"Schuld liegt auf allen, und darum werden auch alle gerichtet; je schuldiger die Welt, um so höher steht das Recht. Die größte Schuld des Menschen sind nicht
die Sünden, die er begeht - die Versuchung ist groß und seine Kraft ist klein. Die große Schuld des Menschen ist, dass er jederzeit umkehren kann, und es nicht
tut."
In längeren Abständen tropfte das Blut auf den hölzernen Tisch vor sich. Eine kleine Lache hatte sich dort schon gebildet. Er stützte sich mit
beiden Händen auf dem Tisch ab und sah zu Boden. Das stehen fiel ihm schwer - zittrig hielt er sich auf den Beinen. Ein Auge war beinahe komplett zugeschwollen,
und an der Stirn klaffte eine frische Platzwunde, aus der das Blut träufelte. Sein Blick zeugte von Verzweiflung, Verwirrung, beinahe panischer Angst. Wieso
jetzt? Wieso ausgerechnet jetzt? SIE war zurückgekehrt, nach all den Götterläufen hörte er zum ersten Mal wieder ihre verdammte, pervertierte Stimme in
seinem Schädel erklingen. Es war so gut gelaufen, fast perfekt. Die Ein oder Andere Unzulänglichkeit hier und dort, aber nichts großartiges. Ein paar
Stolperer ließen sich kaum vermeiden. Er fühlte sich bereit - er fühlte sich der Aufgabe gewachsen, die vor ihm lag. Nie war er seinem Ziel näher gewesen, und
nun warf ihn die Stimme eines kleinen Mädchens vollkommen aus der Bahn. Was war geschehen?
Tropf."Bring ihn um, Benedikt. Bring ihn um. Jetzt hast du die Gelegenheit. Bring. Ihn. Um."ertönte es. Das Gesprochene zerriss seine Konzentration und noch bevor er überhaupt realisierte was vor sich gegangen war, spürte er einen harten, dumpfen
Schlag und seine Sicht wurde von einem schwarzen Schleier genommen, der sich langsam, flimmernd vor seinen Augen ausbreitete. Als er scheppernd zu Boden fiel
und ihm das Schwert aus der Hand glitt, konnte er gerade noch seinen Gegner zu Gesicht bekommen, welcher beinahe zeitgleich ebenso unsanft aufschlug wie er.
"Nein. Nein! NEIN!" dachte er sich, als er langsam wieder zU Bewusstsein kam und sich aufrappelte. Er sah, dass sein Übungspartner noch immer regungslos vor
ihm auf dem Boden lag. Wie konnte das passieren? Wie konnte SIE wieder die Kontrolle erlangen? Er hatte sie schon besiegt geglaubt. So lange war Stille, Ruhe
gewesen. Wie ein Berserker hatte er sich wild mit seinem Schild und erhobener Klinge nach vorne gerissen, und zugeschlagen. In einem Übungskampf, vor den
aufmerksamen Blicken seiner Betrachter hatte er versagt, und nicht nur vor diesen. Sein glasiger, fassungsloser Blick stierte unbestimmt nach vorne.
Tropf.
"VERSAGER! VERSAGER! Was ist los mit dir? Wofür bist du eigentlich zu gebrauchen? BRING ES ZUENDE!" schrill bohrten sich die Worte des Mädchens in seinen Kopf.
Benedikt gab sich alle mühe die Fassung zu bewahren; wie viele Zeilen hatte er in seinem Buch niedergeschrieben? Wie oft hatte er darin gelesen, die innere
Ruhe gesucht, und gefunden? Wieso brachten ihm die Gedanken an die Zeit mit seinem früheren Meister, und mit den Menschen die er liebgewonnen hatte nicht mehr
die Ausgeglichenheit die er so schätzen gelernt hatte nach seinem Erlebnis in der Ödnis? Er war unvorsichtig geworden und hatte sich zu sehr ablenken lassen.
Der Löwenorden, die Legion, und nun die heilige Bruderschaft. Es war zuviel geworden. Zuviel um SIE noch länger zurückzuhalten. Oder war es die nähe zum
Herren? Er spürte sie immer deutlicher, je länger er in der heiligen Stadt verweilte. Sollte sie ihm nicht Frieden, Erfüllung bringen? Stattdessen wurde er
mit den Dämonen seiner Vergangenheit konfrontiert. War es eine Prüfung? Erbarmungslos riss ihre Stimme ihn aus seinen Gedanken.
Tropf."Brüderchen. Schau dir an wo ich dich hingebracht habe. Und jetzt enttäuscht du mich so schmerzlich? Willst du mir wirklich erzählen,
du wolltest Tare der Wahrheit näherbringen? Frieden schaffen, mithelfen, eine bessere Welt für alle zu errichten?"Langsam regte sich das Leben im Leib des vor ihm Liegenden. Mit einem langgezogenen Stöhnen richtete sich dieser auf, sah sich benommen um. "Angamon sei
gepriesen! Er lebt!"
Tropf."Dankst du IHM etwa für DEINE Unfähigkeit? Wie erbärmlich du bist. Du musst sie alle vernichten. ALLE SIND GLEICH! Sie BRAUCHEN dich, und du brauchst MICH!"
"Ich brauche dich nicht.""Der Glaube verbindet sich mit der Macht; es ist in seiner Tiefe etwas, das aller Macht wiederstrebt, und es in der Macht
ein Zwang, der keinen Glauben achtet, und doch vermag auf Tare keine der beiden Gewalten zu bestehen ohne die andere. Sie durchdringen einander und suchen
einander zu verschlingen; Priester werden zu Gewaltigen, Könige werden gewaltlos. Im geheimen sind die Mächtigen alle verwundet, und es bedarf nur der
Verfinsterung der Gestirne, des ersten Erklingens der Heilsbotschaft, damit die Wunde sich öffnet. Und auch unter den Priestern sind viele verwundet, von einer
geheimen, untilgbaren Schuld vielleicht, oder sie tragen an einem vielleicht unerklärlichen Letzten Schmerz. Schwert und Glaube haben nichts gemein, und doch
wird der Glaube oftmals zum Schwert, um sich dann, auf errungenem Grund, wieder in den Feind des Schwertes zu verwandeln. Der Glaube sinkt ohne die Macht, die
Macht ohne ihn. Zuletzt, jenseits der Welt, siegt der Glaube, wenn er die Welt ganz durchdrungen und überwunden hat, wenn er an ihr Ende und durch sie hindurch
ganz zu sich selbst gelangt ist."
"Du brauchst mich.""Noch."
"Ich denke ich werde dich ersteinmal in Frieden lassen, nimm dir ruhig Zeit und denk nach, Brüderchen. Ich sehe du bist gerade beschäftigt."Die Stimme in seinem Kopf verstummte. Nach einer Weile, nachdem die Wunden des Gefallenen versorgt waren und dieser wieder langsam zu Kräften kam, nahm man
sich nun dem Sünder an.
Er sah auf. Die Gestalt in Weiß hatte ihn am Kragen gepackt. Benedikt hatte keine Gelegenheit mehr sich zu erklären: Knackend bohrte sich die Faust des Mannes
vor ihm in sein Gesicht, er taumelte benommen zurück und schlug mit der Schulter gegen die steinerne Wand, sackte an dieser hinab; die Wirklichkeit holte ihn
wieder ein.
"Feradai, prügelt ihm ins Gedächtnis, damit er seine Tat nicht vergisst." Als die Gestalt in Weiß den Raum verließ, wollten die beiden noch verbliebenen
Anwesenden sich ebenso zurückziehen. Gnade walten lassen? Benedikt sah auf.
Tropf."Ihr habt den Khetai gehört." erklang es.