wald und heulte die Monde an. Wie auch immer. Es kümmerte sie alles nicht. Auch nicht, dass man auf dem Festland weitere, zufriedenstellendere Nachrichten erwartete. Das Festland war weit weg. Also auch egal.
Genieß doch lieber das Leben im Kreis deiner Lieben.


***

Es war noch das gleiche Kissen wie damals. Nachdenklich strich sie über den Stoff, um dann aus ihren Stiefeln zu schlüpfen, sich vor dem erloschenen Kamin auf den übrigen Kissen lang zu machen. Die Augenlider drohten schwerer zu werden...

***

"Aber ich bin noch nicht müde, Ila!"
"Du musst jetzt schlafen, Shareen, keine Widerrede!"
Schön war ihre Mutter, Ila genannt, wie eh und je. Das schwarze Haar hing lang hinab, wurde einzig bedeckt von einem durchsichtigen, blauen, bestickten Schleier. Blau auch das Oberteil, welches ihre weichen, weiblichen Rundungen betonte, einzig halbherzig und dezent kaschiert durch einen Schleier, welcher über eine Schulter hing und an der anderen Seite auf Höhe der Taille verknotet war. Das Kleid, welches ihr bis zu den Knöcheln reichte und mit seinen zig Stoffbahnen bei jeder Bewegung sich rührte wie das Meer im Windesrauschen, klimperte leise aufgrund der dünnen Münzen, die an ihm hingen.
Resolut griff die Frau nun zu dem Kind, welches zappelte, doch auch vergnügt lachte. Es kitzelte sie immer, wenn Ila sie an ihren Seiten packte. So sehr, dass sie sich kaum wehren konnte, bloß lachen, und Ila wusste es haargenau. Unweigerlich musste die Frau ebenso leise lachen und schleppte das Mädchen fort von der Kissenecke, die sie im Laufe der Zeit mit den Stoffen, die sie ergattern oder aus alten Kleidern trennen konnte, genäht hatte und trug das Kind hinüber zu dem Bett der kleinen Kammer, in dem sie beide schliefen.
"Schlaf schön, Shareen", sprach sie sanft und zog die Decke bis fast zu ihrem Kinn hinauf, "Ich wecke dich, wenn ich wieder da bin, mein Felaschein."
"Und wenn der Käuzchenmann kommt?"
"Dann klopfst du an die Wand und Darina wird ihn dir vertreiben."
"Hm, na gut."
Leise murmelte Shareen noch, gähnte herzhaft und allmählich fielen ihr die Augen zu, während Ila sich leise hinausschlich.


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 Betreff des Beitrags: Re: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 25.09.10, 13:45 
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Das ist also Freiheit!
Das junge Mädchen schloss die Augen und hob die Nase schnuppernd, während Ventus' Atem ihr durch das halblange, dunkelrote Haar strich. Ein Lächeln bildete sich auf ihren Zügen, die wie von der Sonne gebräunt wirkten. Die nackten Füße, der eh schon viel zu kleinen, alten Schuhe entledigt, baumelten vom Tritt des Wagens hinab, auf dem sie saß und zufrieden schwingte sie sie in der Luft.
Es roch auf jeden Fall anders, als in der Stadt. Frisch und nach viel, viel Grün. Das war das Ungewohnte daran. Grün war es meist in den bürgerlichen oder reichen Vierteln von Venturia gewesen, wo man sie immer rasch verjagt hatte. Aber hier verjagte sie niemand. Ganz im Gegenteil - das fahrende Volk hatte sie ohne viel Wenn und Aber aufgenommen. Einzige Bedingung war, dass sie mit anzupacken hatte. Das störte Shareen nicht, solange sie einen halbwegs vollen Magen haben würde und man ihr immer noch genug Freiheit ließ, um die Welt, die sich ihr nun eröffnete, erkunden zu können.
Alles wollte sie nun sehen! Richtung Draconis würde es nun nach und nach gehen und dann weiter in den Norden, in Ersont überwintern und die Soldaten dort unterhalten, ehe man dann wieder Richtung Süden reisen würde. Ja, sogar nach Endophal, hatte Carribou, der Messerwerfer und Anführer dieser reisenden Schaustellergruppe, gesagt. Da war er schon ein paar Mal gewesen.
Endophal! Shareen war sogleich Feuer und Flamme gewesen. Unbedingt wollte sie in das Land ihrer Mutter und es endlich mit eigenen Augen sehen. Vielleicht würde sie sogar einen fliegenden Teppich sehen? Oder einen Dschinn finden, der ihr drei Wünsche erfüllen würde? Vielleicht würde sie dort einer Prinzessin aus Mutters Märchen begegnen? Und dann wie in dem Märchen, wo ein Prinz mit einem Bettelknaben tauschte, würde sie auch mit ihr tauschen, damit die Prinzessin die Freiheit kennenlernen durfte!
Ach, das klang wunderbar...
Verträumten Blickes saß das Mädchen weiter auf dem rollenden Wagen, sich schon in fernen Gefilden in Prunk und Pracht sehend oder die unglaublichsten Abenteuer erlebend.


***

Verdammt, ja, das war auch ein Abenteuer. Murrend und reichlich ratlos blickte das Kind von einst, nunmehr erwachsen und an einem simplen Lagerfeuer verzweifelnd, auf das feuchte Holz vor ihr. Es war natürlich deutlicher kühler geworden und für die Nacht brauchte sie unbedingt ein Feuer. Nicht nur der Wärme wegen, sondern auch um sich vor wilde Tiere, die das Feuer scheuen, zu schützen. Soviel wusste sie noch aus ihrer damaligen Zeit, als sie mit dem fahrenden Volk Richtung Draconis gereist war.

Sie hatte sich dazu entschieden, die Stadt und damit ausgetrampelte Pfade für nur kurze Zeit zu verlassen und statt sich mit irgendwas abzulenken, sich vielleicht doch mal mehr mit sich selbst zu beschäftigen. Doch nicht, wie Vela ihr geraten hatte, in einen Spiegel zu blicken, denn sie wusste nur zu gut, dass sie sich dann doch eher mit der Pflege ihrer Haut oder ihren Haaren beschäftigen würde, als mit sich selbst. Hier draußen war sie bisher selten gewesen. Ein- oder zweimal damals mit Johan, als sie selber noch nicht lange auf der Insel geweilt hatte. Und dann ihre Zeit am Waldrand, in der Wagenburg des fahrenden Volkes. Aber sonst hatte sie mit Wildnis und Natur nie viel anfangen können. Nun musste sie mit der Natur und mit sich klarkommen und auch wenn sie genug Proviant und warme Kleidung dabei hatte, hatte sie dennoch trockenes Holz vergessen und musste mit dem vorlieb nehmen, was sie hier fand.

Leise vor sich hinfluchend griff sie in eine Tasche an ihrem Gürtel und beförderte nun eine Bandage und ein kleines Fläschchen mit Lampenöl hervor.
Eines war ihr zumindest in Falkensee noch klar geworden - sie war früher bedeutend unbekümmerter gewesen und hatte sich teils wenig um andere geschert. Menschen, die sie liebte, auf freundschaftlicher Basis oder mehr, die waren ihr wichtig gewesen, sicher, aber der Rest, selbst wenn sie etwas für die Person mal empfunden hatte, hatte sie schon bald aus ihren Gedanken verbannt. Oder größtenteils zumindest. Sie hatte zwar eine Meinung zu diesen Personen gehabt und diese war eindeutig von Gefühlen bestimmt, doch hatte diese Meinung weniger ihr Handeln und Denken bestimmt. Ihre Konzentration hatte sie auf die gerichtet, die damals wichtig gewesen waren.
Gut, ein Punkt, an dem sie also zurückkehren sollte. Dennoch, dachte sie innerlich mürrisch und wieder zum Zunderkasten greifend, aus diesem Flint und Schlageisen entnehmend, wollte sie den Punkt, dass sie nur dank sich selber bisher jeden Mann verloren hatte, nicht auf sich sitzen lassen. Was wusste Vela überhaupt schon von Liebe, fragte sie sich im Stillen, derweil sie das Schlageisen gegen den Feuerstein schlug und beides über ein Stück Zunderschwamm hielt. Nur weil sie nun mit Adrian zusammen war glaubte sie wirklich, sie verstünde alles? Shareen schnaubte leise und senkte den allmählich glühenden Zunderschwamm hinab zu der ölgetränkten Bandage, neigte sich etwas hinab, pustete die Glut nochmals kräftig, wohl ihrem momentanen Temperament geschuldet, an und ...

Leise hustete sie und saß einen Moment mit erschrockener Miene vor dem kleinen Feuer, was sich nun dank der Bandage über das Holz ausbreitete, da. Unsicher starrte sie hinab zu ihren Haarsträhnen ... oder das, was davon noch übrig geblieben war und bloß schwärzlich und kräuselnd hinabhing. Es stank nach verbrannten Haaren.


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 Betreff des Beitrags: Re: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 2.10.10, 13:19 
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Dumpfe Schläge, Schmerzenslaute, das Reißen von Kleidung oder gar Haut und Haaren, Keuchen, schmerzerfülltes Stöhnen. All dies Laute dominierten die schmale, unbefestigte und schmuddelige Gasse Venturias. Kinder und Jugendliche gleichermaßen gingen aufeinander los, dann und wann ein rostiges Messer oder sogar ein Schlagring dazwischen. Blutiger Ernst sprach aus den jungen Augen, die doch schon zuviel Not und Elend gesehen hatten. Für manche Bewohner des Armenviertels war das kein ungewohnter Anblick. Allzu viele Jugendbanden gab es, welche die Gegend unter sich aufteilten, doch alles andere als gerecht, und regelmäßig entluden sich Revierstreitigkeiten in solchen Kämpfen. Jungen wie Mädchen gleichermaßen gingen aufeinander los. Verletzt wurde jeder. Schwerverletzte, die noch länger die Folgen eines Kampfes zu tragen hatten, gab es öfter. Ab und an sogar Tote.
"Verdammte Brut!"
Die bassdröhnende Stimme des Revierhauptmannes übertönte alles und augenblicklich sprangen einige der jungen Menschen auseinander, stoben auseinander. Die wenigen Unerfahrenen hielten inne und schauten erschrocken herum zu dem bulligen Mann, der mitsamt etlicher Blauröcke, wie man die Gardisten Venturias ob ihrer Uniform meist nannte, anrückte, um dem Treiben ein Ende zu bereiten. Es kam selten vor, aber manchmal sah sich die Garde doch in der Pflicht, sich dieser jungen Gestalten anzunehmen, manche von ihnen zur Abschreckung ins Gefängnis zu stecken, andere so lange auszuhorchen, bis sie endlich alles mögliche an begangenen Taten gestanden hatten und man sie, ebenso zur Abschreckung anderer, bestrafen konnte und wiederum andere steckte man in ein Waisenhaus, wo sie kaum mehr raus kamen, zu arbeiten hatten und sie runter waren von der Straße.
Ein paar andere jedoch, die entweder keinen Sinn mehr für ihre Umgebung außerhalb des Kampfes hatten oder schon zu abgebrüht waren, um noch vor der Garde Angst zu haben, kämpften ungerührt weiter. Darunter auch Shareen, welche verbissen mit einem Jungen rangelte und an seinen halblangen, dreckigbraunen Haaren zog, derweil ihr das Blut aus einigen Kratzern über das Gesicht lief, ein Auge sogar schon leicht angeschwollen und die Kleidung, wie so oft, an manchen Stellen zerrissen war. Doch der Kampf währte nicht mehr lange, denn sie spürte, wie jemand sie fest am Nacken packte und zurückzog. Ein fast ans Fauchen gemahnender Laut entkam ihr und wild schlug sie um sich. Niemand riss sie einfach so von ihrer "Beute" fort! Davon ab, dass sie im Begriff war zu gewinnen! Rabiat drehte der hühnenhafte Gardist sie herum und verpasste ihr rechts und links je eine harte Ohrfeige, die sie Sterne vor ihren Augen tanzen sehen ließ.
"Steckt diese Drecksbrut ins Gefängnis. Und das verdammte Endogör in den Tempel, wo sie hintergehört!"

*

Verbissen kaute Shareen auf ihrer Unterlippe herum und starrte das Mosaik vor sich an, als könnte sie es mit ihrem Blick förmlich zerstören. Eine Raute, darin der Kelch, die Waage, das Schwert und die Sanduhr abgebildet. Sie hockte davor, hatte den Befehl erhalten, auf dem kalten Steinboden zu knien, bis jemand ihr etwas anderes sagen würde. Sie sollte beten und in sich gehen. Einen Dreck, hatte sie ungefragt zur Antwort gegeben und deutlich gesehen, dass der Astraelsgeweihte seine Mühe hatte, um bei ihr noch die Ruhe zu bewahren. Er war gegangen und zurück blieb bloß ein Bellumsnovize, der auf sie achtgeben sollte.
Dämliche Blauröcke. Nur wegen denen war sie wieder hier. Und wegen dieser ollen Matrone von Marktfrau, die sie beim Stehlen erwischt hatte. Und natürlich wegen diesen verfluchten "Fischen", die meinten, das Gebiet der "Elstern" wären ihres. Stinkendes Pack, dass seinen Bandennamen alle Ehre machte!
Dann ging eine Tür auf, der Astraelsgeweihte kam wieder herein, was sie an seinem müden Seufzen heraushörte.
"Erhebe dich, Kind der Viere, und folge mir."
Ein Schnauben, mehr kam erstmal nicht von ihr, aber immerhin erhob sie sich, wenn auch langsamer als nötig und folgte ihm betont schlendernd, die dünnen, zerkratzten Arme vor sich verschränkend. Im Nebenraum wiederum stand sie einem Vitamageweihten gegenüber, welcher noch recht jung schien. Vielleicht achtzehn Götterläufe oder auch ein bisschen weniger. Ein Lächeln auf den Lippen, doch sprach aus seinem Blick eine gewisse Unsicherheit, als sie ihm gegenüber stand.
'Den Idioten habe ich auch bald durch', dachte sie bloß im Stillen, den Blick trotzig zu ihm gehoben.
"Vater Raphael vom Ordo Vitama wird sich deiner nun annehmen, Kind der Viere."
'Warum muss diese Volltrottel mich immer so nennen?'
Der Grüngewandete ging unter leisem Rascheln in die Knie und hielt ihr eine Hand hin.
"Du darfst mich Raphael nennen", erklang seine Stimme recht sanft, doch von ihr kam nur wieder ein Schnauben und abweisender noch starrte sie den jungen Geweihten an, sich nicht regend.
'Ich gebe dem drei Tage.'
Die Hand des Astraelsgeweihten legte sich auf eine ihrer dünnen Schultern, während er zu dem Vitamageweihten sprach, doch sie schüttelte die Hand murrend ab.
"Es ist ihre letzte Möglichkeit, sich zu bessern", sprach er, als wäre sie nicht im Raum, "ansonsten werden von der Garde aus drastischere Maßnahmen vorgenommen."
"Welche?" hakte Raphael mit ruhiger, doch besorgt klingender Stimme nach.
"Das Waisenheim, um dort zu arbeiten und besser verwahrt zu werden. Oder ihr wird zur Abschreckung in aller Öffentlichkeit die Hand abgehackt, sollte man sie erneut beim Stehlen erwischen."
Innerlich schrie Shareen auf, voller Wut, und enger noch zog sie ihre Arme zusammen, während sie Raphael weiterhin anstarrte, doch innerlich sich eine Wand hochzog.
'Ich hasse dich jetzt schon!'
Sie merkte nicht einmal mehr, wie entsetzt er zum Astraelgeweihten blickte.


***

Matt schlug Felis ihre Augen auf und starrte im ersten Moment an den Baldachin, der sich über ihr spannte. Ein paar Augenblicke vergingen, ehe sie realisiert hatte, dass sie nicht zu Hause war. Blinzelnd sah sie über das mit Kissen ausgelegte Schlachtfeld und fand es leer vor. Ob sie es gut oder schlecht finden sollte, wusste sie gerade selber nicht so wirklich und war auch nicht unbedingt relevant. Sie erinnerte sich an das, was geschehen war, ehe sie irgendwann erschöpft eingeschlafen war und in ihr stiegen Scham und Schuld auf. Trotz der Tatsache, dass sie gerade alleine in diesem Bett lag, erhob sie sich betont leise und sammelte ihr Kleidung auf, zog sich flugs an und schlich sich so leise wie nur möglich hinab.
Ein kurzer Blick herum im unteren Raum, doch auch hier war es ruhig. Vielleicht waren sie ja weg. Besser so. Jetzt war sie nicht sonderlich erpicht darauf, in deren Augen zu blicken.
Im Türschloss steckte der Schlüssel, sie drehte ihn herum und trat leise hinaus in den kleinen Garten, um sich dann etwas erschaudernd ob des kühlen Morgens ihren Umhang umzulegen und den Weg nach Hause anzutreten.

Er hatte sie ohne Zweifel reizen wollen, doch der Schuss war gestern erst nur nach hinten losgegangen. Auf seine verletzenden Worte hin tat sie nicht das, was er wohl im Sinn gehabt hatte. Stattdessen traf es sie und sie zog sich von ihm zurück. Er schob sie zurück, derweil Felis nur sagte, sie könne das nicht. Sie wollte das auch nicht. Sie wollte nicht angreifen und zurückschlagen, auch wenn er es wollte. Irgendwas sperrte sich in ihr und sagte ihr, dass es nicht richtig wäre. Sie dachte an Manu zurück, wie er blutend im Viertel gelegen hatte. Sie dachte aber auch an andere Zeiten zurück, als man mit unangenehmen Konsequenzen für ihr Verhalten drohte. Sie dachte unweigerlich an Vitama.
Das, was dann folgte, konnte Felis schwer einordnen. Wollte er sie weiter reizen? Oder was hatte dieser eigenwilliger Angriff seinerseits zu bedeuten? Was auch immer - es war, als hätte er damit unweigerlich einen Hebel in ihr umgelegt. Scham war es einerseits, aber auch Schmerz, das Gefühl, auf mehrere Arten zugleich verletzt zu werden, als sie auf einmal auf ihn losging und aus dem ängstlichen Lamm eine wildgewordene und entfesselte Löwin wurde. Sie rang ihn recht leicht nieder, hockte auf ihn, drückte seine Schultern mit schmerzhaft in seine Haut vergrabenen Nägeln hinab und nun war es an ihr, zu provozieren. Dieser verdammte Idiot sollte sich wehren!

Nervös fuhr sich Felis durchs Haar, als sie durch das diesig-morgendliche Falkensee ging, einen Blick zur Seite warf gen Vitamaschrein. Es hatte sich unwahrscheinlich gut angefühlt, sich zu wehren. Es hatte sich fast angefühlt, als wären Ketten gelöst wurden. Gesprengt sogar, denn mit solcher Wucht war die Situation umgeschlagen. Statt die Verletzte, war sie zur Verletzenden geworden. Am Ende hatte er das bekommen, was er wohl haben wollte und sie hatte es zugleich genossen.
Aber wollte sie so etwas überhaupt? War das richtig? Und was wäre, wenn sie so wieder reagieren würde, vielleicht in einem wirklich unpassenden Moment, wo es nicht mal absichtlich provoziert worden war?
Was, bei den Vieren, war richtig - sich nicht zu wehren oder zurück zu schlagen?


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 Betreff des Beitrags: Re: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 28.10.10, 17:12 
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Ein lichter Wald, wie so viele auf dieser Insel. Etliche Baumstümpfe um sie herum, einige kleinere Bäume, die mühsam wuchsen, die wenigen älteren Exemplare, deren Äste zwar weit reichten, aber nun, im Morsan, keinen Schatten mehr spenden konnten. Ab und an knackte ein Zweig unter ihren Füßen. Es war eben nicht ihr Terrain. Seines dagegen schon.
Johan ging schleichend vor ihr, wodurch Felis immer wieder dieser penetrante Hundegeruch in die Nase stieg. Seltsamer Kerl. Aber Felis mochte ihn irgendwie, trotz des feuchten Grußes kürzlich, als er ihr gleich einem Hund über eine Wange geleckt hatte. Ekelhaft, aye. Dennoch war sie ihm nun gefolgt, als er sich auf den Weg zur Jagd gemacht hatte. Noch kannte sie, die erst knapp über einen Mond auf dieser ihr teilweise unbekannten Insel weilte, kaum jemanden. Etwas Abwechslung von der Arbeit, die sie im Seiltänzer hatte, der bald unter ihrer neuen Leitung öffnen sollte, tat ihr gewiss gut.
Viel regte sich, abgesehen von ihnen beiden, nicht im Wald. Ein paar Raben hockten hier und da auf den kargen Ästen und ausgerechnet einen dieser Vögel wollte er schießen. Felis mutmaßte schon, dass es ein Hexentier sein könnte und doch war Johan kaum davon abzubringen. Einen Pfeil zog er aus seinem Köcher, legte ihn an, spannte ... bis ein deutliches Krachen ertönte. Holzsplitter flogen durch die Luft, streiften teils auch Felis, doch es war Johan, der jaulend und blutend einknickte, sich eine Hand vor ein Auge haltend.

Ganz ruhig, ich helfe dir.
Ganz ruhig, ich bin bei dir.

Geradezu mechanisch waren ihre Bewegungen, als sie versuchte ihm zu helfen, doch er musste unbedingt ins Hospital nach Falkensee.

Alavia half ihm dort, derweil Felis nur hilflos daneben stehen konnte. Später lag er im Schlafsaal des Hospitales, sie hockte neben seinem Bett und deckte ihn sorgsam zu, während leise Worte ihre Lippen mitleidvoll verließen.
Mein armer Hund.


***

Einen längeren Moment stand Felis vor dem Nachrichtenbrett am Marktplatz von Falkensee. Die langen Haare von einst kurz und nunmehr selber Narben im Gesicht tragend. Beinahe drei Götterläufe waren schon vergangen. Und doch fiel ihr diese Begebenheit von einst ein. Sogar manche Worte, die sie gesprochen hatte.
An mehr noch begann sie sich zu erinnern, derweil sie mit ernster, geradezu versteinerter Miene den Anschlag des Ersonter Rates betrachtete, ihre Arme vor sich wie abweisend verschränkt. So viele Momente, sogar schöne und doch wurde immer wieder alles überschattet von seinen Worten und seinem Verhalten. Ganz gleich, was sie früher empfunden hatte, ob nun Zuneigung, Freundschaft oder später sogar Liebe, es war alles nichtig geworden. Einzig Abscheu, Wut und deutliche Abneigung, teils sogar Ekel, erfassten sie. Zu einer Närrin hatte sie sich wegen diesem Kerl gemacht. Ein Teil in ihr, den sie lieber sorgfältig und teils auch beschämt verbarg, hatte sogar förmlich darauf gewartet, in Kürze einen Anschlag vorzufinden, der seine Verurteilung und Hinrichtung angekündigen würde.
Stattdessen las sie von seinem Freitod.
Wie passend, dachte sie grimmig. Er war und blieb ein verdammter, verlogener Ketzer und würde es nach seinem Tod bleiben.
Aber da war mehr als nur das. Enttäuschung vielleicht auch. Sie hatte gehofft, mit seinem Tod vor ihren Augen würde sie so etwas wie Erlösung von einer Schuld spüren, auch wenn sie andererseits sich vor einer Hinrichtung wiederum ängstigte. Sie hatte sich Sorgen darum gemacht, was es in ihr noch oder sogar eher auslösen könnte. Vielleicht würde er sie nochmal belügen? Wieder versuchen, sie mit süßen oder weniger süßen Worten auf seine Seite zu locken? Doch nun, wo er fort war, wo andere fort waren, die dem Einen folgten und ihr nahe gestanden hatten, fühlte sie sich stärker denn je, was diese Verlockungen anging.

Felis' Blick löste sich vom Brett, wanderte in Richtung des nahen Astraelsschreines und ihre Miene glättete sich allmählich wieder, ehe sie sich diesem Bauwerk zuwandte.
Es schien ihr, als wenn ihr Astrael allmählich näher war, als die gnädige Mutter Vitama. Nicht, dass sie Vitamas Gnade abwies. Mit großer Wahrscheinlichkeit bedarf sie ihrer ebenso, wenn irgendwann der Tag kommen würde, dass auch ihre Schuld bemessen werden würde.
Als Felis den Schrein leise betrat, sich vor dem Buch des Wissens verneigte und still auf eine der Bänke Platz nahm, fühlte sie augenblicklich, wie die Ruhe ausstrahlende kühle Sachlichkeit des Schreines ihr Inneres ergriff und die Gefühle zu dämpfen schien. Ihre Augen schlossen sich langsam, tief atmete sie ein und glaubte, innerlich etwas leichter zu werden, auch wenn das Gefühl, beobachtet und beurteilt zu werden, hier ebenso unweigerlich auftrat. Doch es war eher so, als wenn der strenge, doch gerechte Vater auf sie hinabblickte. Ein Vater eben, dem viel daran lag, dass die Tochter keinen Unsinn anstellte.
Die Unruhe in ihr war gewichen. Vorsichtig lenkte sie ihre Gedanken zurück zu Johan. Statt einem feurig-chaotischen Ansturm von teils sich widersprechenden Gefühlen, herrschte nun tatsächlich Ruhe in ihr.
Er war tot.
Es war vorüber.
Und es war gut so.


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 Betreff des Beitrags: Re: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 10.11.10, 00:18 
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Es ist dieses dunkle, alte und staubige Herrenhaus, was ich wieder betrete.
Schwarz-weiße, doch auch mit Staub teils bedeckte Fliesen auf dem Boden, auf denen meine Schritte widerhallen.
Ein großer Raum, an dessen unendlich hohen und grauen Wände Bilder hängen.
Ich weiß von den anderen Träumen, dass ich da zu sehen sein kann. Oder meine Mutter.
Ich schaue mich um. Einmal sah ich ihn hier unten, doch da trug er ein anderes, bekanntes, einstmals geliebtes Gesicht.
Mein Blick geht über die geschwungene Holztreppe, die mit staubigen, grauen Spinnenweben behangen ist. Oben am Absatz glaube ich, wie immer, eine hochgewachsene Gestalt zu erkennen.
Ich bin auf der Treppe, laufe und laufe, während ich spüre, dass die Treppe unter mir zusammenfällt und ins Bodenlose stürzt.
Ich versuche mich am Absatz der Treppe oben zu klammern. Sehe seine Soldatenstiefel. Ich glaube, er sieht hinab zu mir.
Vater, hilf mir!
Doch dann stürze ich.


***

Klangvoll ausatmend ließ sich Felis auf das ungewohnt schmale Bett fallen, während durch das Fenster darüber kühle Abendluft in die kleine Kammer, die sie mit ihrem Hund und ihrer Katze teilte, strömte. Flackernde Schatten huschten scheinbar über die Wand, hervorgerufen von der kleinen Kerze und bis auf das nicht allzu ferne Rauschen des Meeres und der Wälder, war nichts mehr zu hören. Vollkommene Stille, der sie nun lauschte, irgendwie fasziniert davon, wie ruhig doch selbst eine Stadt werden kann. Sie drehte den Kopf herum, pustete die Kerze aus, die erlosch und richtete den Blick hinaus, rauf zum Himmel, wo sie einige Sterne ausmachen konnte. Ein Lächeln huschte über ihre Züge und sie musste daran denken, was sie und Tintin sich über den Sternenhimmel erzählt hatten. Augen? Nein, das da oben blieb für sie die Schatzkammer Rendars. Schön war es auf jeden Fall gewesen und auch wenn er ihr ungewohnt nahe kam, so blieb der letzte Rest Distanz bestehen.

Felis war froh darüber. Auch wenn er nett war, sie würde ihn abweisen. Sie hatte sich etwas vorgenommen und daran würde sie sich halten. Warten. Geduldig sein. Einmal die Füße und vor allem die Klappe ruhig halten. Es würde wohl schwer werden. Aber wenigstens würde sie nicht wieder einen Fehler nach dem anderen begehen. Selbst ihren Schwur hatte sie gehalten, auch wenn sie drauf und dran gewesen wäre, alles rauszulassen, um vielleicht ihr Ziel zu erreichen. Aber das wäre nicht richtig gewesen. Hatte sie nicht auf Vitama geschworen? Dann durfte sie ihn nicht brechen.
Unweigerlich musste sie bei diesen Gedanken zurück an das Gespräch mit Leutnant Tuljow denken. So unerwartet war das, was er ihr gesagt hatte. Sie hatte eher damit gerechnet, er würde sie zusammenfalten wegen irgendwas oder ihr auf den Zahn fühlen - was täte sie denn nun in Brandenstein? Was hätte sie vor? Wie lange will sie bleiben? Streng am besten noch dreinschauend. Stattdessen erlebte sie ihn gänzlich anders.

Sorania. Sie kannte sie nicht so gut, aber sie fand sie irgendwo immer sympathisch. Ja, sie waren sich wohl auch in gewissen Punkten ähnlich, bei dem wenigen, was sie über sie wusste. Doch sie war tot. Noch bevor sie sie besser hätte kennenlernen können.
Leutnant Tuljow tat ihr leid. Sie wäre am liebsten um den Tisch gegangen, hätte eine Hand auf seine gelegt und ihm Mut zugesprochen. Oder ihm gesagt, dass er schon das Richtige tut. Aber sie traute sich einfach nicht. Er war nunmal ein Leutnant. Ein hoher Soldat in einer nett anzusehenden und durchaus auch respekteinflößenden Uniform. Ein älterer Mann. Kein gleichaltriger Schlawiner, der vom Schicksal gebeutelt wurde. Wie konnte man so jemandem helfen, der seine Pflicht darin sah, anderen, der ganzen Welt am besten, zu helfen? Wie konnte man ihm klarmachen, dass es nobel ist, alles in seiner Macht stehende zu tun, man aber einsehen muss, dass man nicht alles schaffen kann?

Ob mein Vater sich auch so fühlte?
Für einen Moment schoss ihr dieser Gedanke durch den Kopf, doch eilig schob sie ihn wieder beiseite. Ihr Vater hatte ihre Mutter belogen. Er ist ...
Schlecht? Nein. Wenn ich schon selber sage, jede Handlung hat irgendwo ihren Grund und zu jeder Wahrheit gibt es noch zig weitere Wahrheiten, dann muss ich mir auch eingestehen, dass er ebenso seine Gründe hatte und dass er nicht ganz so schlecht war, wie Ila ihn darstellte. Sie war nur verletzt. So verletzt, wie ich von Manu war. Und an dem ließ ich lange Zeit auch kein gutes Haar.

Felis pustete leise aus. Sie hatte das Gefühl, sie würde gerade erst erwachsen werden und viele Dinge würden sich jetzt erst ihr erschließen. Und das, wo sie vor gut einer Woche immerhin 27 wurde. Ihr Blick ging wieder zu den Sternen nachdenklich.
Was kann ich tun?
Ob dieser Gedanke der Schatzkammer Rendars galt, dem Leutnant und seine Sorgen oder jemand anderen, war schwer zu sagen. Vielleicht allen zusammen.


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 Betreff des Beitrags: Re: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 30.11.10, 19:02 
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Still stand sie dort und beobachtete bloß. Sie wagte es nicht, sich zu rühren, während der Blick aus ihren braunen Augen auf das Geschehen im Raum vor ihr lag. Keinen Laut wollte sie erzeugen, denn dünn war die Scheibe vor ihr. Sie konnte alles erkennen, doch im Raum nebenan wusste nur eine Person, dass sich hinter dem Spiegel jemand verbarg.
Neugierig ruhte der Blick der fast Siebzehnjährigen auf das Paar, wie sie sich näherten und sich umgarnten. Sie fühlte so etwas wie Neid in sich aufkommen. Wie gerne würde sie wie sie aussehen und ebenso jemanden umgarnen können! Doch kam war der Gedanke gefasst, sah sie schon schuldbewusst herum zu dem Mann, welcher schräg neben ihr stand und dessen Blick aus den dunklen Augen nahezu unablässig auf ihr lag.

*

Leise pustete sie aus und befühlte eine Wange. Sie war wirklich rot geworden. Peinlich. Noch immer ging sie betont still hinter dem Mann her, den die meisten nur ehrfürchtig als "den Magus" bezeichneten, wenn er nicht anwesend war. Resnar Draksteen, Magister oder wie sich das nannte. Sie kam selber nicht umhin, ihn zu fürchten, seitdem er manches Wissen ihr gegenüber über sie offenbarte, von dem sie nicht geahnt hätte, dass er es wissen würde.
"Das ist kein Schleichen, Felis. Das ist Trampeln", erklang seine Stimme zwar scharf, doch ohne sie zu erheben. Das war gar nicht nötig, denn sie zuckte auch so schon zusammen. Und dann dieser Name. Es fiel ihr noch schwer, sich daran zu gewöhnen, auch wenn er ihr gefiel.
"Verz.."
"Lass es. Entweder lernst du es oder du wirst büßen. Aber mit einer Entschuldigung brauchst du gar nicht ankommen."
Manchmal fragte sie sich, ob es nicht klüger wäre, Draconis wieder zu verlassen. Vielleicht zurück nach Venturia? Oder weiter in den Norden? Hauptsache weit weg von diesen Leuten! Aber er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie überall wären. Wirklich überall. Beweise hatte er ihr ebenso geliefert und hatte ihr gar eine gläserne Kugel gezeigt, mittels der er sich einfach auf Zuruf verschiedene Orte Galadons anschauen konnte und was dort passierte. Für einen Moment konnte sie sogar einen Blick in den Thronsaal des Königs werfen!
"Wichtiger ist die Lektion für heute. Du hast gesehen, zu welchem Verrat der Mann fähig war. Warum?"
"Ähm ..."
"Gewöhn dir dir das ab. Also?"
"Ich ... ich weiß nicht."
Er nickte lediglich, ging weiter voran durch die engen, niedrigen, muffigen, unterirdischen Gänge des Schattenkontors, die manches Mal überraschend an irgendeinem Ort Draconis' endeten.
"Wegen seinen Gefühlen ihr gegenüber. Er hätte ihr solche vertraulichen Informationen niemals sagen dürfen und sein Verstand sagt ihm das auch, natürlich. Aber sein Herz, seine Gefühle, haben über den Verstand gesiegt."
Er hielt an, drehte sich langsam zu ihr herum und sah förmlich von oben zu ihr hinab, die Miene war, wie meistens, sachlich anmutend.
"Diese Lektion ist wichtig, Felis. Wir arbeiten hier mit unserem Verstand. Gefühle sind verräterisch. Liebe, Hass, Trauer, egal welche Gefühle. Sie machen uns ... dich ... schwach. Der Mensch verliert seinen Verstand, begeht freiwillig Verrat oder lässt sich zu Handlungen hinreißen, die er niemals getan hätte, hätte er seinen Verstand nicht seinem Herzen untergeordnet."
Einen Moment herrschte Stille, während sie sich bloß ansahen, wobei sie schon allmählich anfing, nervös ihren Blick von ihm abzuwenden.
"Hast du mich verstanden?"
"Ja, Meister Draksteen", antwortete sie eilig.

***


Felis erschauderte, während sie an der Brüstung der kleinen Brücke lehnte, die sich über dem Goldquellfluss vom Garten ihres Hauses zum Park von Brandenstein spannte. Die Kälte war es zum Teil, aber sie hatte an Draksteen gedacht, an seine Worte von einst. Die Erinnerung an diesen Mann verursachte nur allzu leicht ein ungutes Gefühl bei ihr. Anspannung, die sich in extremen Situationen in Verfolgungsangst steigern konnte. Auch wenn sie ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte und sie in all den Götterläufen allmählich zu ahnen begann, dass seine Kugel von einst nichts weiter als eine Illusion war und keine echte Hellsichtmagie darstellte, so blieb noch immer ein Rest Sorge. Würde sie ihm erneut in die Hände fallen, wäre es fragwürdig, was geschehen würde. Sie hatte das letzte Mal, als sie in Draconis war, eh den Verdacht, er würde sich mehr und mehr vom grauen Pfad entfernen.
Aber diese Lektion hatte auch im Kern etwas Wahres. Eine Erkenntnis, die sie recht spät gewonnen hatte. Hätte sie ...

Sie dachte den Gedanken nicht mehr weiter zu Ende. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen und letztendlich konnte sie momentan nicht klagen. Ihre Befürchtungen, was das Leben hier in Brandenstein angehen würde, waren nicht eingetreten. Sogar Erin hatte sie mit einem Nicken gegrüßt und ihr nicht verbal den Kopf abgebissen. Das war schon was wert.
Und dann das Gespräch mit Manu. Felis selber war etwas überrascht gewesen, dass er sie ansprach und ihr sogar selber ihr eigenes Haus als Ort vorschlug, wo sie miteinander reden konnten.

Das Gespräch verlief verhältnismäßig sachlich. Das beruhigte sie irgendwo, andererseits aber machte es sie auch unweigerlich etwas traurig. Er war eine der Gründe gewesen, warum sie in Brandenstein bleiben wollte. Mit der Aufhebung des Banns und aufgrund der kurzen Gespräche in Seeberg und in Falkensee hatte sie sich ermutigt gefühlt. Manch einer verstärkte das Gefühl noch, dass es Hoffnung geben würde und dass sie irgendwann wieder als Mann und Frau zusammen leben und eine Familie sein könnten. Auch hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt, wenn sie ausritt in die Natur und über manches Verhalten von sich selber gegrübelt. Letztendlich war es doch kein wirklicher Hass, was sie gefühlt hatte. Enttäuschung, Verletztung, aber Hass war etwas anderes. Wenn man jemanden wirklich hasst, dann trauert man nicht um ihn, wenn er stirbt oder würde zögern, wenn man die Möglichkeit hätte, zuzuschlagen. Unzweifelhaft waren noch Gefühle für ihn da und mit all der Hoffnung und diesen noch zarten, gut verborgenen Gefühlen, hatte sie sich nach Brandenstein aufgemacht - und erkannt, wie naiv sie doch nur wieder gewesen war.

Da saß er also an ihrem Tisch, von Kopf bis Fuß schwarz gewandet und allein schon durch sein Aussehen distanziert wirkend, als hätte er um sich herum eine Mauer aufgebaut, um ja niemanden mehr an sich ranzulassen. Er reagierte wenig erbaut, als sie erwähnte, Leutnant Tuljow hätte mit ihr über ihn gesprochen. Sie erinnerte ihn daran, dass sie noch immer Mann und Frau wären und fasste sich dann ein Herz - der erste Kuss, sein Gedicht, der graue Maskenball, die Tanzstunden bei Brand, Brands Ball in der alten Burg Finianswacht, sein Antrag, der Narrentag, die Hochzeit ... noch so viel mehr hätte sie gerne aufgezählt, doch vergebens. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu erinnern. Für ihn war all das, wenn, nur noch vage im Gedächtnis vorhanden.
Felis versetzte es einen Stich, dass diese für sie doch eigentlich wertvollen Erinnerungen, ihm nichts mehr bedeuteten, doch die Erkenntnis, dass der Mann, der da an ihrem Tisch saß, nicht mehr der war, dem sie einst ihr Ja-Wort gegeben hatte, reifte stetig heran. Könnte sie mit einem solchen Fremden glücklich sein? Mit einem Fremden, der davon sprach, dass es manchmal besser wäre, wenn man nie geboren worden wäre? Sie hatte selber an diesem Punkt gestanden, vor nicht allzu langer Zeit. Nicht lange, nachdem sie aus dem Kerker Brandensteins zurückgekehrt war, Johan sich von ihr mit abfälligen Worten abgewendet und sie ihn kennengelernt hatte.

***

Es war kalt um sie herum und der Wunsch, sich einfach nur fallen lassen zu dürfen, einschlafen zu können und nie mehr wieder aufwachen zu müssen, wog schwer.
"Du musst es nur sagen, Felis."
Seine Stimme klang einlullend, angenehm, verlockend.
Schwarze Schatten griffen von seiner Robe aus zu ihr, begannen sie mehr und mehr einzuschließen, derweil sie haderte. Es war, als würde sie vor einer Klippe stehen, ein Fuß schob sich schon langsam über den Rand, während sie es nicht wagte, hinab zu blicken. Es war nur die Hoffnung darauf, dass endlich alles ein Ende finden würde.
Aber ...

***


Wieder ein Schaudern. Magier. Ja, ihnen war nie wirklich zu trauen. Teils war es ihr Verstand, der sie vor einem "Ja" abgehalten hatte, was dazu geführt hätte, dass sie nun praktisch tot wäre. Teils auch ihr Herz. Sie musste an Freunde denken und auch an ihren Neffen, welcher versprach, auf diese Insel zurück zu kehren. Und dann war da noch ihr Glaube - im Grunde genommen wäre es ein Freitod gewesen, wodurch sie erst recht ihre Seele verloren hätte.
Auch wenn die Zeit danach nicht immer leicht war, auch wenn die Sehnsucht nach etwas Geborgenheit manchmal schrecklich drängend war - Felis wollte weiterleben und mittlerweile hatte sie diesen dunklen Tiefpunkt auch größtenteils überwunden, zumal er fort zu sein schien - ein Verschwinden, über das sie das erste Mal wirklich froh war. Auch wenn sie nun erkannt hatte, dass sie und Manu vermutlich nie mehr wieder zusammenkommen würden, auch wenn sie manches Mal bezweifelte, je eine eigene Familie haben zu können, so blieb doch noch genügend anderes, für das es sich zu leben und streben lohnte.
Einen Blick warf sie herum in Richtung der Stadt, ein leichtes Lächeln huschte über ihre Züge. Sie hatte neue Ziele gefunden und da waren Verstand und Herz gleichermaßen gefordert.
Langsam öffnete sie eine ihrer Hände, in der ein mehrmals gefaltetes Blatt ruhte, öffnete es und ihre Blick huschte über die Zeilen.

*

Schweig, mein klopfendes Herz, verbirg,
dass ich so oft an ihn denke.
Astrael, ich bitt dich, wirk
auf mein Herz ein und lenke
meine Gedanken von ihm fern,
hin zu dir, von Gefühlen befreit,
und ins Tiefste zu deiner Lehre Kern,
auf dass niemals mehr geschieht ein Leid.

Es ist nicht Trauer, nicht Hass, nur Glück,
was ich fühle bei dem Gedanken an diesen Mann.
Nun erst, zu spät, verstehe ich Stück für Stück
und muss nun erkennen, dass ich kann
nichts ändern an allem was war.
Nicht gekämpft hatte ich, zu schwach war ich,
nicht auf Ruhe besonnen, sah nicht klar.
Doch eines erkenne ich nun - ich liebe dich.

unbekannter Autor

*

Ob Herr di Madjani oder Bruder Ionas es gelesen und etwas geahnt hatten? Egal. Sie hatte das Gedicht still und heimlich wieder aus der Berichtemappe das Boten genommen. Närrisch zu glauben, dass man mit einem anonymen Gedicht im Boten etwas vollbringen könnte, sagte ihr Verstand nur allzu deutlich, zumal sie am Rhythmus deutlicher hätte feilen müssen.
Felis legte ihre Finger an die oberstes Kante, zog schon leicht am Papier, während sie nachdenklich auf die Zeilen sah.
Zerreißen? Nicht zerreißen?
Einen längeren Moment zögerte sie, doch dann faltete sie es wieder zusammen. Nein, auch das war ein Teil ihres Lebens und würde aufbewahrt werden.

Wenig später, ins warme Haus zurückgekehrt, ging sie in die Knie, öffnete ihr vorerst provisorisches Versteck im Boden, indem sie die losen Bodenlatten aufzog und nahm dort ein Kästchen hervor, welches sie aufschloss. Darin verborgen ihre wertvollsten Schätze, einige brisante, wenn auch teilweise schon veraltete Dokumente, aber vor allem auch Erinnerungsstücke. Einen kleinen, roten Samtbeutel nahm sie hervor, öffnete ihn und legte das gefaltete Stück Papier mit dem Gedicht rein. Dann atmete sie tief durch und griff zu dem Stück, was dort in dem Beutel sonst alleine ruhte - ein goldener Ring, ohne viel Zierrat, doch mit einer Schrift graviert: "Durch nichts entzweit bis über das Ende hinaus. - Manu"
Heute war ihr zweiter Hochzeitstag.


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 Betreff des Beitrags: Re: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 7.12.10, 22:11 
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Der alte Astraeli schob sie förmlich in den kleinen Garten, der sich im Atrium der Tempelanlage von Venturia befand. Einige moosige Steinbänke standen hier im Schatten eher kleiner Bäume, dazwischen Büsche mit dunkelgrünen Blattwerk und vielfarbigen Blüten und in einer Ecke konnte Shareen den Rücken des jungen Vitamageweihten erkennen. Sein grünes, wallendes Gewand fiel nur wenig auf in dem grün-bunten Farbenrausch des Tempelgartens, doch dafür seine Haltung. War sie sonst aufrecht und wirkte er stets voller Tatendrang, so stand er nun mit resignierend hinabhängenden Schultern vor einem Beet, dessen Erde aufgewühlt und die Blumen zerrupft waren.
Ihr Werk.
Ein missmutiges Grummeln, dann ließ der Astraeli sie auch schon wieder alleine. Shareen jedoch verschränkte ihre Arme und heftete ihren Blick auf den Hinterkopf des Vitamageweihten. Beide Wangen leuchteten noch rötlich von den Ohrfeigen, doch mit erhobenen Haupt verharrte sie und wartete ab, was er tun würde. "Seine Gnaden" oder "Vater" sollte sie ihn nennen. Gerade beim letzten Titel war sie mehr als aufmüpfig geworden. Gut, "Raffzahn" war wirklich kein passender Name für den Vitami, aber sein Name, Raphael, bot sich irgendwie dazu an.
Es dauerte einen Moment, bis er sich regte. Shareen hatte sogar schon beiseite zu den Ausgängen gesehen, um möglichst leise zu verschwinden, doch in einer Ecke verharrte der Astraeli und schaute streng und wachsam zu ihr. So blieb sie - vorerst, wie sie sich selbst sagte, denn sie glaubte zu ahnen, was nun kommen würde. Nun würde sogar "Raffzahn" seine Geduld mit ihr verlieren. Würde ihm die Hand ausrutschen? Würde sie eine Strafarbeit bekommen? Würde er vielleicht sogar mal laut werden?
Doch dann drehte er sich um, sah zu ihr mit einem Blick, den das Mädchen so noch nie gesehen hatte. Traurig, verletzt und vor allem durchdringend und irgendwie fragend. Er ging unter dem leisen Rascheln seiner Robe in die Knie und fragte mit ruhiger Stimme: "Warum hast du das getan, Shareen?"
Verdattert starrte Shareen ihn an. Es war kein Vorwurf in der Stimme zu hören. Es war tatsächlich eine ehrliche Frage. Er wollte nur wissen, warum sie es getan hatte. Es war vermutlich das erste Mal, dass jemand ihre Tat hinterfragte und verstehen wollte, warum sie etwas tat.


***

Armes, verletztes Kätzchen.
Wie Felis diesen Tjure dafür hasste! Er hatte manchmal Mitleid mit ihr, hatte er gesagt. Sie schnaubte aus und starrte das Stück Pergament samt Tintenfass und Feder an, als könnte sie es mit ihren Blicken durchbohren, derweil sie an dem Tisch saß und noch mit sich haderte. Sie wollte das nicht so auf sich sitzen lassen. Sie wollte nicht arm sein und verletzt. Gut, sie war letzteres, aber war das ein Wunder, wenn so ein arroganter Kerl daherkam und meinte, in alten, an sich verschlossen geglaubten Wunden herumstochern zu müssen?
Egal, welche Begegnung es war - der Höhepunkt war immer eine Kabbelei. Sei es das erste Mal am Markt von Falkensee, als er sie mit seiner überheblichen Art unangenehm reizte. Dann im Kessel, wo ... naja, gut, da hatte sie ihn gereizt mit kecken Worten, bis er sie beinahe in den Marktplatzbrunnen geworfen hätte. Dann der erste Besuch bei Cardos und Nurya und wieder stocherte dieser unmögliche Kerl herum, wagte es gar persönlich zu werden, als er glaubte, sie analysieren zu müssen. Eine starke Hand bräucht sie! War sie etwa ein bissiger Hund? Oder eine ruhige. Sie war doch kein verdammtes Pferd! Am nächsten Tag tauchte der Kerl dann wieder auf und dachte sie erst noch, Cardos würde sie beide nach Brandenstein begleiten, war es nur noch dieser Fatzke. Gut, es war so sicherer, das musste sie gestehen. Doch bei ihr angelangt, nahm er seine Analysen wieder auf. Sei es bezogen auf das opulente Bad, was sich im Keller befand, oder der Becher mit dem erkalteten Nachtschattentee als Einschlafhilfe.
Jedes Wort, jede Reaktion, so schien es ihr, wurde auf eine Goldwaage gelegt und dann folgte sein Urteil: ein armes, verletztes Kätzchen wäre sie und er hätte manchmal Mitleid mit ihr.
Felis hatte ihn rausgeworfen, wenngleich sie es für ihre Verhältnisse halbwegs zivilisiert tat. Doch sie konnte diese Worte nicht auf sich sitzen lassen. Gut, sie war auch selber schuld. Sie hätte von Anfang an stärker abblocken müssen. Jeglicher Versuch, sie zu reizen, hätte sie ignorieren sollen und dabei kein Wort über ihr Leben verlieren und ihn nicht ins Haus lassen. Wenigstens eine Lehre, die sie daraus zog, wenngleich ihr diese Lehre nicht wirklich schmeckte. Sie bedeutete, dass sie sich noch sehr viel mehr die Leute vom Leib halten müsste, um ihre Ruhe vor solchen Urteilen zu haben. Zumindest solange vom Leib halten, bis tatsächlich jemand das tat, was sie sich eigentlich wünschte - kein Mitleid zu haben, sondern versuchen, sie zu verstehen. Ihre Taten und ihr Handeln nicht unbedingt gutheißen, aber es von ihrem Standpunkt aus gesehen nachvollziehen können.
Vermutlich gab es solche Leute auf dieser Insel nicht, dachte sie mürrisch, während sie weiter das Blatt Pergament anstarrte, auf das sie sogar einen Brief an diesen Kerl schreiben wollte, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie kein Mitleid wünsche, sondern lediglich etwas Verständnis.
Lustlos griff Felis zur Schreibfeder, drehte sie zwischen den langen Fingern herum, tauchte dann erst die Spitze in das Tintenfass ein, strich sie ab, setzte die Federspitze an ... und fing lediglich an, einen kleinen, blühenden Garten mit moosigen Steinbänken in einem Atrium zu zeichnen.


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 Betreff des Beitrags: Re: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 21.01.11, 00:10 
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Der Wind fraß sich förmlich in ihre bloßen Hände und ins Gesicht, ließ das freie Haar unbändig flattern, derweil Felis ihre Stute antrieb, um möglichst bald Brandenstein zu erreichen - einfach nur weg von Seeberg, ehe ihr wieder jemand hinterher rief und erwartete, sie würde bleiben. Um weitere Worte zu hören, die sie verletzen würden. Felis hatte genug gehört.
Und nicht nur das trieb sie an.

Sie hatte ungerüstet, bar eines Schildes oder Helms, nur mit ihrer Pike in den Händen, vor einem Dämonen gestanden! Einem gewaltigen Dämon. Unweigerlich wurde es ihr noch kälter, als sie daran zurück dachte. Sie war nicht lebensmüde gewesen, nein, es war dieses Feuer, was in ihr gleich einem vernichtenden Inferno gebrannt und sie angetrieben hatte. Tjure hatte sie förmlich zur Weißglut getrieben. Sie hatte versucht sich halbwegs zu beruhigen und als Wiliam vom Schlachtfeld sprach, lenkte sie ein, sprach selber davon, dass sie nicht glauben würde, dass Tjure ihr das Schwert in den Rücken rammen würde, doch da hörte sie ihn schon wieder reden - er glaubte also ernsthaft, sie könnte ihm ihre Klinge in den Rücken stechen?
Das hatte ihr den Rest gegeben.
Ja, sie war sauer auf seine Kommentare, auf sein Verhalten die letzte Zeit und sie hasste es, wenn er sie wieder verurteilte, um dann vor William das Unschuldslamm zu spielen. Aber das hatte sie nicht erwartet. Nicht dieses Misstrauen, wo sie selbst unter einem Dach gelebt und gemeinsam gespeist hatten. Wo sie geredet hatten. Wo sie ihm etwas anvertraut hatte, was selbst William nicht mal zur Gänze wusste. Wo sie doch eigentlich Teil eines Ordens waren.
Schwester, Bruder - Felis schnaubte leise aus. Nichts weiter als Lippenbekenntnisse?
Und jetzt war auch noch William sauer auf sie, nur weil dieser Kerl sie derartig gereizt hatte und ihr einfach etwas unterstellte. William, ein Freund, wie ein Bruder. Aber nun trieb es sie gerade nur noch fort von ihm, Tjure und dem Orden

Richtig war es auch nicht. Die Insel war noch immer viel zu unsicher. Sie hatte sich vorgenommen gegen die Ausgeburten des Einen zu kämpfen und nun sorgte lediglich ein blonder Fatzke dafür, dass sie von dieser Aufgabe fortgetrieben wurde?

Ruppig zog sie am Zügel der Stute, die aufbegehrend wieherte und schnaubte.
Felis hielt inne und starrte grimmig in Richtung des vor Ruß schwarzen Gerölls etliche Schritt voraus, welches vorerst die Mauer Brandensteins ersetzte und sich deutlich von der grau-weißen Schneelandschaft abhob.
Nein, so leicht würde sie nicht aufgeben. Aber erstmal wollte sie in Brandenstein bleiben. Ein paar notwendige Aufgaben erledigen. Sich beruhigen. Den Ärger vergessen.
Oder, um bei der Wahrheit zu bleiben, einfach Wunden lecken.


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 Betreff des Beitrags: Re: Vergessene Vergangenheit
BeitragVerfasst: 2.02.11, 19:05 
Festlandbewohner
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Vorgeschichte

Leise trat sie, die man Felis nannte, in den Schlafraum der Akademie zu Falkensee ein. Der dicke Teppich dämpfte ihre Schritte unweigerlich und so konnte sie wohl recht ungesehen eines der Betten aufsuchen. Keiner, abgesehen von Solana, würde so wissen, wo sie sich rumgetrieben hatte. Sie bereute den kleinen Ausflug mit Milo nicht, zumal der Grund, weswegen sie die Stadt nicht verlassen sollte, doch eh mehr die Gefahren auf der Insel waren. Milo jedoch wusste den Weg zwischen Falkensee und Brandenstein auf magische Weise zu verkürzen und in der Burg Brandenstein war sie ebenso sicher. Zumal mit ihm an ihrer Seite.

Die Dunkelheit, die sich auf ihr Gedächtnis gelegt hatte, seitdem sie in der Schlacht um Falkensee offenbar schwer verwundet wurde, lichtete sich langsam, aber stetig. Einzelne Bilder kamen Stück für Stück hinauf und glichen einem Puzzle, über dem sie grübelnd, bisweilen verzweifelnd, saß. Doch mit jedem weiteren Gespräch kamen neue Teile hinzu und fügten sich langsam zu einem Ganzen. Hatte sie anfangs noch verzweifelt, weil sie das Gefühl hatte, verloren auf einer Bühne zu stehen, wo jeder sie ansah und etwas erwartete oder gar mehr wusste, als sie, begann sie sich allmählich ein wenig sicherer zu fühlen. Nicht vollkommen sicher, aber sicher genug, um nicht ständig das Gefühl haben zu müssen, sich im nächstbesten Mäuseloch verkriechen zu wollen. Sogar lachen konnte sie heute wieder.

Zum Lachen war ihr zuvor nicht zumute gewesen. Die Schmerzen, die Benommenheit, ab und an ein Schwindelgefühl im Kopf und manchmal auch Schmerzen an ihren Rippen, deuteten auf die Nachwehen der Schlacht hin, an die sie sich ebenso nicht erinnern konnte und kaum, dass sie wieder etwas auf den Beinen war, Solana, eine Streiterin des Löwenordens, ihr ein paar Puzzleteile ihres Lebens gereicht hatte, musste wieder etwas passiert sein. Jedenfalls fand sie sich am Boden wieder, die Wunde am Kopf war wiederum erneut aufgeplatzt und ein Rowin Rode...wald oder so ähnlich beugte sich über sie und kümmerte sich um sie. Auch er konnte ihr etwas über sie erzählen. Danach holte sie die restlichen Sachen, die neben ihrem Fell im Morsansschrein gelegen hatten, dort heraus. Sie schienen ihr wohl zu gehören, hoffte sie, doch der Tag war schon zu weit voran geschritten, sie zu müde, um sie sich genauer anzusehen. Die Nacht verbrachte sie im Vitamaschrein, derweil von draußen Kampfeslärm zu hören war.

Der nächste Tag begann wieder einmal mit leichten Kopfschmerzen und sie musste noch immer bei jeder Bewegung, insbesondere des Kopfes, aufpassen, dass sie nicht zu schnell war. Auf der Straße sprach sie ein Reiter an. Ein Mann mit einem blauen Umhang, der ihrem und dem von Solana, recht ähnlich sah. Das kurze Gespräch war jedoch reichlich verwirrend. Er fragte sie, ob sie denn zum Orden gehören würde. Für einen Moment hatte sie die Sorge, sie hätte am Ende doch fremde Sachen aus dem Morsansschrein mitgenommen und sie wäre gar kein Löwe. Andererseits hatte Solana etwas anderes behauptet.
Eine Heilern des Ordens, Tam... Tame... Tamela? Jedenfalls behandelte diese Felis und sie erhielt die Order, die Stadt Falkensee nicht zu verlassen. Gut, denn auch wenn es sie drängte, mehr über sich herauszufinden und den Spuren nachzugehen, die sie erhalten hatte, so wusste sie nicht einmal, wie weit Orte wie Brandenstein entfernt waren. Es könnte nur einen Katzensprung weit weg sein oder gar eine Reise von mehr als einem Tag.
Sie wusste nichts und das bedrückte sie. Sie wusste nicht, was sie gerne aß oder trank, ob sie mit dieser Waffe, die sie mit sich herum trug, umgehen konnte. Sie wusste nicht, wer ihre Freunde waren und wer ihre Feinde. Sie konnte nur das "wissen", was man ihr erzählte und musste es einfach hinnehmen und glauben, im besten Fall konnte sie versuchen, es zu überprüfen, falls dies möglich war, aber wie soll man das bewerkstelligen, wenn einem die Umgebung heillos fremd war?

Dieser Punkt war es, der ihr an diesem Tag einen Streit bescherte. Sprach noch erst dieser Reiter, der sie verwirrt hatte und auf den Namen William hörte, mit ihr, sagte ihr, sie wäre nicht verheiratet und sie wären Freunde, behauptete ein blonder Löwe namens Tjure, sie wäre wiederum verheiratet und erwähnte einen Malthuster Soldaten namens Emanuel Sanderus. Flüchtig schob sich sogar ein Bild vor ihr Auge. Das Bild war ihr nicht ganz unbekannt, hatte sie sein Gesicht doch diffus wahrgenommen, als Solana ihr gesagt hatte, sie würde in Brandenstein leben.
Was war also nun wahr? Das, was ihr jemand sagte und der sich ihr Freund nannte? Oder jemand, den sie eher als unangenehm empfand?

In der Nähe der Akademie begegnete sie dann diesem Malthuster Soldaten, welcher schon am Tag zuvor zu ihr auf eine Art und Weise geschaut hatte, die sie vermuten ließ, er würde sie kennen. Besorgt irgendwie. Milo nannte er sich, ein Magier und er konnte tatsächlich weitere Erinnerungen zu ihren bestehenden hinzufügen, so dass sich ein kleines, zusammenhängendes Stück ergab - eine Illusion von Emanuel Sanderus erschuf er und unweigerlich entstand ein Kloß in ihrem Hals, ehe eine Träne über ihre Wange rollte. Sie erinnerte sich. Und sie merkte, dass es manchmal besser war zu vergessen, denn etwas war da, was sie beide getrennt hatte. Doch wirkliche Einzelheiten konnte - oder wollte? - sie nicht erfassen. Er war also tot. Gefallen am Wall. William hatte ihr die Nachricht überbracht. William, ein Freund, ein lieber Freund sogar. Vielleicht hatte er Manu verschwiegen, um sie vor den unangenehmen Erinnerungen zu bewahren?

Milo ging noch weiter - er öffnete ihr ein Portal nach Brandenstein. Verbrannt lag es da und mit der Stadt auch das Haus, was sie wohl bewohnt hatte. Hier fiel es ihr schwer, sich zu erinnern. Aber vermutlich kannte sie es unbeschädigt besser. Doch mit dem verbrannten Haus waren auch vermutlich etliche Erinnerungsstücke verloren gegangen. Immerhin - Milo führte sie zu dem Bankier Hilamos, bei dem sie tatsächlich noch einige ihrer Habseligkeiten lagern ließ. Sogar einige Dinge, an denen vermutlich Erinnerungen hafteten befanden sich in ihrer Bankkiste, doch nun drängte es sie vielmehr danach, ein Bad in der Burg zu nehmen und vor allem etwas Sauberes anzuziehen.
Danach und nach einem angenehmen Gespräch, welches ihr wieder ein Lächeln auf die Züge gezaubert hatte, öffnete ihr Milo ein Tor.
Vergessen ist manchmal wirklich ein Segen - statt wie üblich sich Gedanken zu machen, sich zu fragen, was alles passieren könnte, tat sie das, was ihr in dem Moment in den Sinn kam und so hauchte Felis Milo einen Kuss auf eine Wange und entschwand nach dem Abschied flugs durch das Portal, um wieder wohlbehalten in Falkensee anzukommen.

Doch nur manchmal ist das Vergessen ein Segen.
Es gab noch etwas anderes, was ihr nun, wo sie im Bett lag, auf den Schlaf wartete und ihre Gedanken umherwanderten, Sorgen machte.
Sie hatte zwischen ihren Habseligkeiten einige Dinge entdeckt, die ihrem Erinnerungsvermögen ebenso etwas auf die Sprünge halfen. Bei dem Notizbuch war es noch schwer gewesen, denn teils konnte sie ihre eigene Handschrift nicht entziffern - zumindest dann nicht, wenn sie offenbar etwas eilig notiert hatte. Ein altes Holzarmband war da schon hilfreicher und die Erinnerung an ihre Mutter, wenn auch noch diffus, war angenehm gewesen.
Doch warum trug sie versteckte Messer an ihrem Leib? Das tat normalerweise kein anständiger Bürger.
Und dann waren da noch diese Dietriche, die sie in einem Bündel gefunden hatte.

***

"Ich zähle bis 10, Felis. Dann ist es offen."
Fiebernd beuge ich, sitzend an einem alten, teils zerkratzten Holztisch in einem zwielichtigen Raum, mich über das nächste Schloss, die Finger zittern, als ich zu dem ersten Dietrich greife, die wachsamen, strengen Blicke in meinem Rücken wahrnehmend.


***

Diese Erinnerung verursachte ein unangenehmes Kribbeln am Rücken und doch konnte sie noch nicht sagen, warum. Es musste mehr dahinter stecken.
Sie, die sich langsam als Felis zu begreifen schien, fühlte mehr und mehr eine unangenehme Unruhe in ihr aufkeimen. Sie musste rasch von ihren körperlichen Verletzungen genesen, um dann alles herauszufinden - auch die unangenehmen Teile ihrer Vergangenheit.


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