So lange hatte sie sich alles immer wieder ausgemalt, wie es werden würde, auf Siebenwind, wenn sie zu Mama kommen. Immer wieder anders, und doch war es jetzt ganz anders, noch fremder und bunter und aufregender und abenteuerlicher als sie es sich je hatte erdenken können.
Was hatten sie nicht schon alles erlebt. Elfen und Zwerge hatten sie getroffen, waren durch Feuertore gegangen, die einen mit einem Schritt an ganz andere Orte brachten, hatten Landpiraten und Kapitäne kennen gelernt, Oma Lira getroffen und Tante Javeena, und auch Tante Laura, obwohl die gar keine echte Tante war. Aber nicht Tante Lilium, obwohl die doch eine echte Tante war. Sie hatten Nordraben besucht, die gar keine Raben waren, sondern riesengroße Männer mit Bärten und genauso große Frauen, und Thelor hatte sich schlagen müssen, weil er im Gasthaus in die Grube gelaufen war. Und Fohlen hatten sie bekommen, nur für sich. Richtige Reitpferde, keine Karrenpferde wie der Braune bei Omama und Opapa. Und Zaubersolos hatten sie getroffen, die war richtig lieb gewesen, aber auch ein bischen gruselig, so hoch aufgerichtet und stolz und würdevoll. Aber einen Wunsch hatte sie Hagen und ihr versprochen, ganz wie eine Märchenfee. Aber dann hatte sie Angst bekommen, sich bei so einer Frau etwas dummes zu wünschen und ausgelacht zu werden wie ein kleines Kind, und deshalb hatte sie doch noch nichts gewünscht, aber später bestimmt noch, sie wusste schon was. Hagen hatte herumstreunende Schafe und Hühner gefunden und zu Mama nach Hause gebracht, und da war es jetzt schon wieder ein bischen mehr wie zuhause. Und einen Heuboden gab es, wo man sich ins Heu graben und übernachten und Verstecke anlegen und tolle Abenteuer erleben konnte. Und auf dem Hafenfest hatten sich ganz viele Leute gehauen, um zu sehen, wer der Stärkste war, und noch viel mehr Leute hatten zugeguckt, und Mama hatte Krapfen und Laugenstangen und Bonbons für sie gekauft. Und geangelt hatten sie, und Hagen war sogar zweiter Sieger geworden, und sie nur dritter Sieger, aber dafür hatte sie eine tolle Statue von der lieben Vitama bekommen und Hagen nur einen doofen Fischeimer. Und überall warteten Abenteuer und neue, aufregende Entdeckungen.
Thelor war auch ganz anders als sie erwartet hatte. Sicher war es unheimlich, wie Mama ganz oft erst bei ihm fragen ging, bevor sie etwas machte, und sie hatte schreckliche Angst bekommen, als sie sich unter der Decke versteckt hatte und die plötzlich wegflog, obwohl er ganz woanders stand. Aber bei den Nordraben war er richtig nett gewesen, viel netter als ein Dunkel-Finsterzauberer eigentlich sein dürfte. Und auch sonst war er irgendwie gar nicht fies und gemein genug, nur eben... komisch. Vielleicht war es doch anders herum, und Thelor war gar nicht der Böse, sondern selbst verzaubert. Von diesem Feuerzauberer, von dem der Kapitän erzählt hatte, dass er ein Zauberwesen sei, wie ein Dämon, und dessen Zimmer im Haus ganz schwarz und voller Feuer war...
Aber alles in allem war die Zeit auf Siebenwind bisher viel zu aufregend gewesen, um darüber allzu viel Gedanken zu verlieren. Nur Nachts, wenn Mama ihr Gutenachtlied gesungen und sie gemeinsam gebetet hatten, wenn sie dann im dunklen Zimmer im Bett lag, und nur unverständliches Gemurmel von unten zu hören war, oder es sogar ganz still wurde im Haus, dann bekam sie Heimweh. Nach dem Rauch von Opapas Pfeife in der Luft, Bennos beruhigend schweren Körpers im Bett, dem verträumten Blöken der Schafe im Stall und dem Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, das ähnlich und doch so anders klang wie die ewig an- und abschwellende Brandung des Meeres. Dann lag sie da, ihren Plüschhund an sich gedrückt, den sie im Konto am Hafen geschenkt bekommen hatte, und kämpfte mit den Tränen. Bis ein schweres Atmen oder ein Husten aus dem Bett unter ihr sie aus ihren Gedanken riss, und sie an ihr Versprechen erinnerte, dass sie ihrem kleinen Bruder gegeben hatte. Dass er keine Angst haben müsse, weil sie immer bei ihm sein und auf ihn aufpassen würde. Hagentat sich so viel schwerer, wo sie alles spannend und aufregend fand, war ihm das Meiste einfach nur fremd und machte ihm Angst... zumindest auf seine Schwester musste er sich da verlassen können. Und den konnte ihm nur die mutige, unbekümmerte Solos geben, die er kannte. Und mit einem trotzigen Schniefen wurden dann die Tränen ganz tief vergraben, bis Lifna sich des kleinen Mädchens erbarmte und sie auch Schlaf fand... und am nächsten Morgen dann all die Aufregung und Abenteuer jeden Gedanken an Heimweh in weite, scheinbar unerreichbare Ferne rücken ließen.
_________________ freischaffender Schriftsteller & Lebenskünstler Leitender Redakteur des Siebenwind Boten ehemaliger Inhaber von "Vitamas Rosengarten" Feldwebel der Reserve des XIII. Kronregiments Träger der Leistungsspange ersten Grades
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