Als die Geräusche hinter ihm verklungen waren, wurde sein Lauf langsamer. Er hatte sich wild durch das Gestrüpp und die Büsche geschlagen. Erst jetzt bemerkte er auch den brennenden Schmerz in seinem Bein erneut. Schnell ging sein Atem und er stützte sich auf die Knie auf während seine Gedanken langsam klarer wurden. Sein Blick ging zurück zum Wald, doch weder hörte er etwas, noch konnte er jemanden entdecken.
"Viki..." ertönte es kaum hörbar, zwischen zwei Atemzügen. Sorgenvoll, beinahe panisch. Er hatte getan was sie gesagt hatte. Als die Spinnen aus den Wäldern heraus brachen rief sie ihm zu, er solle laufen. So nahm er die Beine in die Hand und rannte, doch dabei merkte er nicht, dass sie zurückblieb, sich dem Weg der Spinne entgegenstellte, die ihm hinterher krabbelte... Sein Bein brannte unaufhörlich doch der Blick ging nach wie vor in den dichten Wald. Noch immer kein Geräusch, niemand, der nachfolgen würde.
Nach und nach überstieg die Sorge seine Angst und langsame Schritte führten ihn zurück in den Wald. Schleichend, wie er es sonst gewohnt war. Seinen Atem versuchte er zu kontrollieren, sein Blick ging stetig umher auf der Suche nach der jungen Löwin. Endlich erblickte er den Ort des Geschehens. Die riesige Spinne lag dort, und unter ihr konnte er Viki erkennen, ihr Schwert durch den Spinnenpanzer gebohrt. Ein erleichtertes Lächeln legte sich auf seine Züge und mit etwas schnelleren Schritten näherte er sich den beiden Kontrahenten die nun reglos auf dem Boden lagen. "Viki .. du hast es geschafft!" sprach er voller Erleichterung, doch seine Schritte wurden langsamer als er sich der jungen Frau näherte und sah, dass ihre Augen geschlossen waren.
Calvin zog den schweren Spinnenkörper zur Seite und wälzte ihn neben die Frau ins Gras. Erst jetzt sah er, dass sie ebenso Blutüberströmt war. Für einen Moment erstarrte er beinahe zu Stein. Auch sie war verletzt gewesen als sie ihre Flucht antraten... er hatte sie allein gelassen und sie hatte sich bereitwillig um seinetwillen vor ihn gestellt. Erst nach einigen Atemzügen wurde er sich der Situation wieder bewusst. "Viki .." erklang es nun beinahe verzweifelt, leise. "Viki wach auf .. es ist vorbei, du hast gewonnen..." - Doch die Angesprochene reagierte nicht.
Sie hatte ihm genau gesagt, was er zu tun hatte doch er wusste es nicht mehr. So sehr er auch versuchte sich daran zu erinnern, er wusste es nicht mehr. Was hatte sie gesagt? Abbinden? Säubern ... In seiner Verzweiflung zog er ihren Körper näher an das Ufer des kleinen Flusses der ganz in der Nähe lag. Vorsichtig tauchte er ihren blutüberströmten Arm in das kalte Nass und reinigte ihn so gut er konnte von Blut, Dreck und jener grünen Flüssigkeit die über der Wunde lag. Das Stirnband wurde abgezogen und der Arm damit am Ellebogen abgebunden ehe er panisch am Gürtel der jungen Frau nach jenen Fläschchen und Döschen suchte die sie sonst zum Versorgen der Wunden nutzte. Irgendetwas musste doch dabei sein...
Wahllos griff er eine der Dosen, trug die darin enthaltene Salbe auf ihren Arm auf und zupfte sich Verbandsmaterial von ihrem Gürtel. Der Arm wurde in einen dicken Verband eingepackt und sicherlich viel zu fest geschnürt. Wieder schaute er sie an, hoffnungsvoll, als würde das nun alles besser machen. Doch eine Reaktion blieb aus. Leise sprach er: "Viki sag mir ... was soll ich tun .. ich weiß doch nicht ... Viki ... wach auf und sag mir was ich tun soll ...".
Er tauchte einige Verbände in das kalte Wasser, begann damit ihre Stirn abzutupfen und ihr Gesicht von Blut und Dreck zu reinigen. Dann schließlich, ihre leisen Worte - "Mir ist warm ..." - kaum vernehmbar doch hörte er es nur zu gut. Er stockte in seinem Tun und blickte atemlos zu ihr hin als sie die Augen halb öffnete. "Viki!" brach es voller Freude aus ihm heraus, und vergessen waren erst einmal die Bemühungen. Er ließ den Verband fallen und legte die Arme um den Körper der jungen Frau, sie an sich drückend. "Viki ich dachte ..." - "Uff..." ertönte die Antwort der Löwin als sie sich der ungeplanten Umarmung nicht erwehren konnte. Erst wenige Augenblicke später wurde Calvin bewusst, dass er ihr vielleicht nur noch mehr weh tat. So ließ er sie langsam wieder ins Gras hinab sinken und sah sie wieder an, die Augen deutlich glitzernd, obgleich er es zu verstecken versuchte. "Was soll ich tun, Viki?" sprach er nun ruhiger und sie antwortete leise, erschöpft: "Die Armschoner .. sie müssen ab .." - Calvin nickte und machte sich daran die ledernen Riemen zu lösen...

Als er spät in der Nacht auf den Fellen lag, ging sein Blick durch eines der großen Fenster, vorbei an den Vorhängen hinaus in die Dunkelheit. Er war stets alles andere als mutig gewesen. Tatsächlich war er aus Tiefenwald geflohen eben aus diesem Grund. Als er auf Siebenwind ankam, da wollte er schlicht ein ruhiges Leben, fernab von allen Kriegen die auf dem Festland geschlagen wurden. Schnell musste er erkennen, dass Siebenwind seine ganz eigenen Schlachten hatte. Viki war es, die ihm vieles über die Insel erzählt hatte, ihm einiges beibrachte, die ihn letztlich zum Löwenorden brachte. Mit der Zeit, wurde sie ihm immer wichtiger, wie eine kleine Schwester die, obgleich sie jünger war als er, doch so oft auf ihn Acht gab.
An diesem Tag hatte sie es wieder getan. Mehr als das. Sie hatte völlig bereitwillig in Kauf genommen, an diesem Tag zu sterben. Er war fortgelaufen. Vielleicht hieß Mut gar nicht, sich todesverachtend in Schlachten um Ruhm und Ehre zu stürzen. Vielleicht war Mut das, was er von Viktoria gelernt hatte. Trotz der Angst und der Gefahr .. für das was einem wichtig ist, einzustehen. Trotz der Angst, das was einem viel bedeutet, zu beschützen.
Er wollte nicht mehr weglaufen. Er würde nicht mehr weglaufen...