Mit gepackten Taschen stand sie im Torbogen des Walls und wartete. Es war bestimmt zwei Monde her, dass sie zuletzt ihre Stahlrüstung getragen hatte, die der junge Ordensschmied ihr damals gefertigte. Sie war schwer und beengte ihre Bewegungsfreiheit, aber sie setzte für sie auch ein Zeichen. Am verlassenen Wallgelände zu stehen behagte ihr nicht. Zu viele Erinnerungen, zu viele Verpflichtungen, zu viele Wünsche.
Nach einem Zyklus hörte sie die Pferde und das Scheppern der Rüstungen der herankommenden Gruppen. Die Nortraven versammelten sich mittig, standen im Kreis oder etwas quer, letztendlich waren sie ein bunter, aber nicht zu unterschätzender Haufen. Die Gohordiener, auf ihren Rössern, bildeten eine Reihe und schwiegen. Die Ersonter Armee stand gleichsam in Reih und Glied, doch ihr Leutnant, ein Dwarschim mit beachtlichen Stimmorgan, erteilte einige Befehle und „Für Ersont!“, kam patriotisch aus den Mündern der rot Uniformierten.

Sie waren grundverschieden anzusehen, ihre Formation, ihre Kultur, ihr Glaube. Und doch versammelten sie sich um gemeinsam einen langen Weg zu beschreiten. Und sie würde diese Gruppen begleiten, um sie mit ihrem Glauben an die Viere und ihren erlernten Fähigkeiten im Feldscherhandwerk zu unterstützen. Schließlich, als sie sich mit dem Oberst einige Dinge abgesprochen und Spenden aus dem Lager des Löwenordens brachte, um die wenigen Lücken im Gepäck auszufüllen, marschierten sie los.
Die Fackelträger führten die Gruppe von gut zwanzig Mann durch die Öde, vorbei an Gestein und toten Gebüsch, doch auch an grünen Flächen, die Viktoria an Nithavela und ihre unermüdliche Arbeit denken ließen. Der lange Marsch endete in Rohenhafen, an einem hölzernen Gebäude, das zwischen anderen alten Ruinen lag.Tatsächlich war dies von allen Gebäuden hier dasjenige, was man am einfachsten als Rückzugsort herrichten konnte und doch verlangte es eine lange und harte Arbeit. Die Gohordiener zogen sich in ihre Wacht zurück und die Nortraven verteilten sich um ein Lagerfeuer und bereinigten die Umgebung von den wenigen Kreaturen, die sich hier finden ließen. Derweil konnte Viktoria die Ersonter Garde mit ihrem mitgebrachten Holz versorgen und Leutnant Hammerarm koordinierte die Werkzeugverteilung und das Schließen der Durchbrüche in den Wänden.
Bei einigen Ersonter glaubte Viktoria, sie wollten das große Gebäude vollkommen renovieren, als sie begannen im Westflügel die Wände auszukleiden, statt einfach die Tür mit Brettern zu verschließen, da der Raum dahinter eh nur noch zur Hälfte einen Boden hatte und der Rest nicht trittsicher war. Das war wohl echter Ersonter Fleiß. Am Morgen würde sie aufwachen und eine Villa vorfinden.
Sie unternahmen einige Ausfälle, darunter einen zur einem recht verfallenen Wall, an dem so viele Lichter brannten, dass ein voriger Besuch anderer Gestalten anzunehmen war. Sie fanden Türme und andere Konstrukte, Rückbleibsel, die noch auf die Sammler hinwiesen, sogar eine Höhle, die beinahe aus mehr Knochen als Steinen erbaut zu sein schien. Doch was sie nicht fanden waren die Ödlandkreaturen. Kaum Oger oder Trolle, Goblins oder Skelette. Nicht einmal Spuren fanden sie. Später vernahm sie das Gerücht, die Trolle würden gegen den Skelettfürsten ziehen. Andere fragten sich, ob die Sammler einfach diese Unwesen mitgenommen hätten. Denn wäre die Öde nun frei von diesen Ungetümen... wie einfach wäre es sie zurückzuerobern?

Während die Ersonter im Keller eine Liegeprobe machten und sich darüber berieten, was sie mit dem schnarchenden Zwerg anstellen wollten, saßen die höchsten der Nortraven und der Oberst der Ersonter Garde an einem reichlich gedeckten Tisch. Während Halgar mit den Händen aß und sich direkt vom Tablett bediente, konnte Viktoria beobachten, wie Lucius Aldorn von einem goldenen, gravierten Teller aß und alles fein säuberlich mit Messer und Gabel verspeiste.
Sie war doch recht überrascht und aufgeregt, dass der Oberst sie an den Tisch der Führungselite einlud, vielleicht ein Grund mehr, warum sie ablehnte.
Viktoria trat nach Westen heraus in die Öde und suchte sich den nächsten grünen Streifen, wo sie einige Gebete sprach und die Pflanzen bewunderte, die sich ihren Weg hier her erkämpft hatten. Maluk war ihr gefolgt, doch nur widerwillig. Zwar bemerkte er, dass Viktoria einige male in Gefahr lief während ihres Gebets und der Vorbereitung der Schwarzen Samen angegriffen zu werden, aber der junge Mann ging rasch wieder, da er sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen wollte am Führungstisch zu sitzen.
Schließlich war es der Oberst, der ihr beiwohnte, als sie den Pflanzensamen in die Erde legte und sie beobachten konnten, wie er aufbrach und das frische Leben sich dem Himmel entgegen streckte und unter dem Segen der Viere gedieh.
Die Nacht trat ein und mit der Nacht die markerschütternden Hilferufe...