Melian stand am Bug der Isilmajon als die Insel in Sicht kam. Sein langes pechschwarzes Haar wurde vom Wind wild hin und her geworfen, so daß es wirkte als umwoge ein schwarzer Sturm sein Haupt. Die aufspritzende, von der stattlichen Bugwelle befeuerte Gischt brannte in seinen Augen, während der schmale, elegante Rumpf die Wellen durchschnitt. Die ersten Möwen hatten ihre Anwesenheit schon bemerkt und umkreisten die Isilmajon in der Hoffnung, daß etwas für sie abfiele. Fela stand hoch am Firmament und ihre Strahlen verliehen dem Wasser stellenweise einen goldenen Teint. Die aufgeblähten Segel knatterten als der Wind neuerlich drehte. Ein kurzer Befehl durchbrach das ohnehin geschäftige Treiben, und die Steuermänner zerrten am Ruder, um das Schiff neu auszurichten. Ohne große Mühen glich der hoch aufgeschossene Elf das beständige Schwanken des Schiffes aus, während um ihn herum die Reling von den Bewaffneten seines Geleitschutzes besetzt wurde. In weniger als einem Zyklus würde man die Treibanker auswerfen, das hatte der Kapitän ihm versichert. In der Tat bewegte sich der Dreimaster mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf die Insel zu, deren Konturen immer deutlicher sichtbar wurden. Unbewußt wanderte seine Hand zu der Tasche in seinem Mantel, welche den zu übergebenden Brief beherbergte. Ohne den Blick von der Küstenlinie zu heben, strichen seine Finger über das Pergament. Dann legte er die Hände wieder ineinander, drehte sich ohne Eile herum und steuerte mit dem sicheren Schritt eines Seerfahrenen auf seine Kajüte zu. Es galt sich auf das Übersetzen vorzubereiten.
Als es an der Türe klopfte, das sichere Zeichen, daß sie ihre Ankerstelle erreicht hatten, warf er einen letzten Blick auf die auf dem Tisch ausgerollte Karte und seufzte leicht. In all den Jahren seit er im Dienste der Familie Teyurhai stand, war ihm keine schwerere Aufgabe auferlegt worden, als diesen Brief zu überbringen. Er konnte nur hoffen, daß Adowen an dieser Nachricht nicht zerbrechen würde.Ein schwaches Kopfschütteln begleitete ihn als wolle er diese düsteren Gedanken abschütteln, während er auf die Türe zutrat.
„Sah'lien Adowen, elend Sa'hor at.“ „Sah'lien Melian, elend Sa'hor at,“ erwiderte Adowen den Gruß samt Verbeugung. Sein Auriel klang tonlos und steif, atypisch hart. Stumm streckte er die Hand aus, die Handfläche nach oben offen. Ihm war klar, das Erscheinen Melians mußte dramatische Gründe haben. Unwichtige Nachrichten hätte man weniger vertrauenwürdigen Händen überlassen. „Hier, dies zu überbringen bin ich gekommen. Eure Mutter höchstselbst sendet mich, euch diese Schrift auszuhändigen“ Mit diesen Worten untermalte Melians weiche, mitfühlende Stimme den Moment, in welchem er die bedeutungsschwangere Pergamentrolle aus seinem Mantel zog und in die ausgestreckte Hand legte. „Deine Mühen seien dir bedankt.“ Jäh brach Adowen das Siegel und entrollte das Pergament.
Zitat:
Eliara Teyurhai an Adowen Teyurhai, Rothenbucht, der 25. Seker im Jahre 20 nach Hilgorad
Sah'lien geliebter Adowen,
schwer fällt es mir diese Zeilen zu Papier zu bringen, denn große Düsternis ist über unser Haus gekommen. Es schnürt mir die Kehle zu, wenn ich an das denke, was ich dir mitteilen muß.
Dein Vater, er liegt danieder mit schweren Wunden. Tinjuwiel sagt, er stehe kurz vor den Toren des lichten Reiches Lothoriens. Sein Licht ist schwach in dieser Welt. Doch bestehe noch Hoffnung auf Umkehr, daß seine Reise fortdauert in dieser Sphäre. Ihre Künste als Weißmagierin seien jedoch erschöpft. Ein Attentäter war es, der an diesem Morgen, Selion diese schreckliche Wunde beibrachte, als er sich zur wöchentlichen Versammlung der Schneiderzunft begab. Das Gift pulsiert noch in seinen Adern, während ich diese Wörter niederschreibe. Der Ausgang ist ungewiß. Es tut mir unendlich leid mein Sohn, dich mit solch schlechten Nachrichten konfrontieren zu müssen. Ich weiß, daß du erst vor kurzem deinen Dienst als Page angetreten hast. Dennoch muß ich dich bitten heimzukehren, um deines Vaters Willen, um der Familie Willen. Wir alle brauchen dich nun.
Verzage nicht, sei fest in deinem Glauben Adowen. Jede Düsternis hat ein Ende und ewig ist nur das Licht, das Sein des Seins.
In Liebe umarmt dich,
deine Mutter Eliara.
Ungläubig starrte er auf das Pergament. Sein Körper krümmte sich unter seiner inneren Pein. Wieder las er die Zeilen, als könne er den Inhalt nur so begreifen, als glaube er die Zeilen hätten ihn betrogen. "Ein Attentat, ein Attentat," begleitete ein Stammeln sein Ringen um das Begreifen, ohne den Halt, den Boden unter den Füßen zu verlieren.